31.
Genau wie beim letzten Mal parkte John ein paar Hundert Meter von seinem Elternhaus entfernt. Er hatte den ganzen Nachmittag lang mit sich gerungen, ob er sich von seinem Bruder verabschieden sollte oder nicht.
Das Risiko schätzte er als überschaubar ein. Der Chrysler war bereits vollgepackt, und wenn er die Fähre zum Kontinent nahm, spielte es keine Rolle, ob jemand den Wagen mit einem Besuch bei Billy Nerman in Verbindung brachte. Er würde das Auto in Deutschland schwarz verkaufen, und die Spur zu Fredrik Adamsson und John Adderley würde in einer Sackgasse enden, sobald er seine neuen Ausweispapiere gekauft hatte.
Seine Zweifel waren eher emotionaler Art. John wusste nicht genau, ob er seinen Bruder wirklich ein letztes Mal sehen wollte. Der Besuch würde viele alte Wunden aufreißen, mit denen er sich weder auseinandersetzen wollte noch konnte. Vielleicht wäre es besser, die Geschichte hier enden zu lassen. So konnte er sich wenigstens einbilden, dass Billy glücklich bis ans Ende seiner Tage lebte, wenn sich der Verdacht gegen ihn in Luft aufgelöst hatte.
Dennoch knirschte jetzt der Kies in der Einfahrt von Nermans Auto unter seinen Sohlen. Die Dämmerung setzte ein, und John hörte die Predigten seines Vaters im Kopf widerhallen. »Es gibt nichts Wichtigeres als die Familie, John. Wenn es hart auf hart kommt, ist sie das Einzige, was uns bleibt.« Solche Dinge hatte er immer am Küchentisch in der Wohnung an der Lower East Side gesagt und keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich Enkel wünschte. Daraus war nichts geworden. Stattdessen hatten die Worte des Alten ihn hierhergetrieben – zurück zu seinem Elternhaus.
John war bewusst, dass sein Vater weder Billy noch seine Mutter zur Familie gezählt hatte. Dieser Zweig der Verwandtschaft war in dem Augenblick abgeschrieben gewesen, in dem sie in das Flugzeug nach New York gestiegen waren. Aber für John war es anders. Es spielte keine Rolle, wie oft er versucht hatte, seine schwedische Familie aus seinem Gedächtnis zu streichen. Sie würde trotzdem immer da sein und ihm ein schlechtes Gewissen bereiten. Nur ein feiger Hund würde das Land verlassen, ohne sich richtig zu verabschieden.
John stand vor der Eingangstür des Wohnhauses. Er klingelte, aber niemand öffnete. Die Klingel war schon in seiner Kindheit kaputt gewesen, und Billy schien sich nie die Mühe gemacht zu haben, sie zu reparieren. Vielleicht bekam er nicht oft Besuch.
John klopfte ein paarmal gegen die Tür. Er hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde – und dann Schritte, die sich näherten.
Billy strahlte, als er ihn erblickte, und drückte ihn fest an sich. »Ich habe mich gerade gefragt, ob du auftauchst. Mensch, komm rein, wir feiern hier. Es gibt Torte und alles.«
Er ließ ihn los und führte ihn in die Küche. John musste sich überwinden, sein Jackett nicht abzubürsten, weil er den Eindruck hatte, dass die Hände seines Bruders dort Schmutz hinterlassen hatten.
Die Küche sah noch genauso aus, wie John sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. An der Wand die alte weiße Tapete mit dünnen blauen Streifen und geblümten Zierblumen. Der Klapptisch, den sein Vater bei einer Auktion erstanden hatte, war festlich gedeckt, es gab Sahnetorte, Whiskey, Bag-in-Box-Wein und eine Flasche Birnensaft.
»Hab ich dir nicht gesagt, dass du abhauen sollst?«
Die Stimme seiner Mutter war hart. Sie saß in ihrem Rollstuhl am Tischende und blickte ihn feindselig an, während sie die Torte mit einem großen Schluck Rotwein hinunterspülte.
