40.
Heimer dachte, er hätte ein Taxi durch das Tor gelassen, das Sissela abholen würde. Aber als er zum Fenster hinaussah, stand der Geschäftsführer vor der Tür und winkte ihm zu.
»Ist er schon da?«, fragte Sissela gestresst und sah aus, als suche sie etwas.
»Kommt Hugo mit nach Paris?« Heimer bemühte sich, unberührt zu klingen. Wenn er nicht genug Zeit hatte, sein Schutzschild anzulegen, tat es immer besonders weh. Er brauchte eigentlich nicht lange, um seine Maske aufzusetzen – er trug sie ja die meiste Zeit ohnehin –, aber mit Überraschungen wie dieser hier konnte er schlecht umgehen.
»Ich brauche meinen Zahlenmeister«, sagte sie. »Wir loten ein paar neue Möglichkeiten aus.«
Ihre Stimme zeigte keine Spuren von Zögern oder Schuld. Eine Anfängerin würde übertreiben. Lang und breit erklären, warum es so wichtig sei, dass ausgerechnet Hugo auf dieser Reise dabei war. Sich vielleicht sogar durch Ausreden verraten, die überprüfbar waren. Aber nicht Sissela. Ihre Lügen kamen so natürlich wie der Regen an Mittsommer.
Wir loten ein paar neue Möglichkeiten aus.
Eine vage Behauptung, die alles bedeuten konnte.
Schließlich fand sie ihren Schal, schob ihn in ihren Handgepäckskoffer und küsste Heimer auf die Wange. Dann verschwand sie hinaus zu dem wartenden Hurenbock mit seiner silberfarbenen Penisverlängerung von Mercedes für ein paar Tage Romantik in der Hauptstadt der Liebe.
Heimer schenkte sich ein Glas Wasser ein und nahm einen großen Schluck. Was noch übrig war, schüttete er sich über den Kopf. Kleine Rinnsale liefen ihm über das Gesicht und in den Hemdkragen.
Nach einhundert Liegestützen und einer Tasse Kaffee war er wieder er selbst. Die Uhr zeigte kurz nach elf Uhr an, der Briefträger musste schon dagewesen sein. Heimer schlüpfte in ein Paar alte Pantoffeln, die unten im Flur standen. Dann öffnete er die Haustür und ging die Auffahrt hinab zum Briefkasten. Eine Maßanfertigung aus Italien, in eine Nische des gemauerten Torpfostens montiert. Er drückte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und öffnete das Türchen, um den Blechkasten zu leeren. Dort lag er, auf einem Katalog für Bootszubehör, von dem er ganz vergessen hatte, dass er ihn bestellt hatte.
Ein neuer Brief.
Er holte ihn ans Tageslicht, um ihn besser zu sehen. Der Absender war zweifellos derselbe wie beim ersten Brief. Die Adresse war mit einer Mischung aus Klein- und Großbuchstaben geschrieben – und mit derselben schwarzen Tinte.
Heimer ließ den Katalog liegen und schloss den Briefkasten wieder ab. Er schaute sich um, als läge der Absender irgendwo im Gebüsch und würde ihn ausspionieren. Es war ein gruseliges, unheimliches Gefühl – und gleichzeitig vollkommen irrational. Der Umschlag war in Karlstad abgestempelt worden, genau wie beim letzten Mal. Wer auch immer ihn geschrieben hatte, war bestimmt nicht hier.
Heimer eilte zurück ins Haus und schloss die Tür hinter sich ab. Das war eine Abweichung von der Routine. Die Haustür blieb sonst immer offen, wenn er tagsüber daheim war. Er lief mit schnellen Schritten die Treppe in den ersten Stock hinauf und legte den Brief auf die Kücheninsel. Dann hielt er inne. Trat ein paar Schritte zurück und betrachtete den Umschlag.
Der Absender hatte nicht eine Woche oder einen Monat abgewartet, um sich wieder zu melden.
Er oder sie hatte genau einen Tag gewartet.
Heimer merkte, wie seine rechte Hand zitterte, als er den Umschlag mit dem Zeigefinger aufriss. Ein Teil von ihm wollte wissen, was in dem Brief stand, während ein anderer ihn in die Mülltonne werfen und so tun wollte, als wäre er nie gekommen. Das Blatt war wie beim letzten Mal einmal gefaltet, und er musste über das Papier streichen, damit es gerade auf der Anrichte lag. Er las:
Loggen Sie sich am Freitag um 19.30 Uhr auf chatta. se ein. Nennen Sie sich Froggy und suchen Sie nach Nadja6543.
Heimer versuchte den Inhalt der wenigen Zeilen zu begreifen. Offenbar sollte er eine Seite im Internet besuchen und mit dem Briefschreiber chatten. So etwas hatte er noch nie gemacht. Allein das Wort sorgte dafür, dass er sich hundert Jahre alt fühlte. Er holte tief Luft und versuchte seinen Puls zu beruhigen, aber sein Herz schlug nur umso heftiger. Es nervte ihn, dass er drei Tage warten musste, bevor er wieder vom Briefschreiber hören würde.
Drei Tage und ebenso viele Nächte.
So lange würde er nicht schlafen können.
Nicht essen.
An nichts anderes denken können als an Nadja6543 und daran, was die Person, die sich hinter diesem Namen verbarg, ihm zu sagen hatte.