43.

Damit die Ermittler nicht den Motor laufen lassen mussten – und den Gangstern so ihre Position verrieten –, waren manche der zivilen Polizeiwagen in New York mit tragbaren elektrischen Heizkörpern ausgerüstet gewesen, die an den Zigarettenanzünder angeschlossen wurden. Vor allem während des Winterhalbjahrs, wenn die Polizisten sich bei ihren nächtlichen Aufträgen den Arsch abfroren, waren sie sehr hilfreich. John suchte unter den Sitzen und im Kofferraum, ohne eine Wärmequelle zu finden. Entweder waren die nordischen Bullen abgehärteter, oder sie waren einfach noch nicht auf die Idee gekommen. Er glaubte eher an die zweite Alternative.

In der dünnen Anzugshose bekam er langsam kalte Oberschenkel, und seine Zehen wurden in den Loake-Schuhen nach und nach gefühllos. Er verwarf den Gedanken, das Villenviertel zu verlassen und den Motor eine Weile brummen zu lassen, um die Temperatur im Wageninneren zu erhöhen. Primer war vielleicht noch wach und könnte misstrauisch werden, wenn sich um diese Uhrzeit auf der sonst so stillen Straße etwas tat.

John ließ das Seitenfenster ein paar Zentimeter herab, damit frische Luft über die angelaufene Windschutzscheibe strömte, und blickte auf die Uhr.

23.45 Uhr.

Bislang verlief die Beschattung undramatisch. Primer hatte den größten Teil des Nachmittags und Abends am Computer gesessen und war früh zu Bett gegangen. Die Lichter waren aus, und auch die gesamte Nachbarschaft schien zu schlafen.

John schaltete zum x-ten Mal das Radio ein, aber nachdem er eine Weile zwischen den Sendern hin und her gewechselt hatte, stellte er es wieder ab.

Er erkannte sich selbst nicht wieder.

Wie viele Stunden, Tage und Wochen hatte er so dagesessen? Schutzobjekte zu bewachen oder Verdächtige zu beschatten war in New York Teil des Polizeialltags, und er hatte nie ein Problem damit gehabt. Im Gegenteil, er hatte es gemocht.

Aber jetzt war es anders. Nach allem, was in Baltimore geschehen war, weckten Augenblicke, in denen er allein mit sich selbst war, ohne Ablenkung, ein tiefes Unbehagen in ihm. Er überraschte sich dabei, wie er sich mit den Händen über den Magen fuhr. Als taste er am eigenen Leib nach Trevors Tumoren. Trevors und sein Schicksal waren so eng miteinander verflochten, dass John nicht erstaunt gewesen wäre, wenn auch in ihm der Krebs wuchern würde.

Er holte tief Luft und kippte den Sitz ein wenig nach hinten. Dann sah er einen Lichtschein im Rückspiegel und setzte sich wieder auf. Hinter dem lichten Gehölz hielt ein Taxi. John schaute zum Haus hinüber. Wenn Primer den Wagen gerufen hatte und gleich einsteigen würde, hätte er einen Vorsprung. Seine Sorge ließ nach, als die Beifahrertür aufging und eine Frau ausstieg. Das Taxi war nicht zum Abholen bestellt, sondern brachte jemanden.

Die Frau kam quer durch das Gehölz in Johns Richtung. Er sah, wie sie den Pfützen auswich, die wie kleine Seen auf dem Asphalt glänzten. Zugleich bemerkte er, dass das Taxi nicht davonfuhr, sondern mit laufendem Motor stehen blieb. Er machte sich möglichst klein und wartete, dass sie vorbeiging. Als niemand kam, drehte er sich um und blickte zum Rückfenster hinaus. Die Frau war nicht mehr zu sehen. Sie musste in einem der ersten Häuser in der Straße wohnen und war wohl in einem Garten verschwunden.

Ein leises Klopfen gegen sein Seitenfenster ließ ihn zusammenzucken.

»Sie sind doch wohl nicht eingeschlafen?«, fragte eine vertraute Stimme.

»Nein, wie zum Teufel sollte das bei dieser Kälte gehen?«, erwiderte John.

