17.
John hatte sich noch nie so overdressed gefühlt wie an dem Morgen, als er die Tür zum Besprechungsraum im Polizeirevier von Karlstad öffnete. Er hatte den neutralsten Anzug gewählt, der in seinem Hotelschrank hing, um nicht herauszustechen. Ein marineblaues Wolljackett von Paul Smith mit zwei Knöpfen und schmalem Kragen. Das Hemd war weiß, und er hatte auf eine Krawatte verzichtet, da er gehört hatte, dass sich die Schweden bei der Arbeit gern leger kleideten.
Aber mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Die Männer im Raum sahen aus, als wären sie mit der Familie auf einem Sonntagsausflug. Der Erste, der die Hand ausstreckte, wurde von Primer als Kommissar Ruben Jonsson vorgestellt. Er trug eine helle Jeans mit etwas auf dem Oberschenkel, das wie ein Senffleck aussah. Das blaue Polohemd war zwar sauber, aber so ausgewaschen, dass der einst blaue Stoff ganz fleckig war.
Der zweite Mann stellte sich selbst vor. Er hieß Ulf Törner und hatte denselben Dienstgrad wie sein Kollege. Das Hemd, das er zu seiner abgewetzten Chinohose trug, saß schlecht, und an einem Ärmel fehlte ein Knopf.
John begriff, dass sein Kleidungsstil das erste Gesprächsthema sein würde, sobald er den Raum verlassen hatte. Aber das war nicht zu ändern. Er hatte sich für den Anzug entschieden, und wenn er sich am nächsten Tag anders kleidete, würde das nur Unsicherheit signalisieren. Irgendwo gab es auch Grenzen dafür, wie sehr man sich selbst verbog, nur um sich anzupassen.
Primer sorgte dafür, dass die Einleitung zur Besprechung kurz ausfiel. John durfte als Fredrik Adamsson von seinem früheren Job in Springfield und dem Umzug nach Karlstad erzählen. Er wich lästigen Fragen über die Anerkennung einer amerikanischen Ausbildung in Schweden aus und lauschte aufmerksam den komprimierten Versionen der Polizeikarrieren seiner neuen Kollegen. Dabei versuchte er, ihre Körpersprache zu lesen. Diese Technik hatte er in seiner Ausbildung zum verdeckten Ermittler gelernt, um rasch erkennen zu können, ob eine Person ihm gegenüber positiv, negativ oder neutral eingestellt war.
Ulf Törner war leicht zu lesen. Er hatte ihm seinen Oberkörper zugewandt und ließ die Arme gelassen auf der Tischplatte ruhen. Seine Miene war offen, und er lächelte sogar, als Primer meinte, John sei eine Bereicherung für die Gruppe.
Ruben Jonsson war schwerer einzuschätzen. Sowohl die Miene als auch die Körpersprache waren neutral. Er schien zu den Menschen zu gehören, die ihre Gedanken und Meinungen für sich behielten.
Sobald alle Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht waren, bekam Ruben die Anweisung, dem Neuankömmling den Plan der Gruppe zur Lösung des Falles mit dem verschwundenen Mädchen zu skizzieren.
»Die Herausforderung besteht nicht darin, den Täter zu finden, weil wir sowieso schon wissen, wer sie umgebracht hat«, begann er. »Es ist eine zwielichtige Gestalt namens Billy Nerman. Er lebt immer noch in der Gegend. Wir würden ihn zu gern einsperren, aber dafür müssen wir die Leiche finden. Das ist uns bislang nicht gelungen.«
John konnte seine Irritation nur mit Mühe verbergen. Er fand auch, dass es starke technische Beweise gegen Billy gab und einiges für seine Schuld sprach. Aber der Ausgangspunkt für ein Cold-Case-Team musste dennoch darin bestehen, den Fall mit neuen Augen zu betrachten. Wenn man dann trotzdem beim selben Täter landete, wäre dies das Ergebnis selbstständiger Polizeiarbeit – ohne vorgefasste Meinung. Ihm wurde klar, warum es seiner Mutter so wichtig war, dass er zurückkam. Sie hatte gespürt, wie die Polizisten eingestellt waren, und wusste, dass Billy nie eine echte Chance bekommen würde.
»Wie wollt ihr bei der Suche nach der Leiche vorgehen?«, fragte er so neutral wie möglich.
Ruben ging zu einer Karte, die mit Magneten an einem Whiteboard in einer Ecke des Raumes befestigt war. John gesellte sich zu ihm und blickte auf die Umrisse von Hammarö vor Karlstad, wo er seine zwölf ersten Lebensjahre verbracht hatte. Der Kollege deutete auf einen blauen Kringel, den jemand in den nordöstlichen Teil der Karte gezeichnet hatte.
