Nach einem traumlosen Schlaf öffnete Monsieur Haslinger die Augen und sah Madame Janssen. Sie saß halb aufrecht im Bett, hatte die Schultern gegen die Wand gelehnt und starrte verloren in den Raum. Ihr Atem klang schnell und falsch. Ihr Gesicht war bleich, die Wangen eingefallen, und ihre Nackenhaare klebten feucht am Hals.
Er setzte sich auf. »Du siehst nicht gut aus.«
Ihr Blick fand zurück, und sie lenkte ihre müden Augen zu ihm. »Dafür siehst du umso besser aus.«
Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, von dem er nicht so recht wusste, was es bedeutete. Er empfand es sonderbar hilflos, als würde sie sich mit Humor über etwas Schweres hinweghelfen.
»Nein, Elise, es ist mein Ernst.«
»Ich mache mich gleich frisch.«
»Das ist es nicht. Du siehst krank aus.«
»Ich bin nicht krank.«
»Es sieht aber ganz so aus.«
Madame Janssen kroch unter der Bettdecke hervor und stellte ihre nackten Füße auf den Holzboden, ganz unvermittelt, als wäre alles gesagt.
»Wo gehst du hin?«
»Auf die Toilette.«
»Soll ich dir aufhelfen?«
»Es geht schon. Danke.«
Mit Mühe raffte sie ihren Körper hoch und schlurfte ins Badezimmer.
Monsieur Haslinger blieb liegen und sah ihr nach. Er war erschrocken über den Anblick. Er konnte nicht glauben, wie rasch sich ihr Zustand verschlechtert hatte. Plötzlich sah sie gebrechlich aus. Ihre Bewegungen hatten eine Schwere, eine Trägheit, die er nicht kannte.
Sie verschwand im Bad und schloss die Tür. Durch die Wand konnte er hören, dass sie zu husten begann. Es war ein kräftiger, tief und fest sitzender Husten. Sie musste sogar ausspucken. Als sie herauskam, hielt sie an der Tür inne, um Luft zu holen, dann ging sie zögerlich weiter zum Bett. Kaum lag sie, begann sie erneut zu husten, und Monsieur Haslinger legte seine Hand auf ihre Stirn, fühlte ihre Temperatur und blickte in ihre wässrigen Augen. »Du bist ganz heiß. Du hast Fieber.«
»Vielleicht.«
»Hast du auch Schmerzen?«
»Ja, etwas.«
»Wo?«
»Im Bauch.«
»Kann ich dir etwas Gutes tun? Tee mit Honig vielleicht?«
»Das wäre nett.«
Monsieur Haslinger streichelte ihren Arm und stand auf. Im Gang blieb er nochmals stehen, drehte sich um und fragte: »Soll ich einen Arzt rufen?« Während er es aussprach, versuchte er an ihrer Reaktion abzulesen, welche Wirkung seine Worte hatten. Er hoffte auf Zustimmung, fand aber nur Ablehnung.
»Ich war lange genug im Krankenhaus. Ich brauch keinen Arzt«, sagte sie und sprach aus, was ihre Mimik bereits verraten hatte.
Monsieur Haslinger sah sie einen Moment lang an, atmete hörbar aus und ging die Treppe hinunter. In der Küche kochte er Wasser und bereitete Tee aus Salbei, Ingwer und Thymian zu. Er gab einen Löffel Honig hinein, verrührte alles und ging wieder hinauf ins Schlafzimmer. Das Tablett stellte er auf den Nachttisch, dann ging er zum Fenster und zog den Vorhang beiseite. Die Sonne schien herein, und in den Strahlen konnte er Staub schweben sehen. »Soll ich lüften?«
»Ja, aber nur kurz, bitte.«
Monsieur Haslinger kippte das Fenster. Frischluft zog herein und verdrängt die stickige Luft im Raum.
Er ging ins Badezimmer, holte aus seinem Kulturbeutel Tigerbalsam, setzte sich auf die Bettkante, rieb ihr Dekolleté ein und tupfte mit dem Zeigefinger etwas unter ihre Nasenspitze.
Madame Janssen musste wieder husten.
»Moment«, sagte er, nahm sein Kopfkissen und klemmte es zwischen ihren Rücken und die Wand, damit sie ihren Oberkörper weiter hochlagern konnte. »So geht es vielleicht besser.«
»Ja, danke.«
Sie trank einen Schluck Tee, lehnte sich gegen das Kissen und begann erneut zu husten. Er sah, wie sie dabei die Augen schloss und sich verkrampfte. Als es vorbei war, öffnete sie die Augen, aber er verstand, dass sie sich noch immer auf den Schmerz in ihrer Brust konzentrierte, der etwas hinterlassen hatte und drohte wiederzukommen.
»Reichst du mir das Döschen?« Sie deutete auf die Kommode.
Monsieur Haslinger stand auf, nahm die kleine Silberdose zur Hand und sah sie kurz an. Der Deckel war fein emailliert, und am Rand waren Blümchen und ein Lorbeerfries eingraviert. An manchen Stellen war das Silber angelaufen, die Emaillearbeiten waren aber nahezu unbeschädigt.
»Gefällt sie dir?«, fragte sie.
»Ja.«
»Ein Juwelier aus Brügge hat sie vor über hundert Jahren angefertigt. Meine Großmutter hatte darin ihre Veilchenpastillen aufbewahrt.«
Er gab sie ihr. Madame Janssen öffnete sie, nahm eine Pille raus und schluckte sie.
»Was ist das?«
»Schmerztabletten. Die sind Gold wert.«
Monsieur Haslinger blickte misstrauisch. »Bitte hör auf mich. Das geht so nicht.«
»Was denn?«
»Dass du nicht zum Arzt gehst.«
»Ach, mach dir keine Sorgen.«
»Mach ich mir aber. Und wenn es morgen nicht besser ist, gehst du zum Arzt. Versprichst du mir das?«
Sie antwortete nicht.
»Versprichst du mir das?«
»Ja, versprochen«, sagte sie.
Er sah sie an, und sie sah ihn an und lächelte schwach. Er konnte in ihren Augen lesen, dass sie nicht sicher war, ob sie ihr Versprechen halten würde. Doch er bedrängte sie nicht weiter. Er beließ es dabei, beugte sich hinab, zog ihre Decke zurecht und ließ sie den ganzen Tag nicht mehr aus den Augen.