Mona umrundete den Wagen und stieg ein. Sie reichte ihm eine braune Papiertüte. »Leider war nur noch McDonald’s offen, aber Sie mögen doch sicher Junkfood wie alle anderen Amerikaner.«

»Vorurteile oder Fakten?«

»Sowohl als auch, würde ich sagen.« Mona musterte ihn kritisch. »Sie sehen müde aus. Fahren Sie nach Hause und schlafen Sie ein wenig, ich übernehme. Ich habe den Taxifahrer gebeten zu warten.«

John schaute durch den Rückspiegel auf das schwarze Auto, das bereitstand, um ihn zurück in die Wohnung in Bryggudden mit dem warmen Bett ganz oben im Empire State Building zu bringen. Aber was sollte er dort tun? Schlaflos daliegen und durch das Deckenfenster in den Nachthimmel starren? Er war rund fünfzig Meter von dem Mann entfernt, der Billy das Leben zur Hölle gemacht hatte. Jetzt wegzufahren würde sich wie Verrat anfühlen.

»Ist kein Problem«, sagte er und nahm einen heißen Kaffeebecher aus der Tüte.

Mona fuhr sich mit der Hand durchs feuchte Haar und öffnete ihre Tasche. »Den haben Sie im Keller vergessen«, sagte sie und gab John seinen zusammengerollten Mantel.

»Danke.«

Sie schickte dem Taxifahrer ein Signal mit der Taschenlampenfunktion ihres Handys. Das Taxi fuhr langsam los und verschwand in der Dunkelheit.

»Welches ist es?«, fragte sie und deutete mit einem Nicken auf die Reihe identischer Einfamilienhäuser.

»Das Haus auf der linken Seite, vor dem der blaue SUV steht. Er hat sich den ganzen Abend nicht vom Fleck gerührt.«

»Kein Besuch?«

»Nein.«

John nahm einen Schluck von dem Kaffee und spürte, wie sich die Wärme in der Brust ausbreitete. Er roch an Monas Atem, dass sie Wein getrunken hatte, und unterdrückte den Impuls, sie zu fragen, wo sie gewesen war. Das war ihre Sache, und eigentlich ging es ihn nichts an. Während der kurzen Zeit ihrer Zusammenarbeit hatte er nichts über ihr Privatleben erfahren – abgesehen von dem Flirt mit Tinder-Martin, und den hatte er sich erspioniert.

Er wühlte sich in der Tüte durch Nuggets, Pommes und verschiedene Soßen und entschied sich schließlich für einen Hamburger. Nachdem er ihn ausgewickelt und ein paar Bissen genommen hatte, legte er ihn wieder zurück. Obwohl er seit dem Mittag nichts gegessen hatte – abgesehen von Schokoladenkeksen, die irgendein Kollege im Handschuhfach gelassen hatte –, war er nicht hungrig. Es genügte, am Essen zu riechen, um satt zu werden.

»Ich habe ihn mal gecheckt«, sagte Mona und zog den Notizblock aus der Jackentasche. Sie hielt ihn ans Seitenfenster, damit die Straßenlaterne den Text beleuchtete. »Primer ist seit 1989 an dieser Adresse gemeldet. Er war nie verheiratet und scheint keine Kinder zu haben. Er war in Stockholm auf der Polizeischule und hat einen sechsmonatigen Anwärterdienst in Helsingborg absolviert. Danach ist er zurück nach Karlstad gekommen und hat drei Jahre lang beim Ordnungsamt gearbeitet, bevor er sich Ende der Neunzigerjahre zum Kommissar weiterbildete.« Sie hielt inne und schenkte John eines ihrer kaum sichtbaren Lächeln. »Was jetzt folgt, wird Ihnen gefallen.«

»Was denn?«

»Ab Herbst 2001 wurde er Teil eines Teams, das mit Drogendelikten arbeitete, und blieb dort fast zehn Jahre.«

»Oh verdammt, so ist er also an das Kokain gekommen, das er Emelie verkauft hat.«

