37.
John hatte die hundert Kilometer von Karlstad nach Charlottenberg in weniger als einer Stunde zurückgelegt. Er hatte wieder Witterung aufgenommen, und diesmal spürte er keine inneren Widerstände. Keine Furcht davor, was er finden könnte. Er wusste, dass Billy nichts mit den Ereignissen auf der Landzunge von Tynäs zu tun hatte, und das war befreiend. Trotzdem war sein Bruder nicht aus dem Fall wegzudenken. Jemand hatte versucht, ihm das Verbrechen anzuhängen, und es war Johns Aufgabe, den wahren Täter zu finden.
Er verließ die Schnellstraße und fuhr weiter über die Landstraße in Richtung Björkbacken. Auf einmal kroch der Wald näher an die Straße heran. Die Bäume neben der schmalen Fahrbahn standen dicht an dicht, und die langen Äste warfen dunkle Schatten vor den Wagen. Obwohl die Uhr noch nicht einmal zwölf Uhr mittags anzeigte, war der Himmel fast schwarz.
Als John an Matilda Jacoby dachte, sah er seine Ermittlungszeichnung vor seinem inneren Auge. Der Name MAJA stand in schrägen Großbuchstaben über dem Giebel von Hugo Aglins Villa in Tynäs. Dort hatte sie zusammen mit Emelie Bjurwall und den anderen Schnöseln gefeiert. Dann war die Spur im Sand verlaufen. Sie war in einer Finsternis verschwunden, in der die einzige Verbindung zur Außenwelt der Leiter von Björkbacken und die verlassene Hütte im Wald gewesen waren.
John bremste ab, um das hässliche Gebäude nicht zu verpassen. Wie in seiner Erinnerung tauchte es hinter einer scharfen Kurve auf. Er bog nach links auf den Kiesweg und fuhr zwischen den Zaunpfählen hindurch, die das Grundstück markierten.
Der Chrysler war nicht das einzige Fahrzeug in der Auffahrt. Neben einem der Obstbäume stand ein schlampig geparkter schwarzer Land Rover mit den Vorderreifen auf dem Rasen. Der Wagen war dreckig und unaufgeräumt, aber das Modell war neu und kostete mindestens ebenso viel wie Johns eigenes. Mit anderen Worten: wohl kaum ein Transportmittel, das ein Junkie ohne festen Wohnsitz benutzte.
»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, murmelte John und watete durch das ungemähte Gras zum rund zehn Meter entfernten Haus.
Er stieg die Treppenstufen zur Veranda hoch und sah, dass die Tür, die er bei seinem ersten Besuch aufgebrochen hatte, durch eine neue mit dunkler Holzverkleidung ausgetauscht worden war. Das Klopfen seiner geballten Faust auf dem dumpfen Holzmaterial hallte zwischen den Bäumen wider.
»Matilda Jacoby«, rief er. »Ich heiße Fredrik Adamsson und komme von der Polizei. Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
Er hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Schritte näherten sich.
»Worüber wollen Sie sprechen?« Die Stimme gehörte einer Frau und klang gedämpft durch die Tür.
»Ich habe ein paar kurze Fragen zu Emelie Bjurwall. Soweit ich verstanden habe, hatten Sie eine Weile mit ihr Kontakt. Es wäre eine große Hilfe für uns, wenn Sie …«
Das Schlüssel wurde umgedreht, und John verstummte. Er wartete darauf, dass sie aufmachte. Als nichts passierte, drückte er selbst die Klinke herab und blickte durch den Spalt. Die Frau war verschwunden. Niemand war im Flur.
Er trat über die Schwelle. Alles schien unverändert. Die Glühlampe an der Decke schaukelte sachte im Wind, und der Rattenkot lag noch immer unter der Hutablage. Der einzige Unterschied war die Temperatur. Beim ersten Besuch war es in der Hütte feucht und eiskalt gewesen, aber jetzt wurde er von einer behaglichen Wärme empfangen. Es roch nach brennendem Holz, und in der Küche knisterte es im Holzofen.
Er durchquerte den Flur. Auf einem der Sprossenstühle am Küchentisch zog eine magere Frau die Knie ans Kinn und blickte aus dem Fenster. Gegenüber saß – genau wie er erwartet hatte – Torsten Andreasson.
»Sind Sie Matilda Jacoby?«, fragte John.
Die Frau antwortete nicht, sondern starrte weiter nach draußen. Sie trug einen weiten Strickpullover mit Polokragen. Die schwarzen Leggings endeten an den Knöcheln, und die Füße steckten in grauen Wollsocken. Auf dem Tisch vor ihr lag ein geöffneter Tabakbeutel der Marke Rolling, daneben eine kleinere Packung mit Blättchen.