John ignorierte sie und schaute zu dem Mädchen, das auf dem Küchensofa saß. Auf ihren Ohren saßen rote Kopfhörer mit einem Aufkleber auf einem der Hörer. Dieser war zur Hälfte abgeschabt und stellte einen Schneemann in einer Winterlandschaft dar. Das Mädchen schaute kurz von seinem Tablet auf, dann verschwand es wieder in der Welt auf dem Bildschirm.
»Nicole«, sagte sein Bruder laut, damit sie ihn über den Lärm des Films oder Spiels hörte.
Das Mädchen hob die Kopfhörer an.
»Geh rauf in dein Zimmer. Du kannst die Torte mitnehmen.«
Sie balancierte den Teller mit dem Tortenstück in der einen Hand und das Glas mit Saft in der anderen. Das Tablet steckte in ihrer Hose, als sie die Küche durchquerte und in den Flur hinausging. Billy wartete, bis die Schritte auf der Treppe verklungen und im Obergeschoss eine Tür zugegangen war, bevor er etwas sagte.
»Mutter, ich habe dir das noch nicht erzählt.«
»Was hast du nicht erzählt?«, zischte sie.
»Ich weiß, dass du sauer auf ihn bist, aber ich verdanke es John, dass ich wieder draußen bin. Er hat die Anwältin beauftragt und vorgeschlagen, einen neuen DNA-Test machen zu lassen. Ohne ihn würde ich immer noch bei der Polizei sitzen.«
»Er hat auch dafür gesorgt, dass du überhaupt festgenommen worden bist«, murmelte sie.
»Ja, ja, aber seit zehn Jahren glaubt die ganze Stadt, dass ich dieses Mädel umgebracht habe. Jetzt wissen alle, dass es jemand anderes war, und das verdanke ich ihm.«
»Ist das wahr?«, fragte sie John. »Steckst du hinter dem neuen Test?«
»Formal gesehen war es die Anwältin, die einen neuen DNA-Test verlangt hat«, sagte er. »Aber es war meine Idee.«
»Ach was, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn«, sagte sie und nahm einen weiteren Schluck Rotwein.
Das erinnerte Billy daran, dass sein eigenes Glas leer war und John noch nichts zu trinken bekommen hatte. Er erhob sich, wusch ein Glas ab, das in der Spüle stand, und stellte es auf den Tisch. »Du magst doch Jack Daniels?«, fragte er und schenkte ihnen mindestens drei Finger breit ein.
John nickte und traute sich nicht zu sagen, dass er seit vielen Jahren nur noch schottischen Single Malt trank. Eine der Gewohnheiten, die das von seinem Vater geerbte Geld mit sich gebracht hatte.
»Du hättest sehen sollen, wie Primer aussah, als er gezwungen war, mich gehen zu lassen … ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.« Billy lachte und atmete dabei die Dünste des Whiskeys so stark durch die Nase ein, dass er husten musste. »Oh, oh«, sagte er. »Ich muss so lange eingesessen haben, dass ich kein starkes Zeug mehr vertrage.«
»Du wirst dich schon wieder dran gewöhnen«, sagte John und hob sein Glas.
Billy beugte sich über den Tisch, um mit ihm anzustoßen. »Über eine Sache habe ich mir den Kopf zerbrochen, als ich in der Zelle gehockt und gedacht habe, wie gern ich dich grün und blau schlagen würde«, sagte er. »Woher wusstest du, wo du nach dem Mädchen graben solltest? Ich nehme an, du hast nicht einfach einen Spaten genommen und drauflosgebuddelt.«
»Ein Handy«, antwortete John kryptisch.
Als Billy und seine Mutter ihn verständnislos anblickten, erzählte er ihnen von seinen Recherchen, die ihn in die Nähe des alten Schuttplatzes am Hallerudsleden geführt hatten.
»In der Gegend gehen nicht viele Menschen spazieren, da versteht man gut, warum sie ausgerechnet dort vergraben wurde«, meinte Billy.
John machte sich darauf gefasst, mit Nachfragen darüber bestürmt zu werden, wie es jetzt mit den Ermittlungen weitergehen würde und ob die Polizei irgendwelche neuen Verdächtigen hätte. Aber zu seinem Erstaunen kamen keine. Sein Bruder schien mit ihrer Gesellschaft und der Wärme, mit der ihn der Inhalt seines Glases erfüllte, zufrieden zu sein.