»Das wäre eine Theorie«, sagte Mona. »Aber dann muss er das sehr geschickt eingefädelt haben. Es gibt keine Berichte über verschwundene beschlagnahmte Ware.«

»Mister Hyde«, sagte John und schaute zum dunklen Haus hinüber. »Wenn Emelie wusste, dass Primer Polizist war und mit Drogen gedealt hat, könnte sie ihm durchaus diesen Namen gegeben haben.«

»Ja, und es würde mich nicht wundern, wenn er sie mit Sex bezahlen ließ.«

»Was für ein Dreckskerl«, sagte er und dachte daran, wie gut dieses Szenario zu Emelies destruktivem Benehmen passte, von dem Matilda Jacoby ihm erzählt hatte.

Mona blickte wieder auf den Block. »Offenbar war er als Urlaubsvertretung in Anton Lundbergs Abteilung, als Emelie im Sommer 2009 verschwand. Oder er wurde ausgeliehen. Wie auch immer, jedenfalls ging Primer wieder zur Drogenfahndung zurück, als die AckWe-Ermittlungen eingestellt wurden, und blieb dort noch ein Jahr, bevor er wieder bei Lundberg landete.«

John holte sein Handy hervor und scrollte durch die Kontaktliste. Schließlich fand er den Namen, den er suchte, und klickte darauf.

»Was machen Sie?«, sagte Mona.

»Ich rufe Matilda Jacoby an. Wenn es Primer war, den Emelie treffen wollte, kann sie das vielleicht bestätigen.«

Sie riss ihm das Telefon aus der Hand und legte auf, bevor das erste Signal ertönte. »Wir rufen niemanden an, bevor wir wissen, ob er mit dem Tatort in Verbindung gebracht werden kann.«

»Aber Matilda könnte geschwiegen haben, eben weil er ein Polizist ist.«

»Matilda Jacoby ist ein Junkie«, sagte Mona. »Wenn wir ihr heikle Informationen geben, wird sie keine Sekunde zögern, sie an irgendwelche Medien weiterzuverkaufen, sobald die Entzugserscheinungen zu heftig werden und sie Geld braucht. Wir werden mit ihr reden, aber erst nachdem wir die Antwort des Labors in Linköping haben.« Sie gab John das Handy zurück und unterstrich mit ihrem Blick, wie ernst sie das soeben Gesagte meinte.

John wachte auf, als Mona ihm gegen den Oberschenkel schlug. Er nahm den Mantel von seinem Gesicht und schielte auf die Uhr am Armaturenbrett. 2.31 Uhr. Offenbar war sein kurzes Wegschlummern vielmehr ein fast zweistündiger tiefer Schlaf gewesen. Er stellte den Sitz wieder hoch und streckte seine steifen Glieder, so gut es auf dem engen Raum ging.

»Er ist wach und bewegt sich«, sagte Mona und deutete zur Windschutzscheibe hinaus.

John rieb sich die Augen und blickte zu Primers Haus. Im Erdgeschoss brannte eine Lampe im Flur.

»Er ist gerade die Treppe heruntergekommen und in dem Raum mit dem kleinen quadratischen Fenster verschwunden.«

»Das ist das Klo. Er pinkelt bestimmt nur«, sagte John.

»Ja, vielleicht. Aber ich wäre mir da nicht so sicher.«

»Nein?«

»Nein, es sah so aus, als würde er irgendetwas schleppen.«

John sah zu Mona. »Was denn?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht.«

John spürte, wie die Schläfrigkeit aus seinem Körper wich. Sie saßen eine Weile schweigend da, während sie zu erkennen versuchten, was im Haus vor sich ging. Das Licht auf der Toilette ging aus, und eine dunkle Gestalt trat in die Küche. Die Neonröhre über der Spüle blinkte auf, und ein grellweißer Schein erhellte den Raum.

»Er ist angezogen«, sagte John.

Mona nickte grimmig.

Sie sahen, wie Primer die Kühlschranktür öffnete und direkt aus einem Tetra Pak trank – John tippte auf Milch oder Saft. Dann kehrte er in den Flur zurück, ging nach links und verschwand erneut aus dem Blickfeld.