»Das stimmt«, antwortete der Leiter von Björkbacken und nickte ihm zu, als wolle er eine Art Vertraulichkeit zwischen ihnen schaffen.
»Torsten, kommen Sie doch mal kurz mit.«
Der Mann zögerte kurz und legte die Hand erneut an den Hals, um den Stimmengenerator zu aktivieren. »Matilda, ist es in Ordnung, wenn ich …«
»Ist okay«, antwortete sie matt, ohne ihn anzusehen.
Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, als habe ihre Antwort ihn nicht überzeugt.
»Sofort!«, brüllte John.
Der Leiter zuckte zusammen, und sie gingen gemeinsam hinaus in den verwilderten Garten.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich dabei bin, während sie mit ihr reden. Wissen Sie, es geht ihr nicht besonders gut und …«
Torsten Andreasson verstummte abrupt, als John ihn am Kragen packte und gegen die verwitterte Fassade presste, sodass sich eines der Bretter löste und ins Gras fiel.
»Was habe ich Ihnen gesagt?«
Andreasson fuchtelte mit den Armen und versuchte sich zu befreien. Aus seinem Mund drang nur ein leises Zischen.
»Habe ich mich nicht verdammt deutlich ausgedrückt, als ich gesagt habe, dass Sie nicht herkommen sollen? Dass Sie keinen Kontakt mit Matilda aufnehmen sollen, bevor ich mit ihr gesprochen habe?«
Der Mann versuchte erneut, etwas zu sagen, aber John ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Halten Sie den Mund! Ich habe keine Lust, mir Ihre Ausreden anzuhören. Wenn Sie nicht sofort von hier verschwinden, werde ich Ihnen diesen verfluchten Apparat aus dem Hals reißen. Haben Sie das kapiert?«
Die Augen des Leiters waren weit aufgerissen, ihm rann der Schweiß über die Stirn. Er keuchte und stöhnte, hob aber schließlich resigniert die Hände. Dann wankte er auf seinen Wagen zu.
»Ich mache mir nur Sorgen um sie«, sagte er, bevor er die Tür des Land Rovers schloss.
John wartete, bis der Mann hinter den hohen Tannen in Richtung des Therapiezentrums verschwunden war. Dann richtete er den Knoten seiner Krawatte und ging zurück in die Hütte. Die Frau saß in derselben Haltung wie zuvor am Küchentisch. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet und stieß den Rauch aus, der sich unter der niedrigen Holzdecke sammelte.
»Danke«, sagte sie.
John holte seinen Polizeiausweis hervor und setzte sich auf den Stuhl, auf dem kurz zuvor Torsten Andreasson gesessen hatte.
»Danke wofür?«, fragte er und hielt ihr die Plastikkarte unter die Nase.
Sie schielte kurz darauf, ohne die Frage zu beantworten. Ihre Augen waren ebenso groß wie die Ringe darunter. Sie schien eine Woche lang weder gegessen noch geschlafen zu haben. Das schwarze Haar war auf der einen Seite abrasiert und auf der anderen mittellang, ihre Wangen waren voller kleiner infizierter Krater.
»Emelie ist also tot?«, fragte sie und inhalierte wieder.
»Ja, aber die Leiche ist erst vor Kurzem aufgetaucht.«
»Wo?«
»Jemand hatte sie in einem Waldstück auf Hammarö vergraben, ein paar Kilometer von dem Haus entfernt, in dem ihr auf der Party wart.«
»Dann habt ihr dieses perverse Arschloch wieder eingebuchtet? Beim letzten Mal hat euch doch nur die Leiche gefehlt.«
John begriff, dass Matilda nicht gerade regelmäßig die Nachrichten verfolgte.
»Er war es nicht«, sagte er, ohne die verschiedenen Wendungen zu erklären, die sich abgespielt hatten.
»Nicht?«, sagte sie erstaunt. »Wer war es dann?«
John blickte sie ernst an, sagte aber nichts. Sie lachte auf, und er sah, dass ihr ein Eckzahn fehlte.
»Ihr habt keine Ahnung und hofft, dass ich euch helfe, stimmt’s? Bist du deshalb den ganzen Weg hierhergefahren?«
Die Hand, die die Zigarette hielt, zitterte, während die andere ständig an den Kratern in ihrem Gesicht herumfummelte. Ihm war klar, dass unter ihrer Haut ein Krieg stattfinden musste. So hatten sich auch die Junkies verhalten, die er während seiner Nachtschichten in New York gesehen hatte.