»Kannst du bitte den Fahrdienst rufen, Billy.«
John blickte zu ihrer Mutter. Sie sah bleich aus. Die Wangen, die bis vorhin kräftig rot gewesen waren, hatten ihre Farbe verloren.
»Geht es dir nicht gut, Mama?«, fragte Billy, der die Veränderung auch bemerkt hatte.
»Alles in Ordnung, ich bin nur ein bisschen müde.« Sie lächelte kurz und entblößte zwei Zahnreihen, die eine Behandlung nötig gehabt hätten. Ein paar Zähne im Unterkiefer waren so kaputt und verfärbt vom Rauchen, dass sie wie kleine schmutzig gelbe Steine aus dem Zahnfleisch hervorragten.
Billy telefonierte mit dem Fahrdienst. Dann ging er in den Flur hinaus und rief nach oben. »Nicole, komm runter und sag Oma Tschüs.«
John stand auf und ging zu ihm. »Sie darf nicht erfahren, wer ich bin«, sagte er leise.
Billy lächelte. Es schien ihn zu freuen, dass die Brüder wieder ein Geheimnis teilten. »Keine Sorge. Ich sage ihr einfach, dass du ein alter Freund von früher bist, der in die Gegend zurückgezogen ist.«
Er stieg ein paar Treppenstufen hoch, schwankte und musste sich am Geländer festhalten, um nicht hinzufallen. »Komm jetzt, hab ich gesagt«, schrie er hinauf in den ersten Stock.
Eine Tür wurde geöffnet, und kurz darauf schlenderte das Mädchen herab, den Blick auf das Tablet gerichtet und die Kopfhörer wie eine schützende Membran gegen die Umgebung auf den Ohren. Aus dem T-Shirt war sie längst rausgewachsen, und die schwarze Hose war voller Marmeladeflecken von der Torte.
»Billy, ich muss aufs Klo, bevor ich fahre. Wenn ich mir noch mal in die Hose pisse, stellt die Gemeinde den Fahrdienst ein.« Ihre Mutter war in den Flur gerollt und deutete mit dem funktionierenden Arm auf ihren Unterleib. Zwischen den Oberschenkeln hielt sie den Weinkarton, den sie offenbar ins Heim schmuggeln wollte.
Billy schob die betrunkene Frau auf die Toilette. John beneidete seinen Bruder nicht, der sie aus dem Rollstuhl auf den Sitz verfrachten und danach wieder zurückheben musste.
Nicole ging an ihm vorbei in die Küche. Sie holte einen Löffel aus einer Schublade und kratzte die Reste der Torte von der Platte. John unterdrückte den Impuls, sie davon abzuhalten. Es war nicht seine Aufgabe, sie zu ermahnen.
Als ihre Mutter nach dem Toilettenbesuch wieder in die Küche rollte, nahm das Mädchen die Kopfhörer ab und stand auf. Die Kleine ging zum Rollstuhl und beugte sich vor. John sah, wie sie zusammenzuckte, als ihre Wange die schlaffe Haut im Gesicht ihrer Oma berührte. Der Körpergeruch musste ihr in die Nase gefahren sein.
»Omas Liebling«, sagte die alternde Frau und wühlte mit der gesunden Hand in ihrer Hosentasche. Sie fand einen Zweihundertkronenschein, den sie dem Mädchen gab.
»Was sagt man?«, sagte Billy von der Tür zum Flur aus.
»Danke«, sagte Nicole leise und kehrte zum Tisch und zu ihren Kopfhörern zurück.
Eine Viertelstunde später traf der Fahrdienst vor dem Haus ein. John wich instinktiv vom Fenster zurück und ging ins Wohnzimmer, um nicht gesehen zu werden. Billy und der Fahrer brauchten eine Weile, bis sie den Rollstuhl in den Bus gehievt hatten. Schließlich hörte John, wie die Wagentüren zugeschlagen wurden und der Kies unter den Reifen knirschte.
Er ging zurück in die Küche und sah, dass die Whiskeygläser wieder aufgefüllt worden waren.
