25.

John blickte durch die Glasscheibe des Vernehmungsraums auf seinen Bruder. Billy saß reglos auf dem unbequemen Stuhl. Seine Hände ruhten auf dem Tisch. Als er in der Nacht festgenommen worden war, hatten die Polizisten ihm keine Zeit gelassen, etwas Ordentliches anzuziehen. Die kaputte Jeans war dreckig, und auf dem T-Shirt prangte das verblichene Logo eines Herstellers von Zündkerzen.

Der Mann, der neben ihm saß, war dagegen deutlich eleganter. Sein Hemd war fein gebügelt und die Krawatte säuberlich gebunden, obwohl es gerade mal halb acht am Morgen war. Mit seinem winzigen Kinn erinnerte der Anwalt an einen Nager.

Die Tür öffnete sich, und Primer trat in den Vernehmungsraum. Er warf einen Blick zur Glasscheibe, obwohl er seine Kollegen dahinter nicht sehen konnte. Ruben kontrollierte, ob die Videoaufnahme funktionierte, und drehte sich dann zu John um.

»Warum hast du noch nicht mit Primer gesprochen?«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit«, sagte er. »Du hast mir bis zum Ende der Woche gegeben.«

Ruben schnaubte. »Aber da wusste ich nicht, dass du Emelie Bjurwalls Leiche ausbuddeln würdest! Sobald diese Befragung vorbei ist, sagst du es ihm. Ich meine es ernst.«

»Natürlich.«

»Eigentlich sollte ich dich hier rausschmeißen, aber das würde nur eine Menge Fragen aufwerfen. Und komm bloß nicht auf die Idee, den anderen zu sagen, dass ich es weiß. Es genügt, wenn einer von uns beiden fliegt.«

»Keine Sorge. Ich werde dich nicht da reinziehen.«

John nahm den säuerlichen Geruch wahr, den die Achselhöhlen seines Kollegen verströmten. Vermutlich roch er selbst ähnlich schlimm. In den kritischen Phasen einer Ermittlung blieb selten Zeit für Dusche und Deo.

Auf der anderen Seite der Glasscheibe begrüßte Primer Billy und den Anwalt und setzte sich dann an den Tisch. Er hatte keinen Notizblock dabei, eine bewusste Strategie, um die Unterhaltung lockerer wirken zu lassen.

»Soso, Billy«, erklang die Stimme des Chefs über die Lautsprecher.

Weiter kam er nicht, bevor eine Frau in den Vernehmungsraum platzte. Der Wachposten an der Tür erntete einen verärgerten Blick von Primer und die unausgesprochene Frage, warum er sie hereingelassen hatte.

»Sie sagt, sie wäre die Anwältin dieses Typen«, entschuldigte er sich.

»Du hast doch schon einen Anwalt, oder?«, sagte Primer an Billy gerichtet.

»Herr Nerman wechselt mit sofortiger Wirkung seinen Pflichtverteidiger«, sagte die Frau bestimmt. »Ab sofort vertrete ich den Mandanten.«

John betrachtete Erina Kabashi, die berüchtigte Anwältin, durch die Scheibe. Sie hatte große dunkle Augen, und ihre zu einem straffen Knoten hochgebundenen Haare glänzten ebenso schwarz wie vor wenigen Tagen in Primers Büro. Er nahm an, dass sie oder ihre Verwandten vom Balkan stammten.

John schaute zu seinem Bruder und war gespannt, wie das Drama weitergehen würde. Zwei Anwälte wollten ihn verteidigen, und er musste sich entscheiden.

Das Nagetier machte ihm die Entscheidung leicht. Er stand freiwillig auf und steckte seinen Notizblock und Stift umständlich in den Aktenkoffer zurück. »Viel Glück«, sagte er, während der Wachposten die Tür öffnete.

Sobald er verschwunden war, nahm die Frau neben Billy Platz – und mit einem Schlag veränderte sich die Dynamik im Raum.

»Ich muss mit meinem Mandanten sprechen und verlange eine einstündige Unterbrechung«, sagte sie.

Primer antwortete nicht einmal.

Er stand lediglich auf, schob seinen Stuhl vor und verließ den Raum.

»Woher wusste sie, dass wir ihn verhaftet haben?« Bei den Worten spritzte die Spucke aus dem Mund des Chefs. Die Wut, die er auf der anderen Seite der Glasscheibe noch unterdrückt hatte, brach jetzt im Zuschauerraum mit doppelter Wucht aus. »Billy Nerman hat sie nicht kontaktiert, das weiß ich«, fuhr er fort. »Er hatte keine speziellen Wünsche, als ihm der Pflichtverteidiger angeboten wurde, und es ist auch noch nichts an die Medien durchgesickert. Also kann es nur von uns kommen.«

Er schlug mit der Faust auf das Bedienpult. Der Kaffee in Rubens Becher schwappte über, und der Kollege wischte ihn hastig weg, damit kein hässlicher Ring auf der Holzplatte entstand.

Primer stapfte frustriert auf und ab. »In diesem Haus wimmelt es von Klatschtanten«, sagte er und schlug sicherheitshalber gleich noch einmal mit der geballten Faust auf das Pult.

John wartete, bis sein Chef sich abreagiert hatte. »Muss das denn so schlimm sein? Sie ist doch nur eine Anwältin.«

Primer ließ sich auf das schwarze Ledersofa an der Wand sinken. »Erina Kabashi ist nicht nur eine Anwältin. Sie ist der Teufel persönlich und wird uns dermaßen die Hölle heißmachen, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Sie haben ja gesehen, wie dieses Weichei von Verteidiger reagiert hat, als sie reinkam. Er hat ihr seinen Mandanten einfach so übergeben.«

»Das sagt wahrscheinlich mehr über ihn aus als über sie«, meinte John.

