15

Die Ärztin war erstaunlich jung. Sie kam, als der Herbst seine ersten Vorboten über die Küste schickte und man in der kühlen Luft das nahende Sommerende riechen konnte. In farbfrohen Sportschuhen, Jeans und mit einer Doktortasche aus rissigem Leder wartete sie vor dem Hauseingang. Monsieur Haslinger öffnete die Tür, blinzelte in den Wind, der in launischen Stößen wehte, und bat sie herein.

Sie grüßte knapp, fragte nicht, wo die Patientin war, sondern marschierte direkt in den Salon, wo Madame Janssen vor dem Fenster saß. »Wie geht es Ihnen?«

»Geht so.«

»Haben Sie Schmerzen?«

»Ja, im Rücken.«

»Und die Übelkeit?«

»Gestern war es schlimm. Heute nicht.«

»Ich sehe es mir an.«

Monsieur Haslinger brachte einen Stuhl. Die Ärztin setzte sich, beugte sich zur Tasche und zog ein Stethoskop heraus. Derweil knöpfte Madame Janssen ihre Bluse auf, schlüpfte aus den Ärmeln und übergab sie Monsieur Haslinger. Mit halb nacktem Oberkörper saß sie da, und die Ärztin begann Herz und Lunge abzuhören. Danach maß sie ihre Temperatur, fühlte den Puls, besah ihre Hände und ihre Augen. »Sie können sich wieder anziehen.«

»Und?« Monsieur Haslinger fragte zuerst. Er war angespannt. Während der Untersuchung hatte er sogar Gott um Hilfe gebeten.

»Es ist alles zufriedenstellend«, sagte sie zu Madame Janssen, weniger zu ihm, und für einen winzigen Augenblick hatte er die Hoffnung, sie sei gerettet.

Die Ärztin zog einen Rezeptblock aus dem Seitenfach, schrieb etwas auf, riss den Zettel ab und hielt ihn Madame Janssen hin. »Wenn Sie Schmerzen haben, wird Ihnen das sofort helfen.«

Madame Janssen knöpfte den untersten Knopf der Bluse zu, nahm den Zettel und las. »Ist das Morphium?«

»Eine Art Morphium«, sagte die Ärztin freundlich, sie packte ihre Sachen ein und stand auf. »Nächste Woche komme ich wieder.«

»Danke, Frau Doktor.«

Monsieur Haslinger begleitete sie zur Tür.

»Gehen Sie mit ihr spazieren. Das tut den Knochen gut, und vor allem dem Herzen«, sagte sie, dann ging sie.

Im Salon saß Madame Janssen weiter am Fenster, die Beine eng in eine Decke gewickelt. Immer wieder rückte sie ihre Hüften zurecht, setzte sich anders hin, weil ihr die Veränderung Erleichterung brachte. Monsieur Haslinger beobachtete sie von der Tür aus, dann nahm er das Kissen vom Sofa, ging zu ihr und legte es ihr hinter den Rücken. Der Schmerz schien aber nicht nachzulassen. Sie kam nicht zur Ruhe, und er vermutete, dass die Quelle des Unwohlseins woanders war.

»Ich muss ständig an den Tod denken«, sagte sie plötzlich. »Ich kann gar nicht aufhören.« Sie sprach es aus dem Fenster, mit Blick auf den Ahornbaum, der seine Blätter bald verlieren würde und erahnen ließ, dass die Jahreszeit überraschend weit fortgeschritten war. »Im Krankenhaus hatten sie mich gefragt, ob ich Sterbehilfe beanspruchen möchte.«

Monsieur Haslinger stand still hinter ihr, hörte zu und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Und? Was waren deine Gedanken?«

»Im ersten Moment war ich schockiert. Ich hatte Angst und wollte nur leben. Dann erkannte ich, was auf mich zukommen würde, Schmerzen, Arztbesuche, Abhängigkeiten. Die Vorstellung war grauenhaft, und plötzlich wollte ich, dass es vorbei ist, bevor es unerträglich wird.«

Ein Zittern ging durch seine Beine. Er setzte sich neben sie, blickte mit ihr aus dem Fenster und überlegte, wie unendlich viele Gedanken sie schon an den Tod verschwendet hatte, wie unendlich weit sie gedanklich gegangen sein musste, welche Angst sie hatte durchleben müssen bis zu diesem Moment.

»Wie denkst du heute darüber?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Eigentlich dachte ich, die Schmerzen würden mir die Entscheidung abnehmen. Ich hatte gehofft, sie würden immer stärker und stärker werden, bis sich alles von selbst ergibt. Doch so ist es nicht, denn mit den Schmerzen werden auch die Schmerzmittel stärker. Ich muss die Entscheidung also selbst treffen. Das fällt mir schwer.«

Sie sprach nicht weiter, und er hätte gern etwas Beruhigendes, etwas Kluges in die Stille hinein gesagt. Er hätte ihr gern die Entscheidung abgenommen, ihr erklärt, was der leichte Weg aus dem Leben war. Aber welcher Weg sollte es sein? Er kannte ihn nicht. Nur sie konnte ihn erkennen. Das wusste er, das wusste auch sie. Deshalb sagte er nichts, sondern nahm ihre Hand, streichelte sie und fühlte die Haut, die trocken und spröde geworden war.

»Glaubst du wirklich an Gott?«, fragte sie.

»Ja, natürlich.«

»Und an das Leben danach?«

»Auch, ja. Es ist ein schönes Bild, mit dem der Tod seine Macht verliert.«

»Das konnte ich nie. Ich habe nie an Gott geglaubt.«

»Das macht nichts. Gott ist das egal. Der unterscheidet nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen.«

»Hoffentlich hast du recht.«

»Ganz sicher.«

»Ich werde es eh bald sehen.«

»Aber nicht jetzt.«

»Nein, jetzt noch nicht.«