27.

Trotz des Nieselregens stand er vor seinem Auto und aß. Der Hamburger vom Kiosk im Stadtzentrum war extrem ölig, und John wollte nicht riskieren, dass Fett auf die Ledersitze des Chryslers tropfte. Zwei Stunden waren seit dem Ärger mit Primer im Polizeirevier vergangen, und erst jetzt spürte er, wie er sich nach dem Adrenalinschub zu entspannen begann. Er hatte anderthalb Tage nicht geschlafen und war völlig erschöpft nach allem, was passiert war.

Im Laufe eines Vormittags war er vom Helden, der Emelie Bjurwalls menschliche Überreste entdeckt hatte, zu einem Lügner geworden. Er war von den Ermittlungen ausgeschlossen worden und hatte keinerlei Einsicht mehr in den Fall, und das gefiel ihm gar nicht. Aber vielleicht ließ sich das ändern. Er würde es zumindest versuchen.

Sein Handy piepte, und er las die Nachricht. Die Person, mit der er die SMS austauschte, stimmte einem Treffen zu. Er warf den Rest des Burgers in den Papierkorb und gab die Adresse in das Navi des Wagens ein. Nach fünf Minuten hatte er das Ziel erreicht und hielt am Straßenrand. Das gegenüberliegende Gebäude sah nicht so aus, wie er erwartet hatte. John klickte noch einmal auf die SMS, um sich zu vergewissern, dass er zur richtigen Adresse gefahren war, und verglich die Angaben mit dem Schild an der Hausfassade. Dann stieg er aus dem Wagen, überquerte die Fahrbahn und öffnete die Tür von Ratchanee Thaimassage. Das Schild mit den bunt blinkenden Lämpchen, das im Schaufenster hing, passte so gar nicht zu der leisen Panflötenmusik, die aus den Lautsprechern am Empfangstresen strömte.

Die junge Thailänderin, die ihn begrüßte, trug einen roten Kimono mit fein gestickten Schmetterlingen. Sie lächelte und verbeugte sich leicht.

»Ich habe mich wahrscheinlich in der Adresse geirrt«, sagte John.

»Follow me, Mister.« Die Frau sprach gebrochen Englisch. Sie hielt einen Vorhang aus farbenfrohen Plastikperlen hoch, der eine gewölbte Wandöffnung verbarg. Dahinter befand sich ein Flur mit Zimmern zu beiden Seiten. Sie klopfte an eine der Türen, und eine Stimme bat sie einzutreten. Von der Massagebank blickte ein bekanntes Gesicht zu John auf.

»Setzen Sie sich.« Erina Kabashi klang ebenso bestimmt wie in dem Augenblick, als sie sich zu Billys Verteidigerin erklärt hatte.

John suchte nach einer Sitzgelegenheit. Eine andere Frau, deutlich älter als jene, die ihn zu dem Raum geführt hatte, blickte von den Schultern der Anwältin auf, die sie gerade durchknetete. Sie deutete mit dem Kopf auf einen Schemel am anderen Ende des Raumes. John holte ihn heran und setzte sich ans Kopfende der Pritsche.

»Und jetzt wüsste ich gern, wer Sie sind«, fuhr Erina fort und stöhnte bei der letzten Silbe auf, als sich die kräftigen Daumen der Masseuse in die vom Öl glänzenden Muskeln bohrten.

John zögerte. Inzwischen wussten schon viel zu viele Leute, dass Fredrik Adamsson nur eine Tarnung war, und er hatte keine Lust, die Anwältin in diesen illustren Kreis aufzunehmen. Andererseits galt es, sich mit ihr gut zu stellen. Im Augenblick war sie seine einzige Möglichkeit, um weiter über den Fall informiert zu bleiben.

»Kümmern Sie sich nicht um Gewalin, sie spricht kein Wort Schwedisch«, sagte Erina. »Ich habe hier öfter heikle Besprechungen. Nicht alle Mandanten wollen in meinem Büro gesehen werden.«

Auf Johns fragenden Blick hin erklärte sie weiter: »Ich habe die Familie vor ein paar Jahren in einem zivilrechtlichen Fall vertreten, und ihnen ging das Geld aus. Also habe ich akzeptiert, dass sie mir die letzte Rate in Form von drei wöchentlichen Massagen auszahlen. Entweder das oder der Konkurs – und da hätte ich sowieso keinen Cent mehr gesehen.« Die Anwältin stöhnte noch einmal genussvoll vor Schmerz auf. »Das genügt, Gewalin. Machen Sie unten weiter«, verlangte sie auf Englisch.

Die Masseurin verlagerte die weißen Handtücher, sodass der untere Teil des Rückens entblößt wurde. John versuchte, nicht auf den Po der Anwältin zu starren.