»Sind Sie auf Entzug?«, sagte er und lehnte sich zurück.
»Ja, was denn sonst? Denkst du, ich hocke mitten im Wald, weil es hier so nett ist?«
»Seit wie vielen Stunden?«
»Bald zweiundsiebzig. Gibt nicht so viel hier draußen, womit man sich ablenken könnte.«
»Verstehe. Kann ich etwas für Sie tun?«
»Du könntest mich in Ruhe lassen, sofern das infrage kommt.«
Sie klang resigniert, aber nicht direkt feindselig. Wenn er vorsichtig agierte und den schnellen Stimmungsschwankungen folgte, die mit der Abstinenz einhergingen, würde er aus ihr herauskriegen, was sie wusste.
»Wie gut kennen Sie Torsten Andreasson?«
Matilda grinste, als fände sie die Frage lustig. »Ihn kennen ist ein bisschen viel gesagt. Er tut nichts lieber, als mir zu helfen, und das nutze ich aus.«
»Auf welche Weise hilft er Ihnen?«
»Er gibt mir Geld. Niedlich, was?« Sie zog ein Bündel Geldscheine hervor, die sie zusammengefaltet unter dem Hosenbund verwahrt hatte. John sah, dass es sich um mehrere Tausend Kronen handelte. »Und dann darf ich hier wohnen«, fuhr sie fort. »Er verwöhnt mich – bringt mir Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Die reine Vollpension.«
»Und was kriegt er dafür?«
»Nichts. Ich hab’s versucht.« Sie lachte erneut, während sie ihre Zigarette in einer Kaffeetasse ausdrückte. »Ich glaube, dass er sich auf eine merkwürdige Art daran aufgeilt.«
»Woran?«
»Daran, mich zu verwöhnen, ohne etwas dafür zu bekommen. Torsten ist ja nicht bescheuert. Er weiß haargenau, dass ich ihn ausnutze.«
»Aber Sie haben keinen Sex mit ihm?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht geil auf die übliche Weise. Ich habe ihm zigmal angeboten, ihm einen zu blasen, aber er will nicht. Ihm gibt das irgendetwas anderes. Es ist wie ein Spiel, das wir spielen. Ich mache einen Entzug und verspreche, mit den Drogen aufzuhören, was ich nie tun werde, und das weiß er. Und er streichelt mir übers Haar und sagt, dass alles gut wird, was natürlich nicht stimmt, und das weiß ich. So geht es eine Weile, bis ich dem Alten genügend Geld abgeluchst habe oder ihn einfach nicht mehr aushalte. Dann nehme ich den Bus zurück nach Stockholm.«
John legte die Arme auf den Tisch und verschränkte die Hände. Es war an der Zeit, sich dem eigentlichen Zweck seines Besuchs zu nähern. »Wann haben Sie erfahren, dass Emelie verschwunden ist?«
Sie drehte sich eine neue Zigarette. »Ein paar Tage nach dieser Party.«
»Und was haben Sie dann getan?«
»Ich saß in der U-Bahn in Stockholm. Ich habe ein Foto von ihr in einer Zeitung gesehen, die auf dem Nachbarsitz lag.«
»Und warum haben Sie sich nicht gemeldet?«
»Weshalb hätte ich das tun sollen? Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, wo sie war, und ich rede nicht gern mehr als nötig mit den Bullen.«
»Wurden Sie nie von der Polizei kontaktiert?«
»Nein. Ich stammte ja nicht aus denselben Kreisen wie ihre anderen Freunde, also war ich wohl nicht so leicht zu finden. Ich schlief immer an verschiedenen Orten, wo gerade ein Platz auf dem Sofa frei war.«
John ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Es gibt Zeugen, die behaupten, Emelie hätte die Party verlassen, um jemanden zu treffen. Stimmt das Ihren Erinnerungen zufolge?«
»Ja.«
»Okay. Wissen Sie, wen sie treffen wollte?«
»Nein.«
»Jetzt kommen Sie schon, Matilda. Emelie und Sie kamen zusammen zu der Party, und mehrere Zeugen haben ausgesagt, dass Sie die letzte Person waren, mit der sie gesprochen hat, bevor sie verschwand. Sie müssen doch wissen, warum sie …«
»Sie wollte mehr Coke besorgen.«
John überlegte kurz. Sie meinte wohl kaum die Limo, die sein Bruder und er früher in sich hineingeschüttet hatten. »Kokain?«, fragte er.
