14.
KARLSTAD, 2009
»Wie können Sie ihn einfach freilassen?« Sissela blickte zu Heimer, der soeben das Telefonat mit Primer beendet hatte.
»Solange sie Emelie nicht gefunden haben, gibt es kein Opfer«, sagte er.
»Aber was ist mit dem Blut, das zeigt doch, dass sie Gewalt ausgesetzt war?«
Heimer sah den Frust im Gesicht seiner Frau, und zugleich wusste er, dass die Nachricht weder für sie noch für ihn eine Überraschung war. Gorbatschow und Primer hatten in den letzten Wochen resigniert gewirkt und angedeutet, dass der Staatsanwalt allmählich die Geduld verlor. Billy Nerman stritt weiterhin alles ab, und sein Verteidiger hatte seine Freilassung beantragt, sofern keine neuen Hinweise gegen ihn vorlägen.
»Dem Staatsanwalt zufolge reicht es nicht aus«, sagte er. »Die Verteidigung könnte argumentieren, Emelie hätte freiwillig Sex mit ihm gehabt. Oder er hätte dort nur onaniert.«
»Behauptet er immer noch, dass er nicht weiß, wie das Sperma dorthin gekommen ist?«
»Ja, offenbar.«
»Dieses Arschloch kann sich ja nicht einmal eine Lüge einfallen lassen.«
Es kam nicht oft vor, dass Heimer seine Frau fluchen hörte. Diese Art von Kraftausdruck widersprach ihrem sonst so kontrollierten Auftreten, und sie wirkte fast wie eine andere Person. Es machte sie menschlicher. Heimer merkte, dass er in solchen Momenten, wenn schon nicht Liebe, dann doch zumindest eine gewisse Zärtlichkeit für seine Frau empfand.
»Liebling, ich weiß auch nicht mehr als das, was Primer mir gesagt hat«, meinte er. »Ruf ihn selbst an.« Er reichte ihr das Mobiltelefon, aber Sissela schüttelte den Kopf.
»Später – und dann spreche ich direkt mit dem Staatsanwalt.«
Sie ging in Emelies Zimmer, und er folgte ihr. Sie setzten sich nebeneinander auf das Bett ihrer Tochter. Heimer strich über die weiße Tagesdecke. Der Stoff knisterte leise.
Plötzlich dachte er daran, wie sie vor vielen Jahren mit Emelie hier gesessen hatten. Sie musste damals in der vierten oder fünften Klasse gewesen sein. Ihre Tochter war zur Lucia der Schule gekürt worden. Alle wollten, dass sie beim Umzug ganz vorne ging, die Lichterkrone im blonden Haar. Alle – außer Emelie selbst. Sie hatte panische Angst vor dem langen Gedicht, das sie vor den Schülern und Eltern in der Aula vorlesen sollte.
Am Abend vor der großen Vorstellung versuchte Sissela sie aufzumuntern. »Das wird gut gehen. Du kannst zusammen mit Papa üben«, sagte sie und rauschte zu irgendeiner Besprechung.
Heimer erinnerte sich, wie sie dieses Gedicht gepaukt hatten. Er half ihr, einen Spickzettel zu schreiben, aber es schien keine Rolle zu spielen, wie oft sie übte. Es gab immer ein Wort, das die Position wechselte oder übersprungen wurde.
»Du musst das nicht machen, wenn du nicht willst«, sagte er, wohl wissend, welch eine Herausforderung es für jemanden mit Dyslexie war, vor einem Publikum etwas vortragen zu müssen.
Emelie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn trotzig an. Als hätte sie noch nie so einen komischen Vorschlag gehört. Natürlich wollte sie die Lucia sein. Die anderen hatten sie ja gewählt.
Am Ende schaffte sie es, das Gedicht ohne größere Fehler aufzusagen. Heimer wusste, dass es nicht besser werden würde, und machte das Licht aus. Er gab ihr einen Gutenachtkuss und setzte sich vor den Fernseher.