»Sie müssen verstehen, dass ich mich frage, wer Sie sind«, fuhr sie fort. »Erst geben Sie mir anonym den Tipp, dass Billy Nerman erneut verhaftet wurde und einen Verteidiger braucht. So weit, so gut. Solche Tipps bekomme ich ständig. Aber dann schreiben Sie mir noch einmal und wollen mich treffen, und bei so was werde ich misstrauisch.«

John ärgerte sich über seine Verlegenheit und unternahm einen Versuch, in der Unterhaltung wieder die Oberhand zu gewinnen. »Wer ich bin, spielt keine Rolle«, sagte er. »Entscheidend ist nur, was ich zu sagen habe.«

»Wer jemand ist und was dieser Jemand sagt, hängt untrennbar zusammen«, erwiderte sie blitzschnell. »Ich bin lange genug Anwältin, um das zu wissen. Wenn Sie es mir nicht sagen wollen, haben Sie bestimmt Ihre Gründe, aber dann muss ich den Auftrag leider ablehnen.«

Erina ließ ihren Kopf wieder in die Aussparung in der Massagebank sinken, als sei die Unterhaltung damit beendet. Gewalin verteilte Öl auf ihrem unteren Rücken und massierte mit entschlossenen Bewegungen den Lendenbereich.

»Den Auftrag ablehnen?«, wiederholte er. »Das nehme ich Ihnen nicht ab. Alle Medien werden über diesen Fall berichten. Es würde Ihnen nicht ähnlich sehen, auf solch eine Aufmerksamkeit zu verzichten.«

»Es ist nur dann gute PR, wenn ich gewinne. Das tue ich in der Regel auch, und wissen Sie, warum?«

»Weil sie eine überdurchschnittlich tolle Anwältin sind, nehme ich an.«

»Das könnte man leicht vermuten«, sagte Erina und ignorierte die Ironie in seiner Stimme. »Aber nein, es liegt daran, dass ich härter arbeite als alle anderen. Ich sehe voraus, was der Staatsanwalt unternehmen wird, und bereite mich entsprechend vor. Deshalb rauben mir weder Beweisstücke noch Zeugen den Schlaf, sondern der Faktor X. Das Unbekannte, das man mir vorenthalten hat und auf das ich mich nicht vorbereiten konnte.« Die Anwältin hob den Kopf ein paar Zentimeter von der Pritsche, sodass sie sich ihm erneut zuwenden konnte. »Deshalb habe ich einen Grundsatz, über den ich nicht verhandle«, fuhr sie fort. »Wenn ich einen Faktor X wittere, lehne ich den Auftrag sofort ab. Und Sie, mein Lieber, riechen zehn Meter gegen den Wind nach Faktor X.«

John breitete die Arme aus und gab sich Mühe, beleidigt zu wirken. »Ich verstehe nicht, inwiefern ich Ihre Chancen zerstören sollte, Billy Nerman erfolgreich zu verteidigen. Bisher habe ich Ihnen nur den Tipp gegeben. Ohne mich wäre er gar nicht Ihr Mandant.«

»Nein, und genau da hakt es. Wie konnten Sie wissen, dass er verhaftet wurde? Und warum wollen Sie, dass ich ihn vertrete? Geld für den Tipp wollen Sie anscheinend keins. Sie haben etwas zu verbergen, das ist ganz klar. Also sagen Sie mir entweder, wer Sie sind, oder ich bin raus.«

John suchte vergeblich nach einer Antwort. Seine Strategie des Angriffs war schiefgegangen, und jetzt wusste er tatsächlich nicht mehr, was er tun sollte.

»Ich möchte, dass Sie sich zwei Dinge überlegen, bevor Sie eine Entscheidung treffen«, sagte sie und blickte ihn an. »Erstens: Ich habe keinerlei Toleranz gegenüber Lügnern. Wenn Sie mich anflunkern und ich finde das raus, gebe ich den Auftrag sofort ab. Zweitens: Unsere Unterhaltung findet im Rahmen meiner Vertretung von Billy Nerman statt. Das heißt, dass alles, was Sie mir sagen, unter uns bleibt und niemals diesen Raum verlässt.«

John musterte die Frau auf der Massagebank. Erina Kabashi meinte es ernst. Die Bedingungen waren kein Eröffnungsangebot für eine Verhandlung, sondern unabdingbare Forderungen ihrerseits.

»Ich möchte, dass sie den Raum verlässt«, sagte er mit einem Blick in Richtung der Masseurin.

Gewalin schien Johns Körpersprache verstanden zu haben. Sie legte der Anwältin ein warmes gefaltetes Handtuch auf den unteren Rücken und verschwand lautlos durch die Tür.