»Was treibt er da?«, flüsterte Mona.

Es fing an zu nieseln. Kurz darauf kam der Polizist wieder in die Küche, jetzt hatte er eine warme Jacke an und schaltete das Neonlicht aus.

Mona ließ sich zurücksinken. »Verdammt, er kommt wirklich noch raus«, sagte sie.

Im nächsten Augenblick ging die Tür auf, und Primer erschien mit zwei Reisetaschen in den Händen auf der Treppe.

Gleichzeitig nahm der Regen an Stärke zu. Er prasselte auf die Windschutzscheibe, und es war schwieriger zu erkennen, was drüben beim Haus geschah. John traute sich nicht, die Scheibenwischer einzuschalten, da er fürchtete, dass Primer das bemerken könnte.

»Sollen wir ihn festnehmen?«

Mona überlegte. »Nein«, sagte sie schließlich.

»Warum nicht? Wenn er wegfährt, steigt das Risiko, dass irgendetwas schiefläuft. Wir sind ja zwei gegen einen und haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite.«

»Wir verhaften keinen Polizeichef, bevor wir ganz sicher sind«, unterbrach sie ihn. »Wenn wir uns täuschen, ist die Hölle los.«

»Wir täuschen uns nicht. Er steht mitten in der Nacht auf und lädt zwei Reisetaschen ins Auto, das sagt doch wohl alles!«

Primer schlug die Kofferraumklappe zu, ließ den Motor an und setzte zurück auf die Straße. Das Scheinwerferlicht glitt über das zivile Polizeifahrzeug, während John und Mona sich duckten. Als sie wieder aufschauten, sahen sie, wie die beiden roten Rücklichter das Wohnviertel verließen.

»Folgen Sie ihm«, sagte Mona.

John wartete, bis Primer außer Sicht war, dann drückte er auf den Anlasser. Er fuhr langsam und mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch die schmalen Straßen und gelangte bald zur Umgehungsstraße. Dort schaltete er die Scheinwerfer ein, drückte fester aufs Gas und nahm den Fuß erst wieder vom Pedal, als sie Primer erneut in Sichtweite hatten.

»Oslo oder Stockholm?«, fragte Mona und steckte das Ladekabel ihres Handys in den USB-Anschluss des Wagens.

John legte den Sicherheitsgurt an, um das Piepen zum Schweigen zu bringen, und konzentrierte sich auf die roten Rücklichter. Die Antwort folgte schon beim ersten Kreisverkehr. Primer bog nach links ab und fuhr auf der E18 nach Norden – in Richtung der schwedischen Hauptstadt.

Mona scrollte zu einem Namen auf der Kontaktliste ihres Handys und rief an. »Hallo, hier ist Ejdewik, Landeskriminalpolizei. Ich würde gern wissen, ob eine gewisse Person einen Flug gebucht hat und wohin der Betreffende reist.« Sie wartete. »Er heißt Bernt Primer und fliegt vermutlich von Arlanda ab«, fügte sie hinzu und las die Personennummer von ihrem Notizblock ab.

Erneutes Warten, während die Person am anderen Ende in den Datenbanken suchte. Zugleich wurde Primer von einem Lastwagen gebremst, und der Abstand schrumpfte rasch. Der Schein der zahlreichen Rücklichter des Lasters erhellte das Wageninnere des blauen SUV. Die Gestalt vor ihnen saß völlig reglos am Steuer. John nahm den Fuß vom Gas und sah zu, dass der Abstand wieder wuchs.

»Okay, wunderbar«, sagte Mona nach langem Schweigen. »Und die Gate-Nummer?« Sie bedankte sich schnell, legte auf und wandte sich zu John um. »Er hat ein Ticket für ein Flugzeug, das um 7.10 Uhr von Arlanda abhebt.«

»Wohin?«

»Nach Bangkok. Mit Zwischenlandung in Wien«, sagte sie und griff sich an die Stirn. »Was für ein verfluchter Idiot.«

Thailand, dachte John. Primer hatte von den Reisen erzählt, die er dorthin unternommen hatte, und von seinen Plänen, sich dort ein Haus zu kaufen, wenn er in Pension ging.

