28.

Heimer blickte in die tränengeröteten Augen seiner Frau. Als er ihr erzählt hatte, dass die Polizei die Überreste von Emelies Leiche entdeckt hatte, war sie in seinen Armen zusammengebrochen. Es spielte keine Rolle, dass er sich übergeben hatte und verschwitzte Laufklamotten trug. Sie hatte sich trotzdem an ihn gedrückt.

Jetzt saßen sie auf zwei Plastikstühlen in einem fensterlosen Raum hinter der Bühne. Draußen hörte man den Lärm vom Abbau der Tribüne. Die Teile des Stahlgerüsts schepperten laut, während sie über eine Laderampe transportiert wurden. Dann wurde vorsichtig an die Tür geklopft.

»Die Pressekonferenz«, sagte Sissela leise. »Sag ihnen, dass sie ohne mich auskommen müssen.«

Heimer umfasst das Gesicht seiner Frau mit den Händen und küsste sie sanft auf die Stirn. Dann stand er auf, um die Tür zu öffnen. Er fürchtete, dass die Übelkeit zurückkehren würde, wenn er seine Haltung änderte, doch seine Beine gehorchten ihm.

Im Flur wartete die junge Assistentin, die ihn vorhin an den Sicherheitsleuten vorbeigelotst hatte. »Wir bräuchten Sissela jetzt für einen Moment«, sagte sie lächelnd.

Heimer erwiderte das Lächeln. »Es tut mir leid, aber sie braucht jetzt Zeit für sich selbst.« Es war ihm peinlich, sich das einzugestehen, aber es gab ihm ein beinahe berauschendes Gefühl, der Assistentin abzusagen.

»Aber die Pressekonferenz fängt doch in zehn Minuten an. Nylas Team fragt sich, wo sie ist.«

»Finden Sie eine Lösung. Sie können damit rechnen, dass sie für die nächste Zeit alle Termine absagt«, erklärte er und schloss die Tür ohne ein weiteres Wort.

Dann ging er zurück zu Sissela und kniete sich vor sie. »Fühlst du dich stark genug, um loszufahren?«

Sissela ließ Heimers Hand während der gesamten Taxifahrt nicht los. Sie weinte wieder, diesmal aber anders. Ruhiger, mit tieferen Atemzügen. Er stellte sich vor, wie die eingefrorene Trauer in seiner Frau endlich schmelzen durfte. Vielleicht hatte sie sich genauso gefühlt wie er, ohne es zuzulassen. Vielleicht war das ganze Gerede davon, nach vorn zu blicken, anstatt in der Vergangenheit zu leben, nur ihre Art gewesen, sich vor dem Schmerz zu schützen. Vielleicht wurde auch sie nachts von den Gedanken an Emelie heimgesucht.

Er drückte Sisselas Hand noch fester, als das Taxi vor dem Eingang des gerichtsmedizinischen Instituts hielt. Bernt Primer wartete auf der Treppe. Heimer hatte mit ihm telefoniert und sich für sein Verhalten vor dem Haus entschuldigt. Der Polizeibeamte hatte ihm versichert, dass er ihn verstehe, sich aber nur zögernd darauf eingelassen, ihnen die Leiche zu zeigen. Als ihm klar geworden war, dass es auch Sisselas Wunsch war, hatte er eingelenkt und versprochen, persönlich vor Ort zu sein.

Das Erste, woran Heimer dachte, als sie ins Gebäude traten, war Desinfektionsmittel. Das Innere roch und sah aus wie ein Krankenhaus, mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Personal in den Fluren keine Eile hatte. Warum auch. Die Patienten waren ja bereits tot.

Primer ging zu einer Tür und wandte sich zu den beiden Besuchern um. »Sie hat zehn Jahre lang in der Erde gelegen. Sie werden Ihre Tochter nicht wiedererkennen.«

»Das ist uns klar«, sagte Heimer.

Primer nickte und drückte auf einen Knopf an der Wand, woraufhin die elektrische Tür aufglitt. Sie folgten ihm in den Raum mit gefliesten Wänden und Linoleumboden. An einer Bahre aus rostfreiem Stahl stand ein Mann mit einem grünen Kittel und hob die Hand zum Gruß. Was vor ihm lag, war von einem weißen Tuch bedeckt.

