Als Monsieur Haslinger in der Nacht aufwachte, meinte er, dass er ihren Atem höre. Ein stetes, etwas schweres Ein- und Aushauchen. Er glaubte auch, das Bett sei warm von ihr und voll von ihrem Duft. Im Halbschlummer wälzte er sich zur Seite, um sie anzusehen und sie zu fragen, ob sie auch wach sei. Doch da war niemand. Madame Janssen war tot. Nur die Erinnerung an sie war lebendig. Und die tat ihm weh.
Vor allem wenn er sich nicht beschäftigte, nicht bewegte, nur dalag und an sie dachte, so wie eben. Dann war seine Trauer nicht auszuhalten. Deshalb stand er auf und ging in die Küche. Er trank einen Schluck Leitungswasser, lehnte sich an die Spüle, spielte unruhig mit dem Glas, trank noch einen Schluck und ging auf den Balkon, weil er hoffte, dass die kalte Brüsseler Winterluft sein glühendes Herz abkühlen konnte.
Doch die Nacht war nicht kalt. Sie war ungewöhnlich warm und hell. Die Bürgerhäuser, ihre Gärten, ihre Fassaden, die Dächer mit den Schornsteinröhren, alles war von den Sternen erleuchtet und klar umrissen. Auch die Terrasse von Madame Janssen.
Hier hatte sie gestanden, dachte er, und die Bilder, Farben, Töne und Gerüche jenes Tages standen ihm schlagartig vor Augen. Genauso wie dieses bittere Nie-wieder: Sie nie wieder sehen. Nie wieder neben ihr schlafen. Nie wieder ihre Hand halten. Nie wieder ihre Lippen küssen. Nie wieder neben ihr aufwachen.
Dabei hatte er noch nicht genug. Es hatte doch erst begonnen, dachte er und rechnete nach. Vor sieben Monaten hatte er sie zum ersten Mal gesehen. Und vor fünf Monaten waren sie nach Knokke gefahren. Damals meinte er, es würde etwas beginnen, nicht enden. Und nun? Nun war sie tot. Seit fünf Tagen. Seit Dienstag.
Sie hatte ihr tiefblaues Kleid angezogen und sich schön gemacht. Bevor sie losfuhren, packte sie zwei Koffer und stellte sie neben die Eingangstür, als würde sie nur verreisen und bald wiederkommen, um all die Gegenstände zurück an ihren Ort zu stellen.
Monsieur Haslinger verstand es nicht.
Um ihm und ihrem Bruder die Arbeit zu ersparen, hatte sie gemeint.
Er verstand es trotzdem nicht.
Gegen Mittag verließen sie das Haus. Es war kein schöner Tag. Der Wind blies kräftig von Westen. Trotzdem wäre Madame Janssen gern zu Fuß gegangen, aber das schaffte sie nicht, es war zu weit.
Sie nahmen ein Taxi und setzten sich auf die Rückbank, eng nebeneinander. Die ganze Fahrt über war Monsieur Haslinger ängstlich. Madame Janssen hingegen wirkte entschlossen. Zumindest hatte er kein Zögern, kein Zaudern in ihrem Blick erkannt. Sie schien überzeugt, mit dem Tod mehr zu gewinnen als zu verlieren. Nicht wie er, der das Gefühl hatte, nur zu verlieren.
Nachdem sie ausgestiegen war, hatte sie sogar noch gescherzt: »Jetzt kannst du mir deine ewige Liebe schwören. Es dauert ja nicht mehr lange. Und verraten kann ich es auch niemandem mehr.«
Er war gerührt von ihrem Humor, musste lachen, obwohl er voll Trauer war, die nicht zu ertragen war.
Der Arzt hatte seine Praxis in der fünften Etage. Der Raum war hell. Das Bett stand neben einem breiten Fenster, mit Blick über Knokke und aufs Meer. Madame Janssen sah nur kurz hinaus und setzte sich sogleich aufs Bett.
Monsieur Haslinger setzte sich zu ihr, hielt ihre magere Hand und küsste sie. Er küsste sie nochmals und nochmals und nochmals, weil er nicht wollte, dass es der letzte Kuss war.
Viel zu rasch fühlte sie sich bereit. Sie legte sich hin, und der Arzt kam. In Hochachtung für das Leben und den Tod stand er vor ihr und erkundigte sich nach ihrem Willen. Sie nickte, und während der Doktor begann, die Flüssigkeit zu injizieren, schenkte sie ihren letzten Blick Monsieur Haslinger.
Er fühlte eine unsagbare Zärtlichkeit. Er weinte, streichelte ihre Wange, streichelte ihr Haar, küsste sie auf die Stirn, sagte ihr, wie sehr er sie liebte, und wäre am liebsten mit ihr gestorben.
Dann ruhte ihre Seele.
Monsieur Haslinger blieb bei ihr, allein, ganz lange. Er berührte sie, küsste sie, betete und weinte, und zwischendurch war er froh, dass sie zufrieden aussah. Irgendwann stand er auf, faltete ihre Hände, schloss ihre Augen und blieb an ihrer Seite, bis zwei Männer sie von ihm wegtrugen.
Daran musste er jetzt denken, immer und immer wieder, bis der Wind durch die Esche rauschte und ihn aus seiner Erinnerung weckte.
Er blickte in den Himmel. Milliarden Sterne formten sich zu einer Galaxie, Milliarden Galaxien zum Universum, und unendlich viele Atome formten alles Leben darin. Atome, die niemals starben, die sich mit dem Tod nur verflüchtigten und mit Gottes Hand wieder Neues formten – etwas Wunderschönes mit Sinn und Wert. Vielleicht ein Blatt, einen Baum, eine Blume, dachte Monsieur Haslinger, und für einen Moment war ihm, als nähme das Leben einen neuen Anlauf. Gerade jetzt, in diesem Moment.