»In diesem Bereich, an der Landzunge von Tynäs, wurden vor zehn Jahren das Blut und das Sperma entdeckt. In den Tagen nach dem Verschwinden des Mädchens wurde dort alles mit Leichenspürhunden abgesucht. Wir haben damit angefangen, alles noch einmal zu durchforsten. Die Patrouillen können ja beim ersten Mal etwas übersehen haben.«
»Aber diesmal werden Sie wohl kaum wieder Leichenspürhunde einsetzen, oder?«, fragte John.
»Nein, wir verwenden Metalldetektoren. Die Eltern des Mädchens haben ausgesagt, dass sie eine Kette mit einem Silberherzen um den Hals trug.«
Der Plan klang logisch, hatte aber auch Schwächen. Es gab ja auch die Möglichkeit, dass der Täter die Leiche mit einem Auto weggeschafft hatte oder es ihm gelungen war, sie trotz der unvorteilhaften Winde und Strömungen im Wasser verschwinden zu lassen.
»Habt ihr den Verdächtigen noch einmal vernommen?«, fragte John und merkte, wie sehr es ihm widerstrebte, seinen eigenen Bruder so zu bezeichnen. Aber wenn alles klappen sollte, durfte er nicht zulassen, dass seine Gefühle für Billy ihn beeinflussten.
»Ja, einmal. Er hält an seiner Geschichte fest. Weitere Vernehmungen sind zwecklos, solange wir ihn nicht mit neuen Beweisen konfrontieren können.«
John versuchte sich Billy als erwachsenen Mann vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Für ihn war sein Bruder auf seltsame Weise in der Zeit festgefroren. So war es auch gewesen, als er die Vernehmungsprotokolle im Krankenhaus in Baltimore las. Er hatte die Stimme eines trotzigen achtjährigen Jungen gehört.
»Was tun wir noch, außer nach der Leiche zu suchen?«, fragte er.
»Ich versuche, eine mögliche Zeugin zu identifizieren, die hoffentlich dazu beitragen kann, eine Verbindung zwischen dem Verdächtigen und dem Opfer in der Mordnacht herzustellen«, sagte Ulf. Er fuhr fort, das zu erzählen, was John bereits wusste. Dass die Freundin namens Maja nie identifiziert worden sei. Wenn sie Billy als den Mann erkennen könne, wegen dem Emelie Bjurwall die Party verlassen habe, werde es vielleicht für eine Anklage reichen – auch ohne Leiche.
»Gibt es dabei Fortschritte?«, fragte John.
Ulf schien die Frage nicht zu gefallen. »Ich arbeite daran«, lautete die knappe Antwort.
John setzte sich wieder an den Tisch und wandte sich an Primer. Dass der Chef bereits bei der früheren Ermittlung dabei gewesen war, stellte eine Belastung für die Gruppe dar. Natürlich brachte er Erfahrung mit, war gleichzeitig aber auch das größte Hindernis für neue Herangehensweisen. Außerdem waren Einwände gegen die Ermittlung vor zehn Jahren gleichbedeutend mit Kritik am jetzigen Chef. Es würde ein Balanceakt werden, ein gutes Verhältnis zu ihm zu wahren.
»Was genau kann ich beitragen?«, fragte John.
Primer gab die Frage an Ruben weiter, und John verstand, dass er für den praktischen Teil zuständig war. Trotz allem stand ja Leiter der Kripo Värmland auf Primers Visitenkarte, da blieb vermutlich nicht viel Zeit für die operative Polizeiarbeit – auch wenn das im Zeitungsartikel so geklungen hatte.
»Es gibt eine Spur, der wir nachgehen müssen«, sagte Ruben. »Vor vier Jahren hat uns die Polizei in Göteborg über den Selbstmord einer jungen Frau informiert, deren Tätowierung mit der von Emelie Bjurwall identisch war. Dasselbe Motiv und dieselbe Stelle am Körper. Da unsere Ermittlungen eingestellt worden waren und die Kollegen in Göteborg bei diesem Todesfall kein Fremdverschulden feststellen konnten, hat sich niemand weiter damit beschäftigt.«
John horchte auf. Das waren neue Informationen für ihn. »Und ihr haltet es für möglich, dass es eine Verbindung zwischen den Mädchen gab?«, fragte er.