»Du bleibst doch noch und schaust das Spiel mit an, oder?«, fragte sein Bruder und leerte sein Glas in einem Zug.
Das Sofa war noch dasselbe, auf dem er und Billy als Kinder oft gesessen hatten. Der Fernseher war jedoch gewachsen. Er maß mindestens fünfzig Zoll und zeigte das amerikanische Footballspielfeld mit all seinen Linien in einer so hohen Auflösung, dass man jeden Grashalm erkennen konnte.
»Scheiße, doch nicht Latimer! Warum stellen sie diese Pfeife auf?«, rief Billy und fuchtelte mit den Armen.
Die New York Giants unterlagen den San Francisco 49ers – und John merkte, dass er den Abschied nicht mehr länger aufschieben sollte. Bei der Geschwindigkeit, mit der sein Bruder den Whiskey in sich hineinschüttete, würde er bald nicht mehr mit ihm reden können. Aber es widerstrebte ihm, das Thema anzusprechen. Das hier war offenbar Billys Vorstellung von einer Wiedervereinigung der beiden Brüder, und es würde ihn wahrscheinlich verletzen, wenn er erfuhr, dass John vorhatte, Karlstad schon an diesem Abend wieder zu verlassen.
»Wie weit kann man denn noch vorbeiballern«, klagte Billy, als ein Field-Goal-Versuch missglückte. »Ich weiß nicht, was in diesem Jahr mit den Giants los ist. Ich glaube fast, die wollen nicht gewinnen.«
»Schaust du dir alle Spiele an?«, fragte John.
Billy grinste stolz und zeigte auf die blauweiße Kappe ganz oben auf dem Bücherregal. »Hab in den letzten Jahren kein einziges verpasst. Bin ein Fan der Giants, seit du und Papa abgehauen seid.«
John fand es merkwürdig, dass sein Bruder den Mann, der ihn verlassen und sich nie mehr gemeldet hatte, noch immer Papa nannte. Billy hatte keine einzige Frage über ihren Vater gestellt, vermutlich wusste er nicht einmal, dass er tot war.
Auf dem Spielfeld hatten die Giants den Ball wieder erobert und griffen an. Sie schafften es bis auf zwanzig Yards an die Ziellinie heran.
»Mit ihr geht es steil bergab«, sagte Billy.
»Meinst du unsere Mutter?«, sagte John und war gespannt, welche Richtung das Gespräch nehmen würde.
»Ja, klar. Du hättest sie zu ihrer Glanzzeit sehen sollen. Die Männer lagen ihr zu Füßen, nachdem ihr verschwunden wart. Sie hat sich durch halb Värmland gevögelt.«
Billy erzählte, dass er aufgehört hatte, in seinem eigenen Zimmer zu übernachten, und nach der Trennung in das Doppelbett ihrer Mutter umgezogen war. In einer Nacht war er aufgewacht, weil sich neben ihm ein nackter Fremder bewegte. Er lag reglos da und zog sich die Decke über die Ohren, um das Stöhnen des Kerls und das Wispern der Mutter nicht zu hören.
Am Morgen danach fuhr sie zur Arbeit, während der Mann im Bett liegenblieb und schnarchte. Billy fürchtete sich so sehr, dass er hinausschlich, die Schlafzimmertür von außen absperrte und zur Schule ging. Es endete damit, dass der Kerl die Tür kaputttrat, nachdem er aufgewacht und ihm klar geworden war, dass er in einem leeren Haus eingeschlossen war. Ihre Mutter war stinksauer gewesen und hatte Billy das Taschengeld gestrichen, bis der Schreiner abbezahlt war.
Billy lachte laut und schüttete den letzten Rest aus der Flasche in sein Glas. Er schien nicht auf Johns Mitleid aus zu sein, sondern betrachtete die Geschichte als eine lustige Kindheitsanekdote.
Als der Bruder in die Oberstufe ging, war ihre Mutter richtig abgestürzt und für ein paar Monate in die Psychiatrie eingewiesen worden. Danach hatte sie sich verändert. Sie trank keinen Schnaps mehr und hielt sich an Wein. Die Männer verschwanden, und hin und wieder malte sie sogar wieder.