»Ja. Sie hatte sich per Mail mit einem Typen verabredet. Er sollte mit dem Zeug zu uns kommen. Ich hatte ein bisschen was aus Stockholm mitgebracht, aber das hatten wir am Abend davor schon alles verbraucht.«
»Ich verstehe«, sagte John. »Aber Sie haben nie erfahren, wer diese Person war?«
»Nein. Sie hatte einen Spitznamen für ihn, aber ich erinnere mich nicht mehr daran.«
John atmete tief durch und hoffte, dass er dabei auch ein wenig Sauerstoff in die Lungen bekam, nicht nur Tabakrauch. »Das ist wichtig, Matilda. Diese Person konnte nicht identifiziert werden, und Sie sind die Einzige, die uns dabei helfen kann.«
»Hat er sie umgebracht?«
»Das wissen wir nicht. Aber es ist jemand, mit dem wir wirklich reden wollen.«
Die kurzen scharfen Fingernägel hinterließen rote Spuren auf den Wangen, während Matilda sich weiter kratzte. »Wenn ich mich erinnern würde, hätte ich es gesagt. Aber das ist viele Jahre her, es ist nicht so leicht, das noch im Kopf zu behalten.«
»Das verstehe ich. Aber Emelie nannte ihn irgendwie?«
»Ich hab doch gesagt, dass ich mich nicht daran erinnere, verdammt.«
John sah, wie ihr die Entzugserscheinungen zu schaffen machten, und beschloss, von nun an seine netteste Stimme zu verwenden. »Warum sind Sie nicht mit ihr zu dem Treffen gegangen?«, fragte er. »Ich meine, Sie wollten doch auch was von dem Kokain?«
»Sie wollte allein gehen.«
»Okay, und wie wirkte sie?«
»Was?«
»Na ja, war sie unruhig? Ängstlich? Nervös?«
Matilda seufzte und verdrehte die Augen. »Nein.«
John fuhr sich mit der Hand über den Mund und massierte seinen Kiefer. Es war mühsam, einen Junkie auf Entzug dazu zu bringen, sich an Dinge zu erinnern, die zehn Jahre her waren. »Erinnern Sie sich an etwas anderes, das auf der Party geschehen ist? Irgendetwas Außergewöhnliches?«
Matilda dachte nach. »Ja, ich erinnere mich, dass der Vater von dem Typen, bei dem wir gefeiert haben, nach Hause gekommen und total ausgeflippt ist.«
»Der Vater von Magnus? Hugo Aglin?«
»Was weiß ich, wie der heißt.«
»Weshalb ist er ausgeflippt?«
»Wahrscheinlich wegen der Party. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sein Haus voller besoffener junger Leute ist, wenn er heimkommt. Er hat eine Weile rumgestänkert, aber dann ist er wieder gegangen oder hat sich ins Bett gelegt oder so, und wir haben weitergefeiert.«
»Und Sie wissen nicht, warum Emelie allein zu dem Treffen gehen wollte?«
»Nein, weiß ich nicht!« Matilda erhob sich hastig und ging zum Ofen. Sie legte ein paar Holzscheite ins Feuer und starrte in die Flammen. »Wenn ich mit ihr mitgegangen wäre, würde sie jetzt vielleicht noch leben.«
John sah, wie sie sich abwandte, und hörte ein leises Schluchzen. Die Reaktion überraschte ihn. Bislang hatte er keine Anzeichen von Trauer oder Mitleid bei ihr beobachtet. Er ging zu ihr, packte sie an den dünnen Schultern und führte sie zurück an den Tisch. Sie wog kaum etwas. Als wäre sie aus Styropor.
Matilda wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab und fing an, sich noch eine Zigarette zu drehen. Ihre Hände zitterten schlimmer als vorher. John fragte, ob sie Hilfe brauche, aber sie schüttelte den Kopf.
»Könnten Sie mir mehr über Emelie erzählen?«, fragte er. »Haben Sie sich im Therapiezentrum hier in Charlottenberg kennengelernt?«
»Ja.«
»Und wie ging es Ihnen da? Haben Sie sich dort wohlgefühlt?«
»Na ja, wohlgefühlt. Eigentlich wollten wir nur von dort weg, aber es war schon okay. Wären die beiden nicht gewesen, hätte ich mich sofort aus dem Staub gemacht.«
»Die beiden?«
»Emelie und dieses andere Mädchen, Kirsten. Dort wimmelte es von verwöhnten Tussis. Nur die beiden waren anders. Besonders Emelie. Ihren Eltern kam das Geld zu beiden Ohren raus, aber darüber redete sie nicht. Im Gegenteil, sie beschwerte sich oft über sie. Sagte, es sei ihre Schuld, dass sie dort gelandet sei.«
»Warum sollte das die Schuld ihrer Eltern gewesen sein?«
»Das weiß ich nicht. Ihrer Meinung nach hatten sie sie verraten. Sonntags durften die Angehörigen zu Besuch kommen, aber Emelies Eltern waren nie da. Sie hatte ihnen verboten zu kommen. Ihr Vater rief öfter mal an, aber sie wollte fast nie mit ihm reden. Robocop hat versucht, sie zu erweichen, aber sie war tough.«
»Robocop?«, fragte John und ahnte, auf wen sie anspielte.