»Wir behandeln die Verstorbenen hier mit dem größten Respekt, ich möchte, dass Sie das wissen«, sagte er. »Unser Ziel ist es immer, möglichst wenige Spuren am Körper zu hinterlassen, wenn wir die Untersuchung durchführen.«

Heimer fand, dass es eingeübt klang. Wie bei einer Stewardess, die vor dem Start die Sicherheitshinweise durchging.

»Ich bin bereit, wenn Sie es sind«, sagte der Gerichtsmediziner und trat einen Schritt auf den Leichnam zu.

Heimer legte eine Hand auf Sisselas Schulter.

Sie waren bereit.

Der Mann zog langsam das Laken beiseite. Heimer starrte eindringlich auf das, was auf der Bahre lag. Aus ihrer Tochter war ein Skelett geworden, an mehreren Stellen sah man die nackten Knochen. Über dem Brustkorb hingen große Fetzen von verwestem Gewebe, das sich noch nicht vollständig zersetzt hatte.

Heimer schluckte und zwang sich, den Blick auf das Kopfende der Bahre zu richten. Von Emelies schönem Gesicht war nur noch ein Schädel übrig. Dessen rechte Seite war zertrümmert. Von einer Kerbe gingen zwei Risse ab, der eine ein wenig länger und breiter als der andere. Es sah absurd und unwirklich aus. Als habe jemand mit den Requisiten einer Hamlet-Vorstellung gespielt und dabei den Totenschädel fallen lassen.

»Nach so vielen Jahren ist die Todesursache nicht mehr festzustellen«, sagte der Gerichtsmediziner. »Mögliche Verletzungen der Organe kann man nicht mehr sehen. Wie Sie erkennen können, wurde ihr jedoch ein Schädeltrauma beigefügt. Dies könnte sie getötet haben – allein oder in Kombination mit anderen Verletzungen.«

Sissela wandte sich hastig ab und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Ich glaube, das genügt«, meinte Primer.

Der Mann nickte und deckte den Leichnam wieder zu. »Nur noch eine Sache«, sagte er und nahm etwas, das hinter ihm auf dem Tisch gelegen hatte. Es war eine Plastiktüte mit Reißverschluss, in der ein metallischer Gegenstand lag. »Das brauchen wir nicht mehr.«

Heimer nahm die Tüte entgegen und hielt sie ins Licht. Darin lag Emelies Silberherz.

Es war dunkel, als sie nach Tynäs zurückkamen. Sie saßen einander gegenüber am Glastisch im Wohnzimmer und warteten schweigend darauf, dass das Teewasser kochte. Heimer fühlte eine Verbundenheit in diesem Schweigen. Sie brauchten wohl beide ein wenig Zeit, um die Erlebnisse im gerichtsmedizinischen Institut zu verarbeiten. Hauptsache, sie taten es gemeinsam.

Das Wasser auf dem Herd begann zu dampfen, und er stand auf, um den Kamillentee zuzubereiten, den Sissela so gern mochte. Er zog den Topf von der Platte und wartete kurz, bis die Temperatur um ein paar Grad gesunken war.

Als der Tee gezogen hatte, setzte er sich wieder auf den Lamino-Sessel. Normalerweise schmeckte ihm Kamillentee nicht, aber heute tat er richtig gut. Sisselas Handy lag neben ihrer Tasse auf dem Glastisch. Es war auf lautlos gestellt, leuchtete aber immer wieder auf, wenn die Außenwelt versuchte, sich in ihre Blase zu drängen. Sie drehte es um, damit sie den Bildschirm nicht sah, und lehnte sich gegen die weichen Kissen des Sofas.

Heimer erhob sich aus dem Sessel, ging um den Glastisch herum und setzte sich neben sie. »Mach die Augen zu«, sagte er.

»Heimer …«, protestierte sie leise.

Er machte »sch, sch« und strich ihr mit der Hand übers Gesicht, sodass sie die Lider schloss. Dann zog er die Plastiktüte, die ihm der Gerichtsmediziner gegeben hatte, aus der Hosentasche. Er öffnete den Verschluss und holte mit zitternden Händen das Silberschmuckstück hervor. Das Herz war ein Geschenk von ihnen beiden, das Emelie zum ersten Schultag am Gymnasium bekommen hatte. Klamotten, Frisur und Stil hatten danach mehrmals gewechselt, aber das Herz hatte ihre Tochter seitdem jeden Tag getragen.

