38.

Zu seiner Überraschung kam Sissela gleich nach dem Mittagessen wieder nach Hause. Sie habe am Nachmittag nur ein paar Anrufe, die könne sie auch von zu Hause aus erledigen, meinte sie und verschwand im Arbeitszimmer.

Heimer überlegte, ob das schlechte Gewissen seine Frau dazu bewogen hatte, so früh wieder zurückzukommen. So oder so, es gefiel ihm nicht. Tagsüber gehörte das Haus ihm, und es fühlte sich an, als besetze sie seinen privaten Freiraum. Er würde niemals auf den Gedanken kommen, unangemeldet in ihr Büro zu rauschen. Auch wenn sie bei verschlossenen Türen im Arbeitszimmer saß, veränderte sich die Energie, und er kriegte nichts mehr zustande. Die Weinflaschen, die er bei der Netzauktion in der vergangenen Woche gekauft hatte, standen noch immer auf dem Küchentresen und warteten darauf, in den Keller gebracht und sortiert zu werden.

Schließlich war ihre Stimme im Flur zu vernehmen. Erst dachte er, sie würde mit ihm sprechen, aber dann begriff er, dass sie mitten in einem Telefongespräch war. Die Schritte näherten sich.

»Einen Augenblick bitte«, sagte sie und kam um die Ecke. Sie legte das Telefon auf die Kücheninsel und winkte ihn heran. »Die Polizei«, mimte sie und deutete auf das Handy. Laut sagte sie: »Jetzt sind Sie auf Lautsprecher.«

»Danke, das ist gut. Sind Sie auch da, Heimer?«, war aus dem Telefon zu hören.

Heimer kannte die Stimme nicht. Es war nicht Primer. Der Mann hatte einen leichten, aber deutlich wahrnehmbaren Akzent. Er klang wie ein Amerikaner.

»Jawohl, mit wem spreche ich?«

»Meine Name ist Fredrik Adamsson. Ich arbeite bei der Kripo Karlstad und ermittle in Emelies Fall. Ich würde Sissela und Ihnen gern eine Frage stellen, wenn Sie einverstanden sind.«

Heimer blickte zu seiner Frau, die mit den Schultern zuckte. Sie schien auch nicht zu wissen, um was es ging.

»Ich dachte, Bernt Primer leitet die Ermittlungen«, sagte er abwartend.

»Wir hatten hier eine kleine Wachablösung«, antwortete die Stimme neutral.

Heimer wartete auf eine Fortsetzung, doch als diese nicht kam und Sissela nichts einzuwenden hatte, sagte er nur: »Natürlich, wir unterstützen Sie, so gut es geht.«

Fredrik Adamsson sagte etwas, aber die Leitung war kurz unterbrochen.

»Entschuldigen Sie, das Letzte haben wir nicht verstanden«, sagte Sissela.

»Ich sitze im Auto, der Empfang ist nicht so gut«, entschuldigte er sich. »Es mag merkwürdig klingen, aber ich frage mich, ob Sie eine Person kennen, die Mister Hyde genannt wird.«

Sissela blickte zu Heimer und hob die Augenbrauen. Sie wirkte ebenso überrascht wie er.

»Hyde? Wie in Doktor Jekyll und Mister Hyde?«, fragte er.

»Ja, das nehme ich an.«

»Warum fragen Sie?«, erkundigte Sissela sich.

»Der Name ist in den Ermittlungen aufgetaucht«, sagte der Polizist. »Eventuell stand Ihre Tochter mit jemandem in Kontakt, der so genannt wurde. Aber Sie haben nie gehört, wie sie diesen Namen verwendete?«

»Nein, nicht dass ich wüsste«, sagte Sissela. »Natürlich hatten die Kinder Spitznamen füreinander. Magnus Aglin wurde ja Mange genannt, und es kam vor, dass Emelie Emmy genannt wurde, auch wenn ich das nicht mochte. Aber Mister Hyde, das klingt ja eher wie ein Scherz.«

»Wer behauptet denn, dass Emelie jemanden kannte, der so genannt wurde?«, flocht Heimer ein.

»Eines der Mädchen, das an dem Abend auch auf der Party war, bei der Ihre Tochter verschwunden ist. Aber vielleicht erinnert sie sich auch falsch.«

»Wir haben jedenfalls von keinem anderen Mister Hyde gehört als der fiktiven Person«, sagte Heimer und wechselte einen weiteren Blick mit Sissela.