»Was ich Ihnen jetzt sage, sind vertrauliche Informationen. Wenn das rauskommt, ist mein Leben in Gefahr. Verstehen Sie das?«

»Ich wiederhole noch einmal: Was Sie mir sagen, bleibt unter uns. Wenn ich gegen meine Schweigepflicht verstoße, darf ich nie wieder als Anwältin tätig sein.«

John musterte ihre ernste Miene. Ihm blieb keine andere Wahl, als ihr zu vertrauen. Wenn er das Versprechen, das er sich und seiner schwedischen Familie gegeben hatte, einhalten wollte, musste er zusehen, dass sein Bruder bestmöglich verteidigt wurde.

»Billy Nerman ist mein Halbbruder«, sagte er und schwieg dann, um ihr Zeit zu geben, die Information zu verdauen.

»Ja, entweder das oder Ihr Liebhaber«, sagte sie ohne die geringste Überraschung. »Und warum muss das geheim bleiben?«

»Reicht es, wenn ich Ihnen sage, dass ich Teil eines Zeugenschutzprogramms bin? Es gibt Drohungen gegen mich, aber das hat nichts mit den Vorwürfen gegen Billy zu tun.«

Erina schnalzte mit der Zunge, während sie überlegte, ob ihr die Antwort genügte. »Okay«, sagte sie. »Aber dann muss ich wissen, für wen Sie sich im Moment ausgeben. Denn ich nehme an, dass Sie eine neue Identität bekommen haben?«

»Ja, Fredrik Adamsson.«

Die Anwältin fuhr so schnell in die Höhe, dass ihr fast die Handtücher vom Leib rutschten. »Der Fredrik Adamsson? Der in den Ermittlungsakten vorkommt, die ich eben erst gelesen habe? Der die Leiche gefunden hat?«

John nickte widerwillig.

»Moment mal, ganz langsam, damit ich alles verstehe. Sie gehören zu der Einheit für unaufgeklärte Verbrechen, die den AckWe-Fall neu aufgerollt hat – mit Ihrem eigenen Bruder als Hauptverdächtigem?«

»Halbbruder«, korrigierte John.

»Okay, Halbbruder, aber das ändert nichts am Sachverhalt. Und jetzt haben Sie auf eigene Faust herausgefunden, wo Emelie Bjurwall vergraben wurde?«

»Ich verstehe ja, dass das seltsam klingt«, sagte John.

Erina kommentierte die Untertreibung mit einem Seufzen. »Das ist das Absurdeste, was ich je gehört habe. Sie liefern der Anklage das letzte Puzzleteil, um Billy Nerman auf Lebenszeit einzusperren, und geben gleichzeitig Informationen an seine Verteidigerin weiter. Das klingt ein bisschen schizophren. Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich?«

John verschränkte die Arme und sah sie an. »Auf der Seite der Wahrheit«, sagte er.

»Oh nein, nicht so einer«, stöhnte Erina. »Drehen Sie sich bitte kurz um.«

John tat, worum er gebeten wurde, während sie sich in einen dunkelblauen Kimono hüllte, auf der Liege aufsetzte und die Füße in der Luft baumeln ließ.

»Die Wahrheit interessiert mich überhaupt nicht«, fuhr sie fort. »Für mich geht es nicht darum, ob jemand etwas tatsächlich getan hat, sondern um die Frage, ob der Staatsanwalt es beweisen kann. Wenn Sie Ihrem Bruder wirklich helfen wollen, würde ich vorschlagen, dass Sie eher über die Beweislage nachdenken als über die Wahrheit.«

»So will ich meinem Bruder aber nicht helfen.«

»Das habe ich verstanden«, sagte sie. »Sonst hätten Sie dieses Mädchen wahrscheinlich in der Erde liegen gelassen. Was wollen Sie dann?«

»Dass alles fair untersucht wird – und ich glaube, genau das wird nicht der Fall sein, wenn Bernt Primer die Ermittlungsarbeiten leitet. Es braucht ein Gegengewicht, und das sind Sie.«

Die Anwältin musterte ihn. Obwohl sie es zu verbergen versuchte, konnte John ein amüsiertes Lächeln unter ihrem Pokerface erahnen. »Sie haben also gemerkt, dass ihm die Wahrheit auch egal ist.«

John merkte, wie ihn der Zorn packte. Erina Kabashi mochte ihren Job beherrschen, aber ihr fehlte jeglicher moralische Kompass. Er würde nicht hinnehmen, dass sie ihn wie einen Schuljungen behandelte. Wenn jemand wusste, wie verdorben die Welt sein konnte, dann er, aber das hieß nicht, dass er deshalb gleich alle seine Prinzipien über Bord werfen musste.

»Tut mir leid, dass ich Sie provoziert habe«, sagte sie, als sie die veränderte Stimmung bemerkte.