»Ja, das scheint logisch«, sagte Ruben. »Das Motiv ist so außergewöhnlich, dass zwei Mädchen im selben Alter wohl kaum unabhängig voneinander auf dieselbe Idee kommen. Das muss nicht heißen, dass die Todesfälle miteinander zusammenhängen. Aber ich finde trotzdem, dass wir die Sache näher untersuchen sollten.«
John stimmte dem Kollegen mit dem undurchdringlichen Gesichtsausdruck zu. Diese Sache sollte man sich definitiv genauer anschauen.
Nach der Besprechung führte Primer ihn zu seinem Arbeitszimmer. John fragte sich, ob die anderen aus dem Team einen ähnlich großen Raum hatten oder ob der Chef ihn nach wie vor hofierte. In New York konnte nur der Vorgesetzte die Tür hinter sich schließen. Normale Ermittler wie er mussten sich mit einem Schreibtisch in der Bürolandschaft zufriedengeben.
Als der Chef zur nächsten Besprechung eilte, loggte John sich in den Laptop ein, den ihm die IT-Abteilung auf den Schreibtisch gestellt hatte. Primer hatte ihm erzählt, dass die Polizei von Värmland viel investiert hatte, um alte Ermittlungen zu digitalisieren. Alle Unterlagen ab dem Jahr 2002 waren eingescannt und auf den Server geladen worden. Er suchte nach dem Dokument der Polizei von Göteborg über das Mädchen, das sich umgebracht hatte.
Kirsten Winckler stammte genau wie Emelie aus wohlhabenden Verhältnissen und war in eine negative Spirale aus psychischen Problemen und Drogen geraten.
Den Obduktionsbericht las er mit besonderer Sorgfalt und schlug sogar einige lateinische Begriffe nach, um ganz sicher zu sein, dass er den Inhalt verstand. Sofern der Gerichtsmediziner nichts an der Leiche übersehen hatte, sprach alles dafür, dass die junge Frau sich tatsächlich mit Hilfe rezeptpflichtiger Schlafmittel suizidiert hatte, wenngleich man so etwas niemals mit hundertprozentiger Sicherheit feststellen konnte. Theoretisch konnte auch jemand Kirsten Winckler zur Einnahme der Tabletten gezwungen haben.
John blickte vom Bildschirm auf, als er ein diskretes Klopfen an der Tür hörte. Er räusperte sich und bat den Besucher hereinzukommen. Es war Ulf Törner, und in der Hand hatte er einen Kalender.
»Ich wollte mal horchen, ob Sie vielleicht schon diese Woche Ihren Küchendienst übernehmen könnten«, sagte er. »Das kommt natürlich ein bisschen plötzlich, aber es wäre am einfachsten, wenn Sie einfach einspringen und Svantessons Wochen abdecken.«
John hatte keine Ahnung, wovon der Kollege in der Tür redete, aber das hinderte Ulf nicht, unverdrossen fortzufahren.
»Also, er ist ja in Elternzeit. Svantesson, meine ich. Und wenn Sie seine Wochen nicht übernehmen, muss ich den ganzen Plan neu überarbeiten«, sagte er und schwenkte den Kalender.
»Ja, das haut sicher hin«, sagte John, ohne genau zu wissen, worauf er sich einließ.
»Das ist ja spitze, danke. Wenn Sie kurz mitkommen, dann zeige ich Ihnen alles«, sagte der Kollege und ging vor ihm durch den Flur.
Sie kamen an einer Kaffeemaschine mit einem Aufkleber vorüber, auf dem Achtung Bullenkaffee stand, und gelangten zu einem Personalraum mit einigen runden Cafétischen. In einer Ecke befand sich eine Küchennische, in deren Spüle sich schmutzige Tassen stapelten.
»So sieht es aus, wenn die Spülmaschine nicht ausgeräumt wird«, erklärte Ulf und fing an, das saubere Geschirr herauszunehmen.
John kapierte noch immer nichts. Wurde von den Polizisten wirklich erwartet, dass sie selbst aufräumten? Gab es keine Mexikaner, die das erledigten – oder wo auch immer die Leute herkamen, die die Drecksarbeit für die Schweden machten?
»Sie müssen die Maschine zweimal täglich ausräumen. Einmal morgens und einmal nach dem Mittagessen. Das saubere Geschirr stellen Sie hier oben hin«, sagte Ulf und platzierte die letzten Teller in dem Schrank über der Ablage. »Und wischen Sie ruhig auch mal mit dem Lappen über die Tische, da haben alle was davon.«
Ulf hielt den Lappen unter den Wasserhahn, wrang ihn aus und warf ihn John zu, der ihn reflexartig auffing. Am liebsten hätte er seinem neuen Kollegen den Stofffetzen in den Mund gestopft. Er war auf keinen Fall nach Karlstad gekommen, um Tische abzuwischen. Aber gleich am ersten Tag einen Streit anzufangen wäre alles andere als das unauffällige Verhalten, das er Mona Ejdewik und sich selbst versprochen hatte.
