42.

Zum ersten Mal seit Jahren hatte Heimer Blasen an den Füßen. Er saß mit dem Laptop auf dem Sofa und winkelte das Bein in einer unbequemen Stellung an, um die Wunde an der Ferse zu begutachten. Die Stelle war rot und schmerzte, wenn er darauf drückte. Neue Schuhe und manisches Laufen waren eine schmerzvolle Kombination. Aber er konnte die Unruhe in seinem Kopf nur zum Schweigen bringen, indem er den Körper an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit trieb.

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. In den letzten Tagen hatte er an nichts anderes gedacht als an den unbekannten Absender. Am Vorabend hatte er die Internetseite aufgerufen, um sich mit der Technik vertraut zu machen. Da waren nur wenige im Chat gewesen. Aber als er den Computer jetzt aufklappte und sich einloggte, sah es anders aus. Die Freitagsstimmung war auf ihrem Höhepunkt und der Chatroom voller Menschen, die sich lieber am Bildschirm austauschten, als sich im echten Leben zu treffen.

Heimer wünschte, der Briefschreiber hätte ihm einen anderen Benutzernamen gegeben. Froggy gab keinen Hinweis auf die Geschlechterzugehörigkeit, und das machte ihn populärer, als er wollte. Innerhalb weniger Minuten war sein Bildschirm voller Nachrichten von HotGuy und Konsorten. Sie wollten wissen, ob er eine Frau sei, und falls ja, ob er Lust auf ein bisschen Spaß habe. Als er sie ignorierte, wurden sie aufdringlicher.

Na komm schon, pics please

Sei nicht so eine prüde F*tze

Heimer hätte ihnen am liebsten geantwortet, dass er ein knapp sechzigjähriger Herr war, der nicht vorhatte, ihnen Fotos zu schicken. Aber das würde nur eine neue Lawine an Nachrichten auslösen, und er hatte genug damit zu tun, den Strom an Besuchern zu beobachten, die sich ein- und ausloggten.

Die Uhrzeit am oberen rechten Rand des Bildschirms kroch voran. 19.26 Uhr, noch vier Minuten bis zur vereinbarten Zeit.

Hast du deine Tage oder was?

Die Nachrichten tröpfelten weiter herein, aber es wurden weniger. Die Kerle, vermutlich in vielen Fällen Männer in seinem Alter, hatten andere gefunden, die sie belästigen konnten.

Er dachte an Sissela und daran, wie wütend sie gewesen war, als er den ersten Brief nicht zur Polizei gebracht hatte. Diesmal würde sie nichts erfahren, wo sie doch so sehr mit ihrem geschäftsführenden Direktor beschäftigt war. Bei dem Gedanken, dass die beiden jetzt nackt zusammen in einem Hotelzimmer in Paris lagen, wurde ihm übel.

Er schielte wieder auf die Uhr. Noch immer keine Nadja6543.

Hatte der Briefschreiber kalte Füße bekommen und alles abgeblasen? Wohl kaum. Wer einen solchen Plan ins Rollen brachte, hatte vermutlich auch die Nerven, um das Ganze durchzuziehen. Heimer merkte, dass er sich eine weibliche Person vorstellte, obwohl sich natürlich genauso gut ein Mann hinter dem Pseudonym verbergen konnte.

Da kam sie, die Nachricht, auf die er gewartet hatte. Nadja musste dem Chat beigetreten sein, ohne dass er es bemerkt hatte. Sie war ebenso wortkarg wie im Brief. Wechseln Sie in den Salon, lautete die Anweisung.

Heimer spürte, wie ihn die Nervosität packte. Was sich in den letzten Tagen so viele Male in seinem Kopf abgespielt hatte, geschah nun wirklich. Er las die Nachricht erneut und suchte den Chatroom namens Salon. Seine Fingerspitzen waren schweißnass, aber schließlich gelang es ihm, die virtuelle Tür zu öffnen.

Nadja6543 wartete dort auf ihn.

Sind Sie allein?

Ja, antwortete Heimer.

Gut. Passen Sie jetzt gut auf.

Heimer nickte vor dem Computer, bis ihm klar wurde, dass Nadja6543 seine Kopfbewegungen nicht sehen konnte.

Mache ich, schrieb er also und merkte, wie er die Luft anhielt.

Es war, als würde der Briefschreiber seine Hände durch den Bildschirm strecken und sie um seinen Hals legen. Nadja6543 hatte die Macht, nicht er.

Der Text tauchte so schnell auf, dass er vorher verfasst und nur in den Nachrichtenkasten kopiert worden sein musste.

In zehn Tagen wirst du 300.000 Kronen in einer Tasche bereithalten. Um genau 14.00 Uhr wirst du sie in das Gepäckfach 109 am Bahnhof von Karlstad legen. Dann wirst du das Fach abschließen, den Schlüssel mitnehmen und dich in den Bus setzen, der um 14.12 Uhr in Richtung Säffle abfährt.

Heimer notierte die Einzelheiten auf einem Block neben der Tastatur. Seine Hände zitterten so heftig, dass er kaum schreiben konnte. Trotz der Absurdität der Situation war er nicht überrascht. Er hatte mehrere Tage und Nächte damit verbracht, darüber nachzudenken, und mit etwas in dieser Art gerechnet.

Er legte den Stift beiseite und die Hände wieder auf die Tastatur.

Kann ich Ihnen vertrauen?, schrieb er.

Die Antwort kam schnell.

Ja.

Heimer strich sich die Haare aus der Stirn. Das beruhigte ihn keineswegs. Die Antwort war so kurz und reflexartig. Nur ein Ja, nicht mehr. Zugleich begriff er, dass ihn mehr Worte vermutlich auch nicht ruhiger gemacht hätten. Er hatte eine Frage gestellt, und Nadja6543 hatte geantwortet. Heimer musste sich damit zufriedengeben.

Woher wissen Sie es?, schrieb er.

Diesmal ließ die Antwort auf sich warten. Der Briefschreiber benötigte offenbar Zeit zum Nachdenken. Der Chatroom war leer, sie waren nur zu zweit. Heimer starrte so eingehend auf den Bildschirm, als könnte er hindurchblicken und die Umrisse der Person auf der anderen Seite erahnen.

Schließlich flimmerte es vor seinen Augen, und er musste sie kurz schließen, um wieder klar sehen zu können. Als er wieder aufschaute, hatte er noch immer keine Antwort erhalten. Er zögerte kurz und schrieb dann.

Wer sind Sie?

Die Antwort kam schnell.

Nadja6543 hat den Raum verlassen.