9

»Wie geht’s Ihnen heute?«

»Gut, danke. Morgen kommen die letzten Ergebnisse, dann weiß ich mehr.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Monsieur Haslinger. Er saß auf einem Stuhl neben dem Bett von Madame Janssen. Das Fenster stand offen, und das Rauschen der Autos auf der Rue Vanderkindere war zu hören. Auf dem Tisch standen mehrere Vasen mit Lilien, weißen Rosen, Sonnenblumen, Gerbera und eine Orchidee. Nicht alle Blumen waren von ihm, und er hätte gern gewusst, wer ihr noch welche geschenkt hatte.

»Gestern Abend musste ich noch lange an Madame Amsberg denken«, sagte sie.

»Tatsächlich?«

»Ja. Ich hoffe, Sie waren ihr nicht böse?«

»Ach nein, ich kenne sie seit Jahren und mag ihre verschrobene Art.«

»Sie ist sehr direkt.«

»Das kann man wohl sagen.«

Madame Janssen lag im Bett. Sie richtete sich auf, trank einen Schluck Tee. »Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«

»Warum nicht? Fragen Sie nur.«

»Hatten Sie jemals den Wunsch nach einer eigenen Familie?«

Monsieur Haslinger sah sie an. Ihr Blick war aufmerksam, und unter ihren Augen lag ein winziger Schatten.

Als er nicht antwortete, sagte sie: »Ist Ihnen die Frage unangenehm?«

»Nein. Nein.« Monsieur Haslinger blickte zu Boden. Er überlegte, die Geschichte von seiner Schulliebe Mathilde preiszugeben. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Er fand es richtiger, die kleine Erinnerung für sich zu behalten, also sagte er nur: »Natürlich hatte ich den Wunsch.«

»Und?«

»Na ja, früher war der Wunsch stark. Doch die Vorstellung von einer eigenen Familie war wie der Blick durch eine dicke Glastür, durch die ich nicht gehen konnte. Eine innere Überzeugung hielt mich zurück. Das war schmerzhaft, zumindest an manchen Tagen. Mit den Jahren wurde der Wunsch aber schwächer, vor allem weil ich merkte, wie gern ich Pfarrer war.«

»Und der Sex?«, fragte Madame Janssen, als ob es eine gewöhnliche Frage wäre.

»Wie meinen Sie das?«

»Bitte entschuldigen Sie meine Neugier. Aber Sie sind ein attraktiver Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie niemals die Möglichkeit dazu hatten.«

»Sie wollen wissen, ob ich schon einmal Geschlechtsverkehr hatte?«

»Ja.«

Monsieur Haslinger inspizierte seine Finger. Er fühlte sich von der Frage überrumpelt und kam sich plötzlich klein vor. »Nein, hatte ich nicht.«

»Aber Sie hätten es gerne gehabt?«

Jetzt amüsierte sich Madame Janssen über ihre Frage. Das erkannte er an ihren Lippen, die sich schelmisch verzogen.

Monsieur Haslinger blieb sachlich. »Ähm … natürlich. An manchen Tagen war die Sehnsucht nach den zärtlichen Händen einer Frau unerträglich groß, und ich musste hart gegen meine Neigung kämpfen.«

»Niemals schwach geworden?«

»Nein.«

»Wirklich?«, fragte sie neckisch, weil sie es offenbar nicht glauben konnte.

»Ja, wirklich.«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Geholfen hatte mir der Gedanke, dass ein erotisches Vergnügen nicht Glück bedeutet. Denn ein Vergnügen ist flüchtig, es wechselt sich ab, vergleichbar mit einer kurzen Freude. Glück hingegen ist ein Zusammenspiel von Liebe, Seelenstärke und innerem Frieden. Das war es, was ich suchte.«

Monsieur Haslinger war verwundert über seine eigene Offenheit. In seinem Leben war es nicht oft vorgekommen, dass ihn jemand nach seinen intimen Gedanken fragte. Normalerweise öffneten sich die Menschen ihm gegenüber. Nun war es umgekehrt. Madame Janssen hatte offensichtlich etwas, was ihn zum Reden brachte. Das gefiel ihm.

»Und Ihre Kollegen?«

»Sie meinen, ob alle Priester das Zölibat leben, wie es vorgesehen ist?

»Ja.«

»Nein, das tun sie nicht. Vermutlich sind es nur zehn Prozent. Viele führen eine heimliche Beziehung. Das ist unschön. Es ist seelisch enorm anstrengend, seine Liebe verbergen zu müssen.«

»In Afrika würde man Priester komisch ansehen, wenn sie keine Familien hätten.«

»Ich weiß, und je älter ich werde, desto mehr zweifle ich auch, ob das Zölibat nicht mehr Schaden anrichtet, als es nützt. Schließlich kenne ich viele gute Kollegen, die heimlich eine Frau oder einen Mann lieben und darunter leiden.«

»Sie sollten mit ihnen nach Rom pilgern und den Herrschaften die Realität vor Augen führen.«

Er lachte. »Ich muss gestehen, auf diese Idee bin ich noch nie gekommen.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Und wenn Sie denken, ich wäre der richtige Mann dafür, dann muss ich Sie enttäuschen. Ich bin kein Revolutionär. Mir liegt das Kleine, das Konkrete, der Konsens, nicht das Große oder der Konflikt. Ich bin nicht besonders stark.«

Das Gespräch machte Pause, und ihm fiel auf, dass Madame Janssen dichter an ihn herangerutscht war. Er wusste nicht, ob sie es mit Absicht getan hatte, um ihn besser zu hören, aber er genoss ihre Nähe.

»Danke für Ihre Offenheit«, sagte sie plötzlich.

»Danke, dass Sie mir zuhören.«

»Wir sollten uns das Du anbieten.«

»Das sollten wir.«

»Elise.«

»Josef.«