18

Der Regen hatte sich erschöpft. Es war wieder hell und warm geworden. Die Steintreppen waren bis auf die moosbedeckten Ränder trocken, und die Blätter und Stiele, die durch den schwach strömenden Regen schwer geworden waren, hatten sich aufgerichtet und streckten sich mit einer frischen Leichtigkeit der Sonne entgegen.

Madame Janssen stand nachdenklich auf der Terrasse und blickte in den Garten. Monsieur Haslinger ging zu ihr, legte seine Arme um ihre Schultern und nahm ihren Körper in eine lange zärtliche Umarmung.

»Bringst du mich zum Meer?«, fragte sie.

Er wollte diese wunderbare Frau nicht loslassen, um irgendwohin zu gehen. Er wollte ewig so stehen bleiben und sie halten, weil jede Berührung noch wertvoller und noch kostbarer geworden war. »Ich packe nur ein paar Sachen«, sagte er dennoch, löste zögerlich die Umarmung und lächelte bedauernd, als sie gänzlich getrennt waren.

Er packte einen Rucksack. Danach half er Madame Janssen mit der Jacke, auch mit dem Seidenschal, den er ihr liebevoll um den Hals wickelte. Sie schloss die Augen und genoss seine Fürsorglichkeit, dann gingen sie los, ohne zu ahnen, dass es ihr letzter Strandspaziergang war.

Sie umgingen den Golfplatz am östlichen Rand. Abschnittsweise kamen sie den gepflegten Spielbahnen sehr nahe. Eine Handvoll Spieler waren auf den Fairways zu sehen. Man konnte ihre weiten Abschläge hören, auch das Surren eines elektrischen Golfwagens. Madame Janssen blieb stehen und beobachtete einen Mann beim Abschlag, holte Luft, sammelte Kraft, bis sie wieder weitergehen konnte. Schritt für Schritt, Meter um Meter.

An einer Kreuzung blieb Madame Janssen abermals stehen. Sie hatte Schmerzen, und Monsieur Haslinger sah es, wusste aber, dass er nichts dagegen tun konnte. Traurigkeit berührte ihn, und er versuchte dieses Gefühl gehen zu lassen und durch ein Gefühl der Dankbarkeit zu ersetzen. Das fiel ihm nicht leicht, und er war froh, dass die Schmerzen rasch vorüber waren und Madame Janssen etwas Überraschendes sagte, das ihn wohltuend ablenkte. »Ich würde gern meinen Bruder sehen.«

»Das ist eine gute Idee.«

»Vielleicht auch eine Freundin.«

»Ruf sie doch gleich heute Abend an.«

»Ja, das mache ich vielleicht.«

Sie erreichten die Promenade. Neben einem Geschäft, das Plastikbälle, Muscheln und getrocknete Seesterne verkaufte, blieben sie stehen und blickten auf den Strand. Ein paar Kinder liefen umher, hielten die Hände ins Wasser und spritzten einander lachend in die erhitzten Gesichter. Ein Hundebesitzer ließ seinen Labrador von der Leine, und auf dem Wasser waren Windsurfer zu sehen, die sorglos wirkten.

»Schaffen wir es bis zu den Dünen?«

»Wir versuchen es.«

Sie gingen die Treppen hinunter auf den Strand. Ein Schwarm Möwen flog auf und ließ sich vom Wind davontreiben. Der Sand war tief. Jeder Schritt fiel ihr schwer. Monsieur Haslinger bot ihr an, doch auf die Promenade zu wechseln, doch sie wollte nicht, sie ging stur weiter. Nur als sie einen malerischen Stein sah, blieb sie stehen und drehte ihn mit der Schuhspitze um, da sie wissen wollte, ob er auf der anderen Seite gleich schön war.

Bei der ersten Düne sah er, dass sie nicht mehr konnte. Er suchte eine Kuhle, wo sie vor dem Wind geschützt waren, aber trotzdem die Sonne genießen und das Meer sehen konnten. Darin breitete er die Stranddecke aus. Mit dem Rücken gegen den Sand gelehnt, legten sie sich in eine wohlig warme Umarmung.

Zusammen sahen sie aufs Wasser. Es war nicht glatt, sodass sich die Sonne darin undeutlich zeigte und ihr Spiegelbild von den Wellen in Abertausende Stücke gebrochen wurde.

»Erzählst du mir etwas über das Meer?«

»Vom Meer?

»Ja, bitte.«

»Vom Meer weiß ich nicht viel. Mit den Bergen kenne ich mich besser aus. Ich könnte dir aber etwas vorlesen.«

Er nahm ein Buch aus dem Rucksack, das er im Regal gefunden und für genau diesen Zweck mitgebracht hatte. Er hatte gedacht, der Autor wäre passend, schließlich war Stefan Zweig auch ein Österreicher, der einige Zeit an der belgischen Küste verbracht hatte.

Er begann vorzulesen. Mit seinem Französisch, das nicht so klar und schön war, wie es sein sollte, aber er bemühte sich.

Madame Janssen schien es zu gefallen. Jedenfalls lauschte sie mit geschlossenen Augen und einem Lächeln. Manchmal musste sie ihren Körper umlagern. Er machte eine Pause, und sie streckte die Knie durch und bewegte die Zehen, dann ging es ihr wieder besser, und er las weiter.

Einmal bat sie um einen Schluck Tee aus der Thermoskanne. Ein andermal fragte sie, ob er den Absatz wiederholen könne. Er las ihn nochmals und noch viele Seiten, und irgendwann war sie in einen sanften Schlummer geglitten.

Monsieur Haslinger bemerkte es, las aber weiter, um sie nicht zu wecken. Lediglich ein einziges Mal wagte er eine Unterbrechung und sah sie an: Die Haarsträhnen, die ins Gesicht gefallen waren. Die Fältchen in den Augenwinkeln. Die spröden Lippen, die dünn geworden waren. Sie sah müde aus, aber zufrieden, als wäre die Gelassenheit des Meeres an die Stelle von Schmerz und Kummer in ihre Seele eingezogen.

»Schlaf schön«, flüsterte er. »Schlaf schön.«