»Weißt du, wer dein biologischer Vater ist?«, fragte John.
»Nein, das wollte sie mir nie sagen. Aber ich nehme an, dass es einer von Papas Kumpels war. Sie stand ja auf exotische Typen.« Billy erhob sich ruckartig vom Sofa, sodass der Inhalt aus seinem Glas schwappte und an der Außenseite herabrann. »Jetzt geht’s los.«
Er stellte den Ton des Fernsehers lauter, und im Wohnzimmer erschallte das Geschrei des Heimpublikums der Giants. Es war zum Leben erwacht und hoffte auf eine Wende im Spiel.
Da steckte Nicole ihren Kopf zur Tür herein. »Ich habe Hunger, Papa.«
»In der Gefriertruhe sind Fischstäbchen, die kannst du dir braten«, sagte er. »Willst du dich dann mit dem Teller nicht zu uns setzen?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Der Ton ist zu laut bei euch. Das hört man hier durch«, sagte sie und zeigte auf die Kopfhörer, die um ihren Hals hingen.
Sie wandte sich zum Gehen, da hielt Billy sie zurück. »Hast du nicht etwas vergessen, Nicole?«
Sie ging zum Sofa, nahm die zweihundert Kronen aus der Hosentasche und legte sie auf den Tisch vor ihn hin. »Entschuldigung.«
»Macht nichts, Liebes. Es tut mir leid, dass es so ist. Aber dieses Haus zu unterhalten ist nicht umsonst.«
»Ich weiß, Papa.«
Das Mädchen verschwand in der Küche, und Billy ließ den Schein in die Tasche seiner Jeans gleiten. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher und dem letzten Rest, der noch in seinem Whiskeyglas war. Er leckte den Rand ab, um keinen Tropfen zu vergeuden.
John dachte an die Millionen auf seinem eigenen Bankkonto und daran, wie sie dort gelandet waren. Er wollte seinem Bruder finanziell unter die Arme greifen. Aber das musste auf eine Weise geschehen, die nicht nachzuverfolgen war oder falsch verstanden werden konnte. Billy war so pleite, dass er seiner Tochter einen kleinen Geldschein wegnehmen musste, aber gleichzeitig zu stolz, um von seinem Bruder Almosen zu akzeptieren.
»Findest du, dass sie dick ist?«, fragte Billy, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
John wurde vom plötzlichen Themenwechsel überrumpelt. »Nicole? Nein, wirklich nicht. Was meinst du damit?«
»Ein bisschen mollig ist sie schon, aber so ist sie halt gebaut. Will nur nicht, dass sie deswegen auch noch auf ihr herumhacken.«
»Wird sie in der Schule mies behandelt?«
»Na ja, ganz leicht hat sie es manchmal nicht, glaube ich. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wer ihr Vater ist. Aber sie spricht da nicht gern drüber, und ich will mich da auch nicht einmischen.«
John fühlte sich traurig und wütend zugleich. Die falschen Anschuldigungen, die das Leben von Billy und ihrer Mutter zerstört hatten, schadeten auch noch der nächsten Generation. Das Elend, das er in diesem Haus an jeder Ecke wahrnahm, hatte ein und dieselbe Wurzel: einen unbekannten Täter, der seinen Bruder als Sündenbock ausgewählt hatte, um sich selbst aus der Affäre zu ziehen.
Nicole half es nicht, wenn ihr Vater vom Verdacht auf Mord und Vergewaltigung freigesprochen wurde. Ihre Klassenkameraden hatten schon gehört, wie die Eltern darüber redeten. Sie hatten gelernt, dass Nicole Nerman aus schlechten Verhältnissen stammte. Mit ihr radelte man nicht nach Hause, mit ihr spielte man nicht.
Billy versuchte sein Glas wieder zu füllen und blickte enttäuscht auf die Flasche, als nur noch ein paar winzige bernsteinfarbene Tropfen herauskamen. Er ging in die Küche und kam mit zwei Flaschen Budweiser und einem Flaschenöffner zurück.
»Hab ich was verpasst?«, fragte er und lallte dabei bedenklich.
