12

Als Monsieur Haslinger am nächsten Tag vor ihrem Zimmer stand, wischte er sich mit der Hand über den Nacken, um die frisch geschnittenen Haare aus dem Hemdkragen zu entfernen. Dann klopfte er und wartete auf eine Reaktion.

Niemand antwortete.

Ein zweites Mal wollte er nicht klopfen, da er annahm, sie würde noch schlafen, also öffnete er geräuschlos die Tür und trat ein.

Zu seiner Verwunderung schlief sie nicht. Sie lag nicht einmal im Bett. Was ihn noch mehr verwunderte. Sie saß angekleidet auf dem Stuhl und schlüpfte in ihre Straßenschuhe. »Ich bin gleich so weit«, sagte sie, als hätte sie sein Kommen erahnt und als wollte sie mit ihm irgendwohin gehen.

Er blieb an der Tür stehen und wartete, ohne zu wissen, worauf er wartete. Dabei musterte er ihr Gesicht, das ihm vertraut und lieb geworden war, während er an ihrem Bett gesessen hatte. Sie wirkte gut erholt. Ihre Wangen hatten wieder Farbe bekommen, und es hatte den Anschein, als wäre ihr Strahlen zurückgekehrt.

Sie stand auf und blieb einen Moment stehen, um ihn zu betrachten. »Du warst beim Friseur?«

Monsieur Haslinger hatte gehofft, sie würde es nicht bemerken. Jetzt fühlte er sich ertappt und zupfte an seinem Hemdkragen.

»Hast du dich für mich schön gemacht?« Sie nahm ihn auf den Arm. Er schien ihr wieder besser zu gehen.

Er wusste, dass sie ihn aufzog, und lächelte mit ihr. »Lügen darf ich wohl nicht?«

»Ich schon. Du nicht.«

»Na gut, du hast mich erwischt. Ich war beim Friseur und hoffe, es gefällt dir.«

»Es steht dir gut.«

»Findest du? Sind sie nicht zu kurz?«

»Mir gefällt’s«, sagte sie, ohne dass er einen Zweifel heraushören konnte.

Sie wandte sich um, nahm ihren Pulli von der Stuhllehne, kam auf ihn zu und gab ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. »Gehen wir ein paar Schritte?«, fragte sie.

»Fühlst du dich kräftig genug?«

»Es geht mir gut. Ich muss nur endlich wieder an die frische Luft und einen Baum sehen und die Vögel hören.«

»Darfst du das Krankenhaus verlassen?«

»Wer soll es mir verbieten?«

Monsieur Haslinger wusste keine Antwort. Er fand auch keinen Grund für einen Einwand. Draußen war es warm und trocken. Die Luft war besser als im Gebäude, also widersprach er nicht und ging hinter ihr aus dem Zimmer.

Sie verließen das Krankenhaus und spazierten die Rue Edith Cavell entlang in Richtung Süden, querten die Avenue Winston Churchill und gingen weiter dorthin, wo die schönen Häuser mit Vorgärten und hochgewachsenen Bäumen standen. Dabei sprachen sie nicht viel. Nur hier und da, wenn sie ein außergewöhnlich schönes Haus sahen, besondere Blumen oder einen einzigartigen Baum. Dann blieben sie einen Augenblick stehen, betrachteten es gemeinsam, sprachen darüber, ehe sie wieder weitergingen.

Nach einer halben Stunde machten sie Pause. Eine Linde stand leicht zurückgesetzt von der Straße auf einem Stück Rasen. In ihrem Schatten befand sich eine Parkbank. Monsieur Haslinger zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte die Holzlatten sauber. Dann nahmen sie Platz, lehnten sich zurück und ruhten sich aus.

»Ich vermisse die Natur«, sagte Madame Janssen schließlich. Sie sah aus, als dächte sie an etwas, was sie traurig stimmte.

Ihr Anblick berührte ihn. Gern hätte er sie umarmt, ihr die Last von den Schultern genommen. Doch noch ehe er dem Gedanken folgen konnte, sprach sie weiter. »Morgen werde ich entlassen.«

»Oh, das ist ja wunderbar.«

»Holst du mich ab?«

»Wenn du das möchtest?«

»Ich wäre sehr froh darüber.«

»Dann komme ich gern.«

Langsam gingen sie zurück. Kurz vor dem Tennisklub Uccle Churchill hängte sich Madame Janssen an seinem Arm ein. Sie umklammerte ihn auffallend fest und schmiegte ihren Körper an den seinen. Dabei fragte sie nach nichts und erzählte auch nichts, und es schien ihm, als wäre es für sie etwas Selbstverständliches und als teilte sie seine Erregung nicht im Geringsten. Er tat nichts dagegen. Er genoss ihre Nähe und hatte das Gefühl aufzublühen.

Nach ein paar Schritten begegneten sie Menschen. Kindern mit Tennisschlägern, die im Park Montjoie verschwanden. Eine Frau mit Kinderwagen, die an ihnen vorbeispazierte. Ein Mann im Anzug, der Einkäufe nach Hause trug und dabei telefonierte.

Monsieur Haslinger blickte von einem Straßenende zum anderen und versuchte sich vorzustellen, was die Passanten wohl in ihnen sehen würden. Eine Frau, der kalt war? Die seelischen Halt suchte? Oder sahen sie einen Mann und eine Frau, die vertraut miteinander waren? Ein Liebespaar?

»Du wirkst angespannt. Soll ich deinen Arm wieder loslassen?«, fragte sie.

»Nein, bitte nicht«, sagte er, und als der Wunsch ausgesprochen war, wurden seine Schritte leichter, und er wusste, dass dieser Moment ein langes Leben hatte.