John antwortete nicht. Es fühlte sich gut an, dass nun auch Erina in einer Verteidigungshaltung gelandet war. Dort konnte sie ruhig noch eine Weile bleiben.

»Sie wollten mir etwas mitteilen, an diesem Punkt haben wir das Gespräch begonnen«, fuhr die Anwältin fort. »Nachdem Sie mir gesagt haben, wer Sie sind, höre ich Ihnen gern zu.«

John zog den Schemel näher an die Liege heran, achtete aber darauf, dass der Abstand groß genug blieb, damit sie ihn nicht als stillschweigende Akzeptanz ihrer Entschuldigung deutete.

»Es geht um die DNA-Beweise gegen Billy. Ich möchte wissen, ob er Ihnen etwas Neues dazu gesagt hat.«

»Das kann ich nicht kommentieren. Ich würde meine Schweigepflicht ihm gegenüber verletzen.«

»Okay, das verstehe ich. Aber wenn ich Sie so frage: Wie wollen Sie damit umgehen, dass das Sperma Ihres Mandanten in der Nähe von Emelie Bjurwalls Blut aufgefunden wurde?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber ich kann jetzt schon sagen, dass seine bisherige Strategie nicht noch mal aufgehen wird.«

John dachte daran, was Ruben Jonsson ihm vor dem Tattoostudio gesagt hatte. Der DNA-Beweis war die stärkste Waffe des Staatsanwalts, und ein Verteidiger würde viel Kraft darauf verwenden müssen, um sie zu entschärfen.

»Dann werden Sie ihn bitten, eine alternative Story zu erfinden?«

»Es liegt mir fern, meine Mandanten zum Lügen zu ermutigen.«

»Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie auch nicht sonderlich interessiert an der Wahrheit?«, fragte John und bereute seine Worte sogleich. Es war nicht sein Ziel, sich mit dieser Frau anzulegen. »Mein Bruder hat über all die Jahre an derselben Geschichte festgehalten«, fuhr er fort. »Ist das nicht seltsam, wenn man bedenkt, wie leicht es für ihn gewesen wäre, eine Lüge zu erfinden, die erklärt hätte, wie das Sperma dort gelandet ist, wo es war? Vielleicht besteht genau deshalb eine kleine Chance, dass er wirklich die Wahrheit sagt.«

»Wie meinen Sie das?«, sagte die Anwältin.

»Was ist, wenn es nicht sein Sperma ist? Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Labor sich irrt.«

»Das klingt weit hergeholt.«

»Aber es wäre eine Überprüfung wert, und wenn sie nur dazu dient, die Möglichkeit auszuschließen.«

Ein besseres Argument hatte er nicht. Die Anwältin hatte nichts zu verlieren, wenn sie einen neuen Test forderte.

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie schließlich.

»Danke, das war alles, was ich hören wollte«, erwiderte er und ging zur Tür.

»Fahren Sie zurück zum Polizeirevier? Schweigepflicht hin oder her, ich muss schon sagen, wie sehr es mir missfällt, dass Sie an den Ermittlungen beteiligt sind.«

John drehte sich um. »Keine Sorge. Primer hat mir den Dienstausweis inzwischen abgenommen.«

Die Anwältin wirkte überrascht. »Dann weiß er Bescheid?«

»Er kennt die Verbindung zwischen Billy und mir, ja.«

Erina schnalzte erneut mit der Zunge. Wie anscheinend jedes Mal, wenn sie etwas Neues erfuhr und verarbeitete. »Jetzt verstehe ich das Ganze besser«, sagte sie. »Sie wollen, dass ich Ihr Maulwurf bin, weil Sie keinen Einblick mehr in die Ermittlungen haben.«

»Ich möchte, dass Sie meinen Bruder vertreten, sonst nichts.«

»Das ist lustig«, fuhr sie fort, ohne seinen Einwand zu beachten. »Ich habe mir eingebildet, dass Sie mir Informationen geben würden – und in Wirklichkeit ist es genau umgekehrt. Ich nehme an, Primer wird interne Ermittlungen veranlassen?«

»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht«, antwortete John wahrheitsgemäß.

Er machte kehrt und setzte sich wieder neben sie auf die Massagebank. Draußen im Flur wurden gerade neue Kunden in ihre Räume geführt.

»Verändert das etwas für Sie?«, fragte er.

»Was meinen Sie?«

»Werden Sie Billy weiterhin vertreten, obwohl Sie jetzt wissen, dass ich Polizist bin und von den Ermittlungen ausgeschlossen wurde?«

Sie sah ihn ein wenig verwirrt an. »Ja, natürlich. Schließlich sind Sie jetzt kein Faktor X mehr.«