»Torsten. So nannte Emelie ihn. Er klingt ja wie ein Roboter«, sagte Matilda lachend und sog noch mehr Rauch in die Lunge. »Emelie vergab gern Spitznamen. Wenn wir unter uns waren, nannte sie mich immer Maja. Sie fand, dass das besser zu mir passt.«
Es wurde still, und John wartete ein wenig, bevor er die nächste Frage stellte. »Ein paar Tage nachdem Sie aus Björkbacken entlassen worden waren, sind Sie zu einem Laden in Karlstad gegangen und haben sich Ihre Unterarme tätowieren lassen. Warum haben Sie das getan?«
Matilda senkte die Zigarette, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Es war, als berühre die Frage etwas, das sie seit Langem ganz tief in ihrem Haufen an traurigen Erinnerungen begraben hatte. »Das war Emelies Idee«, sagte sie.
»Wollte sie, dass Sie alle sich eine Bucketlist eintätowieren ließen?« Er verstummte abrupt, als er Matildas Reaktion sah.
»Das war keine Bucketlist«, sagte sie.
John war sprachlos. Die Zeugenaussagen von Magnus Aglin und Emelies Eltern stimmten überein. Ihnen zufolge hatte Emelie behauptet, dass die Tätowierung eine Liste von Dingen war, die sie machen wollte, bevor sie starb.
»Wenn es keine Bucketlist war, was war es dann?«, fragte er.
Matilda sog an ihrer Zigarette. »Das waren Extraleben.«
»Extraleben?«
»Ja.«
»Das müssen Sie mir genauer erklären«, sagte er und beugte sich über den Tisch.
»Wir hatten in Björkbacken abends nichts zu tun, deshalb hockten wir ständig unterm Dach und spielten Videospiele. Sie wissen schon, so Zeug aus der Steinzeit – Zelda, Super Mario und so was.«
John nickte. Er erinnerte sich an die alten 8bit-Spiele und die graue Nintendo-Konsole, in die man die Kassetten drückte. Billy und er hatten zu Weihnachten eine gebrauchte geschenkt bekommen. »Und was hatten die Spiele in Ihren Augen mit den Tätowierungen zu tun?«
»Emelie meinte immer, es sei ungerecht, dass nur Super Mario Extraleben hatte. Wir könnten auch welche gebrauchen, fand sie. Wir hatten ja alle Selbstmordversuche hinter uns, bevor wir nach Björkbacken kamen. Also schlossen wir einen Pakt. Drei Extraleben sollten wir kriegen, genau wie Mario.« Matilda kratzte einen Hautfetzen von einem der Pickel an der Wange, bis es blutete.
John sah keinen Grund, weshalb sie die Geschichte über die Tätowierungen erfinden sollte. Dass Emelie ihre Umgebung angelogen hatte, war nicht weiter erstaunlich. Ihre Eltern wären vermutlich an die Decke gegangen, wenn sie gewusst hätten, dass sie ein Verzeichnis ihrer Selbstmordversuche auf dem Arm trug.
»Also haben Sie sich ein Häkchen in das erste Kästchen tätowieren lassen, weil Sie alle drei bereits ein Leben verbraucht hatten?«, sagte er.
»Ja, genau. Es war eine Art Versprechen, das wir uns gaben. Wenn man so tief in der Scheiße landete, dass man sich wieder umbringen wollte, sollte man sich stattdessen ein Häkchen in eines der Kästchen tätowieren lassen. Erst wenn alle Leben verbraucht waren, war es okay, sich vor den Zug zu werfen.«
John dachte an das Foto, das auf Emelie Bjurwalls Facebook-Seite veröffentlicht worden war, und an die Fotos von Kirsten Wincklers Obduktion. Beide Mädchen hatten ihre Extraleben aufgebraucht. Der einzige Unterschied war, dass Emelies letztes Häkchen nicht tätowiert war, sondern direkt in die Haut geritzt.