Heimer brauchte eine Weile, bis er es schaffte, die Kette im Nacken seiner Frau zu schließen. Endlich glitt der dünne Silberhaken in die Öse. Er schob sie vorsichtig zurecht, bis das Herz auf ihrer Brust landete.

Sissela öffnete die Augen und lächelte schwach. Sie nahm das Herz in die Hand und strich mit dem Daumen über die glänzende Oberfläche. »Die Bissspuren sind noch da«, sagte sie.

Heimer lächelte auch und dachte an Emelie mit dem Herz im Mund. Sie hatten mit ihr geschimpft und sie ermahnt, dass das nicht gut für die Zähne sei, aber sie hatte immer wieder auf dem Schmuckstück herumgekaut, wenn sie sich bei einer Hausaufgabe besonders konzentrieren musste.

Sissela ließ das Herz los, und Heimer sah, wie ein Hauch von Besorgnis über ihr Gesicht huschte. »Fass das jetzt bitte nicht falsch auf, Heimer. Der Schmuck ist wunderschön. Lass uns gern ein feines Etui kaufen, um ihn aufzubewahren. Aber ich will das Herz nicht jeden Tag um den Hals tragen. Das kann ich nicht.«

Heimer rang um Fassung. Er wollte nicht zeigen, wie enttäuscht er war. So also betrachtete Sissela das Gedenken an Emelie. Als ein Stück Silber um den Hals, das sie nicht tragen konnte.

»Ich sehe, dass dich das traurig macht«, sagte sie.

»Keine Sorge. Natürlich sollst du nichts an dir haben, mit dem du dich nicht wohlfühlst.« Er lächelte sie wieder an. Diesmal bemüht.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte sie.

»Inwiefern?«

»Dass du das alles nicht verkraftest. Du weißt doch, wie es uns in den ersten Jahren ging. Das will ich nicht noch einmal durchmachen. Deinetwegen. Und unseretwegen. Eigentlich hat sich ja nichts verändert. Sie ist fort und kommt nie mehr zurück. Dass die Polizei sie gefunden hat, ist nur eine Bestätigung dessen, was wir schon wussten.«

»Die Überreste unserer Tochter auf einer Liege zu sehen, spielt keine Rolle für dich?«

»Doch, und das weißt du auch. Für mich ist es genauso schlimm wie für dich.«

Heimer spürte, wie der Geschmack von Kamille in seinem Mund stärker wurde. Wie jemand dieses Gesöff trinken konnte, war ihm ein Rätsel. Er sprang auf, nahm seine Tasse mit und schüttete den Tee in den Ausguss.

»Bitte, sei nicht so. Komm zurück und lass uns darüber reden.«

Die Stimme seiner Frau bohrte sich schmerzhaft in sein Trommelfell. Sie hatte ein paar Tränen an seiner Schulter vergossen, und damit war die Sache für sie aus der Welt. Es war idiotisch gewesen zu glauben, dass sich etwas zwischen ihnen verändern könnte. Stattdessen war er wieder in der Rolle gefangen, der er nicht entkommen konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren. Ohne Sissela würde er untergehen, das wusste er, also musste er unter den Rahmenbedingungen leben, die sie vorgab. Was nach außen hin sichtbar war, gehörte ihr, was innen war, ihm. Und das würde sie ihm niemals wegnehmen können.

Er goss sich ein Glas kaltes Wasser ein und ging zum Sofa zurück. »Entschuldige«, sagte er mit sanfter Stimme. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich weiß, dass wir nach vorn sehen und das Beste aus unserem gemeinsamen Leben machen müssen. Das hätte Emelie auch gewollt. Aber du musst mir ein bisschen Zeit geben.«

Sisselas Blick füllte sich wieder mit Wärme. »Nein, ich muss mich entschuldigen. Wir haben gerade etwas sehr Verstörendes erlebt, und du sollst dich nicht bedrängt fühlen. Ich will nur nicht, dass du dich wieder verlierst.«

Ihre Lippen fühlten sich weich an, als sie ihn auf die Wange küsste. Er rutschte zu ihr und bat sie, die Haare anzuheben. »Ich helfe dir«, sagte er.

Sissela beugte sich vor, und er befreite sie von der Last von Emelies Silberherz.