»Wir müssen nicht auf die Laborergebnisse warten«, sagte er. »Das reicht aus, um ihn zu stoppen.«

»Ja, ich weiß«, sagte Mona. »Aber ich will nicht mehr Leute als nötig hineinziehen. Mir wäre es recht, das alles mit meinem Team in Stockholm zu machen. Wir schnappen ihn uns, wenn er am Flughafen parkt.«

Während sie ihre Kollegen weckte und sie nach Arlanda beorderte, versuchte John, an Primer dranzubleiben. Der Nissan hatte den Lastwagen überholt und befand sich ungefähr zweihundert Meter vor ihm. Anfangs kamen ihnen nur wenige Autos entgegen, aber hinter Örebro setzte der morgendliche Berufsverkehr ein und zwang ihren Verdächtigen, langsamer zu fahren.

Mona verband ihr Handy mit dem eingebauten Bluetoothsystem, deshalb kam die Stimme beim nächsten Anruf aus den Lautsprechern.

»Hallo, Einarsson«, sagte sie. »Seid ihr vor Ort?«

»Ja. In Arlanda. Frisch und munter«, sagte eine belegte Stimme, die einem älteren Mann zu gehören schien und alles andere als munter klang. »Bergting und ich haben gerade einen Kaffee getrunken. Wo seid ihr?«

»Auf der E18 in der Nähe von Enköping.«

»Da seid ihr flott unterwegs.«

»Ja, es läuft ganz gut. Wir sollten in ungefähr fünfundvierzig Minuten bei euch sein. Seid nur ihr zwei da?«

»Wladimir ist auch hier. Ich habe ihn gerade zum Radisson-Blu-Hotel geschickt. Er wartet dort in einem Wagen und hängt sich an euch dran, wenn ihr vorbeikommt.«

»Gut«, sagte Mona. »Ich will, dass wir ihn festnehmen, sobald er da ist. Ganz ruhig.«

»Verstanden. Wissen wir, wo er parken wird?«

»Nein, ihr wartet am Gate. Plan B lautet, ihn dort zu schnappen, falls etwas schiefläuft.«

»Klingt gut. Und wie machen wir es mit der Kommunikation?«

»Ich verbinde unsere Handys zu einem Gruppencall, wenn wir uns nähern.«

»Bestens, bis später.«

Mona beendete das Gespräch und rief den Kollegen an, der am Hotel wartete. Wladimir teilte mit, dass er eine gute Sicht auf die N273 habe – die Route, die Primer mit größter Wahrscheinlichkeit wählen würde. Mona gab ihm die Informationen, die er benötigte, dann lehnte sie sich auf ihrem Sitz zurück und schloss die Augen.

John sagte nichts, sondern ließ sie einen Moment ausspannen. Je näher sie Stockholm kamen, desto langsamer fuhr Primer. Der Verkehr war noch dichter geworden und erleichterte das Beschatten. John hatte nur zwei Autos zwischen sich und dem Objekt, dem er folgte. Nach einer Weile ging überraschend der rechte Blinker des SUV an.

»Er fährt ab«, sagte John, und Mona blickte auf.

Sie öffnete die Navigationsfunktion ihres Handys und vergrößerte den Maßstab der Karte, um einen Hinweis zu bekommen, wohin Primer unterwegs war. Dann rief sie die Kollegen an und verband sie zu einem Gruppenanruf.

»Der Verdächtige ist bei Bålsta abgebogen und fährt vermutlich über die N263 nach Arlanda, über Sigtuna und Märsta. Das dürfte dich nicht beinträchtigen, Wladimir, oder?«

»Nein, er muss trotzdem unter der E4 durch und rauf auf die N273, um zum Flughafen zu kommen. Meine Position sollte passen.«

»Gut. Ich war mir nicht mehr ganz sicher, wo das Hotel liegt, aber dann bleiben wir bei unserem Plan.«

»Könnte er bewaffnet sein?«, fragte der dritte Polizist, Bergting, der bislang noch nicht viel von sich gegeben hatte.