Er versuchte den Ablauf der Ereignisse nachzuvollziehen. Das erste Häkchen war von Anfang an da gewesen, aber das dritte hatte Emelie selbst – oder der Täter – in der Nacht ihres Verschwindens eingeritzt. Doch wie war das zweite Häkchen zustande gekommen? Er fragte Matilda, die ausnahmsweise einmal nicht nachdenken musste, bevor sie antwortete.
»Das hat sie in Stockholm machen lassen, ein Jahr nach Björkbacken. Als sie in diese oberschnöselige Schule gekommen war und ein krasses Makeover hingelegt hatte.«
»Makeover?«
»Ja, so wie im Fernsehen, weißt du. In Björkbacken lief sie in schwarzen Jeans und komischen T-Shirts rum. Aber als wir draußen waren … nur noch teure Markenklamotten. Sie sah aus wie ein Model und wollte studieren. Es war, als wollte sie sich selbst und ihr Leben total umkrempeln.« Matilda drückte die Zigarette aus und fingerte am Tabakbeutel herum, um sich die nächste zu drehen.
»Und dann?«, sagte John. »Was ist dann passiert?«
»An der Uni war es härter, als sie geglaubt hatte. Sie musste um jeden verdammten Punkt kämpfen, und während des Wintersemesters habe ich sie überhaupt nicht gesehen. Ich hab sie manchmal angerufen, aber sie ging nie ran. Ich dachte, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Dass ich nicht in ihr neues Leben passte. Aber kurz vor Weihnachten hat sie sich gemeldet.«
»Und wie war sie da?«
»Fertig.«
»Warum?«
»Weil sie fast jede Prüfung verhauen hatte. Anscheinend hatte sie sich wirklich angestrengt, aber es trotzdem nicht hingekriegt. Wegen ihrer Legasthenie kam sie nicht richtig mit.«
»Sie meinen, Emelie hatte eine Schreib- und Leseschwäche?«
»Ja, und sie gab ihren schlechten Genen die Schuld dafür. Ihr Vater hat wohl dasselbe Problem.« Matilda lachte und verteilte ein Häufchen Tabak auf dem Papier. Sie drehte ein Röllchen, befeuchtete den Rand mit der Zunge und streckte die Hand nach dem Feuerzeug aus.
»Wussten ihre Eltern, wie schlecht das Studium lief?«, fragte John.
»Nein, Mann. Die dachten natürlich, ihre kleine Prinzessin wäre eine Musterstudentin. Sie hat sie eiskalt angelogen.«
»Ich verstehe. Und dann? Hatten Sie im Sommersemester Kontakt mit ihr?«
»Sie hing oft in der Wohnung ab, in der ich untergekommen war, und an den Wochenenden übernachtete sie immer bei mir.«
»Und zu dieser Zeit hat sie sich das zweite Häkchen tätowieren lassen?«
Matilda nickte langsam und strich sich die Haare aus dem bleichen Gesicht. »Es ging ziemlich schnell bergab. Sie hat keine Vorlesungen mehr besucht und die meisten Prüfungen sausen lassen. In diesen Monaten haben wir ziemlich heftig gefeiert.«
»Haben Sie auch Drogen genommen?«, fragte John.
»Ja, klar. Ich hatte einen Kumpel, der uns immer guten Stoff besorgen konnte. Er verlangte nichts dafür, wenn man ihm oder einem seiner Freunde auf der Toilette einen blies, aber dagegen hatten wir nichts. Die Typen waren okay, zumindest die meisten.«
»Hatte Emelie denn kein Geld, um dafür zu zahlen?«
»Logisch, und manchmal hat sie bestimmt auch was dafür hingelegt, aber in der Regel nicht.«
»Sie meinen also, dass sie sich lieber prostituiert hat, als für die Drogen zu bezahlen?«
»Oh Mann, sie hat sich doch nicht prostituiert. Wir haben sowieso mit den Typen rumgehangen, die haben den Stoff besorgt, und manchmal sind wir mit ihnen ins Bett gegangen. Ich glaube, dass sie das mochte. Es war, als ob sie …« Matilda verstummte und schien sich in Gedanken zu verlieren.
»Es war, als ob sie …?«, hakte John nach.