»Die 49ers haben den Ball vertändelt.«
Billys Miene erhellte sich sogleich, und er drehte den Fernseher noch lauter, bevor er sich aufs Sofa setzte. Oder besser gesagt darauf plumpste. Die Federn unter den Kissen quietschten unter dem Gewicht seiner unkontrollierten Körperbewegungen. Sein Blick war verschwommen, und John merkte, dass sein Bruder kaum noch in der Lage war, dem Spielgeschehen zu folgen. Die Flüche und Freudenschreie stimmten nicht mehr mit dem überein, was auf dem Spielfeld geschah.
John ging zur Toilette, und als er zurückkam, war Billy eingenickt. Sein Kopf lag auf der einen Armlehne des Sofas. Über ihn war eine braune Decke mit einem Loch gebreitet, aus dem weiße Federn ragten. Nicole saß neben ihrem Vater, den Blick auf das Tablet geheftet. Sie musste den Fernseher ausgeschaltet und ihn zugedeckt haben.
John blieb in der Tür stehen und sah sie an, ohne dass sie ihn bemerkte. Die Kleine war noch so jung. Eigentlich müsste Billy sie ins Bett bringen. Nicht umgekehrt.
Er räusperte sich so laut, dass sie ihn durch die Kopfhörer hören konnte.
Sie zuckte zusammen und schaute vom Bildschirm auf. »Ich dachte, du wärst schon weg«, sagte sie und nahm die Hörer ab.
»Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe«, sagte er. »Ich war nur auf der Toilette.«
Er setzte sich auf den Sessel neben dem Sofa und lächelte sie an. »Ich finde, dass du jetzt auch schlafen gehen solltest«, meinte er.
Billy drehte sich auf dem Sofa um und grunzte ein paarmal. Dann wurden seine Atemzüge wieder regelmäßig, und die Decke hob und senkte sich im Takt mit dem geräuschvollen Schnarchen.
John stupste ihn leicht an der Schulter. »Billy, wach auf.«
Das Mädchen blickte den Besucher an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Man kann ihn jetzt nicht wecken«, sagte sie.
John hätte sie gern in den Arm genommen. Das Tablet beiseitegelegt und ihr zugeflüstert, dass ein anderes Leben möglich sei. Irgendwann einmal. Wenn sie älter war und selbst bestimmen könnte. Aber es war nicht seine Aufgabe, sich ihrer anzunehmen. Das Mädchen war zerbrechlich, und er wusste nicht, wie die Reaktion ausfallen würde.
»Ich muss los«, sagte er und bekam ein Nicken zur Antwort.
Auf dem kurzen Weg zum Wagen spürte er, wie der Zorn zurückkam. Jemand war für das hier verantwortlich – und dass das Schwein vielleicht Polizist war, machte die Sache nicht besser. Konnte er sich jetzt wirklich einfach ins Auto setzen? Berlin ins Navi eingeben und nicht mehr in den Rückspiegel gucken?
Er kickte gegen einen kleinen Stein und hörte, wie dieser über den flachen Straßengraben sprang und ein Tier aufschreckte, das in der Dunkelheit gekauert hatte. Egal, welche Entscheidung er treffen würde, es wäre die falsche. Wenn er abhaute, würde ihn das Bild von Nicole auf dem braunen Manchestersofa neben ihrem schlafenden Vater für immer verfolgen. Die beiden hatten ein Recht darauf zu erfahren, wer ihnen das hier angetan hatte. Aber wenn John in Karlstad blieb, würde er sein eigenes Leben wieder hintanstellen, und so hatte er das nicht geplant.
Kurz gesagt: Er brauchte Zeit zum Nachdenken.
Der Geschmack des süßlichen Whiskeys breitete sich in seinem Mund aus, und er bereute es, dass er Billy nicht davon abgehalten hatte, ihm ständig nachzuschenken. Er war müde und eigentlich zu betrunken, um den Chrysler zu fahren. Trotzdem hatte er genau das vor. Aber nicht auf die Autobahn Richtung Süden, sondern zurück zum Hotel. Mit ein bisschen Glück war sein altes Zimmer noch frei.