»Ja, schon möglich. Ich weiß, dass ich ihre Bedeutung vielleicht übertreibe, aber ich habe einfach unglaublich schlechte Erfahrungen mit Fällen, in die diese Frau involviert war.«

Der Chef lehnte sich zurück und schien nachzudenken. Er war ganz außer Atem nach dem Wutausbruch und benötigte ein wenig Zeit, um seinen riesigen Leib wieder zu beruhigen. Nach einer kurzen Pause wirkte er zufriedener, als sei ihm eine gute Idee gekommen.

»Die nächste Vernehmung übernehmen Sie«, sagte er.

John erwiderte Primers Blick und erstarrte innerlich.

Die Situation war unmöglich. Er konnte nicht länger schweigen, das Pflaster musste ab. Ruben saß neben ihm, und wenn John jetzt nicht den Mund öffnete, würde sein Kollege es tun. »Das wird nicht gehen. Ich kann ihn leider nicht vernehmen.«

»Warum nicht?«, fragte Primer und stand auf.

John wandte sich zu Ruben um. »Könnten Sie uns kurz allein lassen?«

»Natürlich«, antwortete sein Kollege und tat erstaunt. Dann nahm er seinen Kaffeebecher und verschwand aus dem Raum.

Primer stand da wie ein Fragezeichen. »Warum können Sie die Vernehmung nicht übernehmen?«, fragte er erneut.

John spürte, wie er unter seiner Kleidung dampfte. Ohne etwas zu sagen, zog er das Jackett aus und hängte es über einen Stuhl. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte seinen Chef an. »Ich habe eine persönliche Verbindung zu ihm.«

Primer sah ihn verwirrt an. »Eine persönliche Verbindung?«

»Ja.«

»Mit Billy Nerman?«

»Er ist mein Halbbruder.«

John wusste nicht, welche Reaktion er erwartet hatte, aber ganz gewiss nicht das Gelächter, in das Primer ausbrach.

»Sie nehmen mich auf den Arm.«

»Nein, leider nicht. Es ist wirklich so.«

Das Grinsen des Chefs erstarb, als ihm klar wurde, was er gerade erfahren hatte. Er blickte durch die Scheibe in den Vernehmungsraum, wo Billy noch immer mit Erina Kabashi saß. Es war, als ginge ihm erst jetzt auf, dass John dieselbe Hautfarbe wie der Verdächtige hatte.

»Ich verstehe nicht. Sie meinen, dass Sie beide Geschwister sind?«

»Ja, wir haben dieselbe Mutter.«

»Aber … Warum zum Henker haben Sie nicht früher etwas gesagt?«

John holte weit aus und erzählte ihm von dem Brief, den ihm seine Mutter geschickt hatte, und von dem Beschluss, den er im Krankenhaus in Baltimore gefasst hatte. Dass er die Wahrheit über seinen Bruder herausfinden und zusehen wollte, dass die Ermittlungen fair abliefen. Dass es etwas äußerst Persönliches war, das er tun musste, um zu einem inneren Frieden zu finden. Primer hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Er stand nur da und biss die Zähne zusammen, während die eiskalte Dusche auf ihn herabprasselte. Sein Gesicht wurde röter und röter – und als er schließlich genug gehört hatte, ging er zu John und streckte die Hand aus. »Geben Sie mir Ihren Dienstausweis und Ihre Dienstwaffe.«

John nahm die Plastikkarte aus seinem Geldbeutel und vergewisserte sich, dass die Pistole im Achselholster gesichert war, bevor er sie übergab.

»Und was passiert jetzt?«, fragte er und senkte bewusst nicht den Blick.

»Vorerst sind Sie auf eigenen Wunsch freigestellt. Was dann passiert, weiß ich noch nicht. Sie haben ein schweres Dienstvergehen begangen, und das wird natürlich Konsequenzen haben.«

»Natürlich, das verstehe ich. Aber ich hoffe trotzdem, dass es diskret gehandhabt wird. Wenn es im Kollegenkreis herauskommt, wissen es bald die Medien, und dann wird es nicht lange dauern, bis meine wahre Identität offengelegt wird.«

Primer schnaubte und schüttelte den Kopf. »Daran hätten Sie verdammt noch mal denken sollen, bevor Sie hier hereingetrampelt sind und die Ermittlungen sabotiert haben. Sie haben sich selbst in diese Lage gebracht, und ich bin nicht für Ihren Zeugenschutz verantwortlich.«

Er war so wütend, dass John keinen Sinn darin sah, ihn vor den Gefahren zu warnen, wenn die Geschichte herauskam. Primer schien weder in der Lage noch willig, ein Schweigegelübde abzulegen. Die Entscheidung würde auf einer höheren Ebene und in Abstimmung mit Mona Ejdewik von der Kripo getroffen werden. Vielleicht würde man sogar Brodwick hinzuziehen. John konnte die Genugtuung seines ehemaligen Chefs bereits spüren. Er würde ihn liebend gern daran erinnern, dass er von Anfang an gegen Schweden als Aufenthaltsort gewesen war.

John verdrängte das Bild von Brodwicks schiefem Grinsen und warf einen Blick in Richtung Vernehmungsraum. Auf der anderen Seite der Glasscheibe sah er die niedergeschlagene Miene seines Bruders, der Erina Kabashi zuhörte. Die Anwältin schien ununterbrochen zu reden, und John fragte sich, was wohl in Billys Kopf vor sich ging. Dass er seine Nächte wieder in einer Zelle des Polizeireviers verbringen musste, hatte er sich garantiert nicht erhofft, als sein großer Bruder endlich zurückgekommen war, um ihm zu helfen.