»Als ob sie sich selbst runterziehen wollte oder so. Das waren ja ganz andere Typen als die, mit denen sie sonst zu tun hatte. Keine Muttersöhnchen mit Papas Kreditkarte. Kein Wunder, sie hatte ja einen unheimlichen Druck. Sie sollte irgendwann das ganze Unternehmen übernehmen. An dieser Uni krochen ihr alle in den Arsch, und sie hatte beschlossen, Miss Perfect zu sein. Aber meine Kumpels hatten keinen Schimmer, wer sie war. Sie hat immer behauptet, sie würde in einem AckWe-Laden arbeiten, und sich über die miese Bezahlung beschwert. Typischer Emelie-Humor.« Matilda schüttelte den Kopf und blickte zum Fenster hinaus. »Aber irgendetwas hat mit dieser Verwandlung zur Karrierefrau nicht gestimmt. Sie hatte immer alles gehasst, wofür ihre Mutter stand, und jetzt wollte sie auf einmal genauso werden. Das war irgendwie schräg, ich wusste nie so richtig, woran ich bei ihr war.«
John merkte, dass Matilda zögerte. Als hätte die Erinnerung an Emelie ihr eine Geschichte ins Gedächtnis gerufen, die sie vielleicht eher nicht erzählen wollte. Er saß still da und hoffte, sie würde weiterreden.
»Manchmal haben wir in einer Bar gesessen und uns betrunken, und dann hat sie plötzlich auf irgendeinen ekligen Typen gezeigt und mich gefragt, was ich ihr geben würde, wenn sie mit ihm rummacht.«
»Jemanden, den sie kannte?«
»Nein, immer Fremde. Dann ist sie hingegangen und hat es gemacht. Und wenn sie zurückkam, hat sie nur gelacht und weitergetrunken, als wäre nichts. Damals fand ich das cool, aber später habe ich öfter drüber nachgedacht. Das war total krass, ich habe nie kapiert, warum sie das machte.«
John spürte, wie sich das Bild von Emelie Bjurwall veränderte, dunkler und destruktiver wurde. Sie musste viel weiter abgerutscht sein, als die Menschen in ihrer Umgebung gewusst oder zu wissen behauptet hatten.
»War es ein besonderes Ereignis, das sie dazu gebracht hat, sich die zweite Tätowierung machen zu lassen?«, fragte er.
»Das war im Frühling, kurz vor Ostern. Sie hatte sich eine Woche lang nicht gemeldet und ist nicht ans Telefon gegangen, wenn ich sie angerufen habe. Schließlich bin ich zu ihr nach Östermalm gefahren. Sie hat da in einer Wohnung gewohnt, die ihre Eltern für sie gekauft hatten und …«
John sah, wie sich die Frau vor ihm anstrengen musste, um die Worte hervorzubringen. »Und was dann, Matilda?«, sagte er. »Was ist passiert?«
»Sie lag auf dem Badezimmerboden, als ich hinkam. Überall roch es nach Kotze und Alkohol. Ich habe sie hochgehoben und aufs Sofa gelegt. Sie war völlig verzweifelt und hat nicht aufgehört zu weinen. Nach einer Weile hat sie mir erzählt, dass sie am Tag zuvor eine Prüfung in den Sand gesetzt hatte. Dass sie dafür lernen wollte, doch es ging nicht. Danach hat sie sich besoffen und hielt es plötzlich für eine gute Idee, mit ihren Kommilitonen zu feiern. Auf der Party ist sie dann zusammengebrochen, weil irgendeine Bitch gesagt hat, sie würde es nicht mal schaffen, ihren eigenen Namen oben auf dem Antwortblatt richtig zu buchstabieren.«
John merkte, wie der Zigarettenrauch seine Atemwege reizte. Er hätte gern eine Pause gemacht und frische Luft geschnappt. Aber er wollte Matilda nicht unterbrechen. Es kam ihm vor, als habe sie in den vergangenen zehn Jahren nicht ein einziges Mal über ihre Freundin gesprochen.
»Sie wollte einfach nur sterben«, fuhr sie fort. »Ich habe sie unterstützt, so gut ich konnte. Habe gesagt, dass wir uns doch geschworen hatten, nicht aufzugeben, bevor alle Extraleben verbraucht waren. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, sie zu überreden, aber wir sind noch am selben Abend mit der U-Bahn zu einem Typen gefahren, von dem ich wusste, dass er Tätowierzeug hatte.«
»Und der hat Emelies zweites Häkchen gemacht?«
»Ja«, antwortete Matilda und lachte. »Und während wir dort waren, hat Emelies Mutter angerufen. Und was hat Emelie gemacht? Sie ist ganz selbstverständlich rangegangen und hat erzählt, wie toll die Prüfung gelaufen ist.«
John fiel es schwer, in das Lachen einzustimmen, aber er bekam ein Lächeln hin. »Würden Sie sagen, dass Emelie drogenabhängig war?«
»Nein, war sie nicht. Zwischendurch hat sie oft lange nichts genommen. Sie hat mehrmals abgelehnt, wenn ich Stoff besorgt hatte, die undankbare kleine Schlampe.« Matilda lachte wieder und hielt sich die Hand vor den Mund. Der tiefe, verschleimte Husten, der dann kam, hätte genauso gut von einer schwerkranken Lungenkrebspatientin stammen können.