»Klar«, sagte er deshalb nur und fuhr ein paarmal pflichtschuldig über den Tisch, der am nächsten stand. Dann warf er dem erstaunten Ulf den Lappen wieder zu und ging zurück in sein Büro.
Mit ein paar Tastenhieben weckte er den Computer aus dem Stand-by und suchte die Voruntersuchung zu Billy heraus. Ihm war eine Idee gekommen, und er schaute nach, in welchem Therapiezentrum Emelie Bjurwall untergebracht gewesen war. Ihre Eltern waren mehrmals befragt worden, daher brauchte er eine Weile, bis er das richtige Protokoll fand. Als er schließlich darauf stieß, sah er, dass die Institution Björkbacken hieß und in Charlottenberg lag, nur hundert Kilometer von Karlstad entfernt in nordwestlicher Richtung.
John klappte den Laptop zu, um in Ruhe nachdenken zu können. Irgendetwas an Bildschirmen hinderte das Gehirn daran, frei zu assoziieren. Da kam er viel besser mit dem großen Zeichenblock zurecht, den er aus Baltimore mitgebracht hatte. Das Bild vom AckWe-Fall war nach und nach gewachsen, während er im Krankenhaus und später im Safe House die Unterlagen gelesen hatte.
Er legte das Blatt vor sich auf den Schreibtisch und schrieb Kirsten Winckler in eine freie Fläche. Dann malte er eine Kopie von Emelies Tätowierung. Er begann mit drei Kästchen, hielt aber inne, als er die Häkchen hinzufügen wollte. Wie viele Kästchen waren eigentlich bei der jungen Frau aus Göteborg ausgefüllt gewesen, als sie starb?
Er öffnete den Computer aufs Neue und klickte auf die bei der Obduktion gemachten Fotos des Unterarms. Sämtliche Kästchen waren abgehakt. Wenn Kirstens Tätowierung auch eine Bucketlist war, bedeutete dies, dass sie nach dem Erreichen ihrer Ziele Selbstmord begangen hatte. Wie tragisch, dachte John, dass ein so junger Mensch das Gefühl hatte, das Leben sei vorbei. Der Datierung des Berichts zufolge hatte sie nur wenige Wochen nach ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag auf dem Obduktionstisch gelegen.
Er stellte die Zeichnung fertig und schrieb dann Björkbacken? unter die Namen der beiden jungen Frauen. Irgendwo waren sie sich vermutlich begegnet, und er tippte auf das Therapiezentrum. Beide hatten ähnliche Probleme und kamen aus wohlhabenden Familien, die es sich leisten konnten, für die private Einrichtung zu bezahlen.
Dann lehnte er sich auf dem bequemen Bürosessel zurück und dachte nach. Der Wagen mit dem merkwürdigen Namen, den Primer ihm besorgt hatte, stand auf dem Parkplatz vor dem Polizeirevier. Er hatte zwei Alternativen:
Erstens – nach Björkbacken fahren. Eigentlich müsste er das erst mit Primer abstimmen, aber der war gerade in einer Besprechung. Außerdem konnte es nicht schaden, wenn der Chef sich gleich daran gewöhnte, dass sein neuer Mitarbeiter eigene Entscheidungen traf. John ließ sich von Papiertigern niemals die Polizeiarbeit diktieren. Diese Regel hatte in New York und in Baltimore gegolten, und er hatte nicht vor, sie in Karlstad zu ändern.
Und zweitens – seine Mutter besuchen, deren Adresse er bereits am Vorabend im Internet gefunden hatte. Seit ein paar Jahren lebte sie im Altersheim Gunnarskärsgården, unweit von Johns Elternhaus in der Nähe von Skoghall.
Er dachte wieder an den Brief, den er im Krankenhaus gelesen hatte, und an die Verzweiflung, die der Text verströmt hatte.
Billy wird das nicht schaffen. Nicht noch mal. Und ich auch nicht. Ich werde sterben, John. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, sagen die, die was davon verstehen.
Das gab den Ausschlag. Das Therapiezentrum musste warten.
Er legte seine Ermittlungszeichnung in eine der Schubladen der Kommode neben dem Schreibtisch, schnappte sich die Autoschlüssel und eilte zum Parkplatz.