Nach den Spätnachrichten schaute er nach ihr. Er bemerkte das Licht, das durch die schmale Ritze unter der Tür drang. Sie schien die Deckenlampe angemacht zu haben. Er klopfte vorsichtig, und in der nächsten Sekunde wurde es dunkel hinter der Tür.
»Wie geht es dir, Emelie?«, fragte er.
Sie antwortete nicht, aber er hörte ein leises Schluchzen auf der anderen Seite der Tür. Er öffnete und sah, dass sie sich die Decke über den Kopf gezogen hatte. Heimer setzte sich auf die Bettkante und strich seiner Tochter im Dunkeln über den Rücken. Ihr dünner Körper bebte, so sehr weinte sie.
Er schaltete das Licht wieder ein. Auf dem Boden sah er eine Schere und ein paar blonde Haarsträhnen.
»Was hast du getan?«, fragte er und bereute sofort, dass seine Stimme so hart klang.
Emelie weinte noch heftiger unter der Decke.
»Aber Liebes, das ist doch nicht schlimm«, sagte er sanfter und versuchte die Decke wegzuziehen.
Sie hielt mit all ihrer Kraft dagegen.
»Ich verspreche, dass ich nicht sauer sein werde«, begann er, um sie zum Reden zu bringen.
»Schwörst du es?«, schniefte sie.
»Ja, ich schwöre.«
Er ließ die Decke los, damit sie sich nicht unter Druck gesetzt fühlte. Langsam zog sie sie weg und zeigte ihm ihr Gesicht. Es war nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Heimer war gerade noch rechtzeitig gekommen, sie hatte sich nur ein paar Zentimeter auf einer Seite weggeschnitten.
»Ich will nicht Lucia sein«, sagte sie.
Er beugte sich vor und umfasste ihre nassen Wangen. »Aber deswegen musst du dir nicht die Haare abschneiden. Es genügt, Nein zu sagen. Trotzdem verstehe ich es nicht so ganz. Ich habe dich doch vorhin gefragt, ob du die Lucia sein möchtest, und da hast du mit Ja geantwortet.«
Emelie fing wieder an zu weinen und zog sich erneut die Decke über den Kopf. »Mama hat sich extra freigenommen, um mich morgen zu sehen.«
»Ja, aber Mama will auch nicht, dass du etwas gegen deinen Willen tust. Ich kann ihr sagen, dass du deine Meinung geändert hast.«
»Nein«, sagte sie unter der Daunenschicht. »Du darfst ihr nichts sagen. Sonst wird sie wütend, weil ich mir die Haare abgeschnitten habe.«
Heimer spürte, dass auch er kurz davor war loszuheulen. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, damit Emelie nicht glaubte, er sei traurig, weil sie ihn enttäuschte.
»Kannst du nicht mal die Decke wegnehmen, damit ich dich sehe?«, fragte er.
Sie tat, worum er sie gebeten hatte. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, und aus dem einem Nasenloch rann der Rotz bis zur Lippe hinab. Die Liebe, die er in diesem Augenblick verspürte, war so bedingungslos, wie sie nur zwischen einem Vater und seiner Tochter sein konnte.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte er und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. »Wenn Mama nachher heimkommt, sage ich ihr, dass du Fieber bekommen hast und bei der Luciafeier nicht dabei sein kannst. Dann bleiben wir morgen daheim und schauen einen Film. Wie hört sich das an?«
Wenn Heimer die Augen schloss, konnte er noch immer das Gewicht des dünnen Körpers spüren, als sie sich ihm an den Hals geworfen hatte, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.
»Woran denkst du?«, fragte Sissela und riss ihn aus seinen Gedanken.
Ihre Hand tastete nach seiner, aber er wollte sie nicht nehmen.
»An Emelie«, sagte er. »Ich denke an Emelie.«