»Wissen Sie etwas über das dritte Häkchen?«, fragte John.
»Nein.«
»Aber Sie kennen das Foto, das am Abend ihres Verschwindens auf Facebook hochgeladen wurde?«
»Ja, das war ja auch in den Zeitungen.«
»Ist an dem Abend irgendetwas passiert, das das letzte Häkchen erklärt?«
Matilda blickte ihn an. »Seid ihr sicher, dass sie es selbst getan hat? Sie wurde doch umgebracht. Vielleicht war das der Mörder.«
»Das stimmt. Aber wenn wir mal kurz annehmen, dass sie es selbst war. Hätte es einen Grund für sie gegeben, das zu tun?«
»Na ja, sie war ja entlarvt worden«, sagte Matilda und deutete mit der Zigarette auf ihn, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, an das sie bislang nicht gedacht hatte. »Das war am Morgen vor der Party.«
»Entlarvt?«
»Ja. Ihre Eltern hatten rausgekriegt, dass sie ihr Studium gegen die Wand gefahren hat.«
»Und wie hat Emelie darauf reagiert?«
»Sie hat behauptet, es wäre ihr egal, aber ich hab gesehen, dass sie brutale Angst hatte.«
»Genügend, um das letzte Extraleben zu verbrauchen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Es war ihrer Mutter sehr wichtig, dass sie auf diese Uni ging«, sagte Matilda mit einer resignierten Geste.
John stellte sich den Druck vor, dem Emelie ausgesetzt gewesen war. Sie hatte sich nicht getraut, ihren Eltern von ihrem Scheitern zu erzählen. Die Erbin durfte keine Risse in der Fassade zeigen.
Er versuchte, noch mehr Erinnerungen an den Abend hervorzulocken, aber Matilda Jacoby hatte nichts Sinnvolles mehr zu erzählen. Schließlich speicherte er ihre Handynummer und reichte ihr seine Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt – ganz egal, was, wenn Sie denken, dass es wichtig sein könnte –, müssen Sie sich unbedingt melden.«
Matilda nickte und blickte aus dem Fenster.
»Wie lange bleiben Sie dieses Mal?«, fragte er und stand auf.
»Mister Hyde«, sagte sie plötzlich.
»Verzeihung, ich kann nicht ganz folgen.«
»Der Spitzname. Die Person, die sie an diesem Abend treffen wollte.«
»Mister Hyde?«, wiederholte John.
»Ja.«
»Wie in dem Buch?«
Sie blickte ihn verständnislos an. »Von einem Buch weiß ich nichts, aber so nannte sie ihn jedenfalls.«
»Sind Sie sicher?«
»So sicher, wie eine alte Crackhure nur sein kann. Aber ich vertraue mir selbst schon lange nicht mehr. Weißt du, der Kopf wird ein bisschen seltsam, wenn man so lange dabei ist wie ich.«
John legte ihr die Hand auf die Schulter und bedankte sich für die Hilfe. Er ging zur Tür, hielt aber inne, als er hörte, dass sie sich vom Stuhl erhob.
»Für zweitausend Mäuse darfst du mit mir machen, was du willst.«
Er drehte sich um und sah, wie sie sich den dicken Pullover über den Kopf zog und zu Boden fallen ließ. Der nackte Oberkörper war abgemagert, und die dünnen Arme waren zerschnitten und voller Narben. Nur das Silikon hielt tapfer die Stellung und ließ ihre Brüste merkwürdig unproportioniert aussehen.
Er ekelte sich. Nicht vor ihr, sondern vor den Männern, die bezahlten, um Sex mit ihr zu haben.
»Scheiß drauf«, sagte sie und griff wieder nach dem Pullover.
»Warte kurz«, sagte er und ging zu ihr hinüber. Er packte ihren linken Unterarm und hielt ihn ins Licht. Unter den blassen Narben waren die drei Kästchen zu erkennen, die mit schwarzer Tinte in die Haut tätowiert waren. In jedem davon befand sich ein Häkchen.
Sie blickte ihn an und lachte. »Meine Extraleben sind schon lange verbraucht.«