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Monsieur Haslinger schnitt die verdorrten Blüten vom Rosenbusch und fixierte einige Äste an dem Spalier. Als er fertig war, ging er durch den Garten und suchte nach der nächsten Möglichkeit, sich nützlich zu machen. Er sah den Efeu, der sich mit Tausenden Trieben an die Garagenmauer krallte. Er hätte ihn gern gestutzt, aber auf eine Leiter wollte er nicht klettern, nicht ohne eine stützende Hand.

Ein Holzbesen stand auf der Terrasse. Er nahm ihn und fegte das Laub von den Steinplatten, das der Wind in die Ecken getragen hatte. Dabei merkte er nicht, dass Madame Janssen in den Garten kam. In den letzten beiden Tagen hatte sie das Haus nicht verlassen, nun stand sie an der frischen Luft, schützte mit der Hand ihre Augen vor der grellen Vormittagssonne und sah ihm zu.

»Das ist doch nicht nötig«, sagte sie mit der Empfindsamkeit einer kranken Frau.

Er lehnte den Besen an die Hausmauer und ging zu ihr. Sie sah ein bisschen besser aus. Sie hatte abermals Schmerzmittel genommen und war fieberfrei. Doch das Fieber würde wiederkommen und mit ihm die Schmerzen, das wusste Monsieur Haslinger, das wusste auch sie.

»Was meinst du?«, fragte er.

»Na, die Terrasse kehren.«

»Ach, schon gut.« Monsieur Haslinger schob ihr einen Stuhl zurecht, doch sie blieb stehen.

»Ich muss jetzt gehen.«

»Wohin?«

»Zum Arzt.«

Monsieur Haslinger war überrascht. Damit hatte er nicht mehr gerechnet. Noch gestern hatte er den ganzen Tag auf sie eingeredet, mal zärtlich, mal höflich, mal ernst hatte er sie gebeten, den Doktor aufzusuchen. »Wann ist der Termin?«

»Um elf.«

Er blickte auf die Uhr. »So früh schon.«

»Ja. Ich habe ein Taxi bestellt.«

»Ich komme mit«, sagte er, wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab und war im Begriff, ins Haus zu gehen, um sich umzukleiden und frisch zu machen.

»Warte«, sagte sie und hielt ihn zurück. »Das ist nicht notwendig.« Sie versuchte es so zu sagen, dass er in ihrem Gesicht eine aufrichtige Freude über sein Angebot sah, was ihr nicht restlos gelang.

»Weshalb?«

»Ach, alte kranke Menschen in einem trostlosen Wartezimmer – erspar dir den Anblick. Hier im Garten ist es schöner.«

»Ich möchte aber«, erwiderte er.

Sie sagte nichts. Aber wie sie seine Worte hatte ausklingen lassen, war auch eine Antwort, die er deuten konnte.

Ein Auto hielt vor der Garage. Sie konnten den Motor hören und das Quietschen der Bremsen. Es war das Taxi, das wartend mit zwei Reifen auf dem Gehsteig stand.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie.

Er nickte zustimmend, aber sehr verhalten, sodass sie es übersehen konnte, wenn sie es übersehen wollte. Sie bemerkte es jedoch.

Er begleitete sie zum Wagen und dachte nach: Wollte sie für sich sein? Fühlte sie sich vereinnahmt? Oder wusste sie selbst nicht, ob sie sich vereinnahmt fühlen sollte?

Sie stieg ein. Er sah ihr nicht nach, weil die Nachbarin just in dem Moment die Tür öffnete und ihren kleinen weißen Hund herauslaufen ließ. Sie winkte Monsieur Haslinger, und er winkte zurück, dann war das Taxi weg.

Im Garten war der Schatten auf dem Rasen weitergezogen und etwas kleiner geworden. Die Sonne stand höher am Himmel, und das Gras war trockener als zuvor. Er schob den Rasenmäher aus der Garage und begann zu mähen. Mit ruhigen Schritten ging er Bahnen und Halbkreise, genoss die wohlige Sonnenwärme, leerte das Gras aus dem Fangkorb unter die Hecken und dachte an das Glück dieser neuen Welt, in die er eingetaucht war oder vielmehr eingetaucht wurde.

»Goedemiddag«, hörte er plötzlich jemanden hinter sich grüßen, nicht laut, weil der Motor zu dem Zeitpunkt aus war.

Monsieur Haslinger drehte sich um und sah den Briefträger. Ein großer Mann mittleren Alters mit spärlichem Haar, bekleidet mit einem roten Poloshirt der belgischen Post. »Bonjour, Monsieur.«

»Ist Madame Janssen zu Hause?«

»Nein.«

»Sind Sie ihr Ehemann?«

»Nein. Ein Freund.«

Der Postmann überlegte, was seine Pflicht verlangte, gab ihm trotzdem den Brief, ließ ihn unterschreiben und verabschiedete sich. Monsieur Haslinger besah das Kuvert. Er entdeckte das Signet eines Arztes, den er aus Brüssel kannte und von dem er wusste, dass er Sterbehilfe praktizierte. Ein unangenehmes Gefühl kam in ihm hoch, das er als absurd und bedrohlich empfand und von dem er sich nicht irritieren lassen wollte. Er würde einfach Madame Janssen nach dem Inhalt fragen, dachte er und brachte den Brief ins Haus, während der Himmel weiter blau strahlte und die einzige Schleierwolke aussah, als hätte der liebe Gott auf sein Fensterglas gehaucht.