Sie verdrehte die Augen, als wolle sie sagen, wenn dies das Beste sei, was die Polizei zu bieten hätte, wäre das kein vielversprechender Start der neuen Ermittlungen.

»Was denken Sie denn über den Brief, den man uns geschickt hat?«, wechselte sie das Thema. »Ich muss sagen, dass es ein etwas unschönes Gefühl ist.«

Die Stimme am anderen Ende gab nicht sofort eine Antwort. Das Geräusch der Autoreifen auf dem Asphalt und das schwache Brummen des Motors pflanzten sich durch das Telefon fort und drangen in die Küche der Bjurwalls. Heimer begriff, dass der Polizist verwirrt war. Natürlich konnte er nicht wissen, wovon Sissela sprach. Der Brief lag in einem Atlas im Bücherregal versteckt.

»Mein Mann hat ihn Ihnen heute Vormittag vorbeigebracht«, fuhr sie fort. »Haben Sie ihn nicht gelesen?«

»Das muss ein Missverständnis sein«, war schließlich aus den Lautsprechern des Handys zu vernehmen. »Ich habe gerade mit meiner Kollegin gesprochen, die den ganzen Tag auf der Polizeistation war, und sie hat keinen Brief erwähnt.«

Sissela blickte irritiert zu Heimer. Er überlegte, ob er mit den Achseln zucken und verwundert tun sollte, wusste aber, dass es nicht funktionieren würde. Sie kannte seine Einstellung zu dem Brief und hatte bereits verstanden, dass er sie angelogen hatte.

»Ich glaube, wir hatten hier zu Hause ein kleines Kommunikationsproblem«, sagte sie, ohne dem Polizisten im Wagen etwas von ihrem Frust mitzuteilen. Dann erzählte sie ihm von dem Brief.

Er stellte die erwartbaren Folgefragen: Ob der Umschlag frankiert gewesen sei? An wen er adressiert war? Ob per Hand oder mit dem Computer geschrieben? Ob sie irgendeine Ahnung hätten, wer ihn geschickt haben könnte?

Als der Polizist mit den Antworten zufrieden war, bat er sie, den Brief nicht mehr anzurühren. Er würde seine Kollegen bitten, ihn sofort abzuholen, und dafür sorgen, dass er zur technischen Analyse geschickt wurde.

»Du bist unmöglich«, sagte Sissela nach dem Ende des Telefonats. »Wir hatten doch vereinbart, dass wir den Brief der Polizei übergeben.«

»Hör mir zu …«

»Nein, du hörst mir jetzt zu. Wie kannst du mich nur auf solch eine Weise anlügen?«

Heimer ballte die Faust in der Hosentasche. Er hätte die Frage gern zurückgegeben. Sisselas Telefon lag noch auf der Kücheninsel zwischen ihnen. Er musste all seine Willenskraft aufbringen, um ihr nicht die Mails von Hugo Aglin unter die Nase zu halten. Stattdessen versuchte er, seine Selbstkontrolle auszukosten. Sich in so einer Situation zu beherrschen, war eine harte Prüfung, aber er würde es schaffen.

»Entschuldige«, sagte er. »Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Ich dachte nur, wir sollten ein bisschen warten. Diese Person weiß vielleicht wirklich etwas, und da wollte ich sie oder ihn nicht abschrecken, indem wir die Polizei einschalten.«

Sissela blickte ihn ernst, fast traurig an. Er habe sie enttäuscht, erklärte sie. Heimer hatte dieses Wort schon oft von ihr gehört – sowohl ihn betreffend als auch bei Streitigkeiten mit ihren Mitarbeitern. Er war überzeugt, dass es sich hierbei um eine sehr bewusste Formulierung handelte. Würde sie einfach nur wütend, wäre die emotionale Reaktion bei ihrem Gegenüber nicht so stark. Wut war vergänglich. Enttäuschung lebte im Körper fort und sorgte für lang anhaltende Schuldgefühle.

Heimer ging langsam zum Bücherregal und zog den Atlas heraus. Zwischen den Seiten, die Europas Grenzen vor dem Zerfall der Sowjetunion zeigten, lag der Umschlag. Er wollte ihn gerade nehmen und ihr geben, da zog Sissela ihn am Arm.

»Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Wir sollen ihn nicht anfassen.«

Er nickte, schlug den Atlas zu und schob ihn zu ihr hin.

»Ich warte hier, bis die Polizei kommt«, sagte sie und legte demonstrativ beide Hände auf das Buch.