»Er könnte seine Dienstwaffe dabeihaben«, antwortete Mona. »Aber die dürfte er ja im Auto lassen.«

Als Primer die schmaleren Straßen erreichte, beschleunigte er wieder. John musste Gas geben, zugleich aber aufpassen, nicht zu nah aufzurücken. Es gab nur wenige andere Autos, hinter denen er sich hier draußen verstecken konnte, und die Strecke war gerade. Sie rauschten durch mehrere kleine Gemeinden, und nach zwanzig Minuten anstrengender Fahrt ergriff Mona wieder das Wort.

»Wir nähern uns Märsta. Er ist jetzt auf der N273 und fährt gleich unter der E4 durch. Was hast du für einen Wagen, Wladimir?«

»Einen schwarzen V70. Kennzeichen Kalle, Erik, Petter – drei, neun, zwei.«

»Verstanden«, sagte sie und deutete zur Windschutzscheibe hinaus.

John machte das blauweiße Radisson-Schild über den Baumwipfeln auf dem Hügel aus. Zu seiner Linken konnte er das Licht der Landebahnen des Flughafens sehen.

Es rauschte in den Lautsprechern, dann war Wladimirs Stimme wieder zu vernehmen. »Ich sehe ihn. Ein blauer Nissan SUV … Und da seid ihr … Ich hänge mich dran.«

»Verstanden«, sagte Mona erneut.

John sah, wie sich der Volvo ein paar Wagenlängen hinter ihnen einreihte. Primer bremste ab, bog in einem Kreisverkehr links ab und fuhr weiter in Richtung Flughafengegend. Er kam an einigen Langzeitparkplätzen vorbei, bog jedoch nicht ab.

»Ich tippe auf das Parkhaus«, sagte Mona und deutete mit einem Kopfnicken auf das rote Gebäude dicht neben den Abflughallen.

Aber da bremste Primer erneut ab und blinkte rechts.

»Der Verdächtige biegt rechts ab«, sagte Mona in das Mikrofon an der Decke. »Er fährt nicht ins Parkhaus. Wir nähern uns einem kleineren Parkplatz. Sollte er dort halten, schnappen wir ihn uns.«

Ihre Stimme hatte eine neue Schärfe, und sie saß vornübergebeugt auf dem Sitz. John nahm den Fuß noch mehr vom Gas.

»Er fährt auch daran vorbei«, sagte sie und blickte auf den Navigator ihres Handys. »Stattdessen biegt er nach links in den Driftvägen.«

»Dort gibt es keine Parkplätze, soweit ich weiß«, war Wladimir aus den Lautsprechern zu hören. »Hat er uns bemerkt?«

Das ist nicht unmöglich, dachte John. Dass Primer in eine kleine, wenig befahrene Straße bog, konnte durchaus ein Test sein, um zu schauen, wie sich die Wagen hinter ihm verhalten würden.

»Lass uns allein, Wladimir, und warte ab«, sagte Mona.

Der Volvo fuhr geradeaus weiter, während John dem SUV folgte.

»Es gibt keine Abfahrten mehr«, sagte er verblüfft. »Wohin ist er unterwegs?«

John nahm den Fuß komplett vom Gas und ließ den Wagen langsam weiterrollen, während sie auf Primers nächsten Zug warteten.

»Der Verdächtige bremst an einem Wachhäuschen«, sagte Mona und las laut vor, was auf dem Schild am Zaun stand. »Personalparkplatz – wie zum Teufel kann er hier Zugang haben?«

John gab wieder Gas, um näher zu kommen, und sah, wie Primer den Arm durch das Seitenfenster streckte. Er hielt eine Karte vor das Lesegerät, und im nächsten Augenblick ging die Schranke hoch.

»Verdammt, er fährt rein«, sagte Mona.

Die Schranke senkte sich hinter Primer, und sie mussten mitansehen, wie die Rücklichter in der Tiefgarage unter dem Terminalgebäude verschwanden.

»Hier Einarsson.« Die tiefe Stimme füllte das Wageninnere. »Ich habe mich umgehört, der Personalparkplatz liegt unter Terminal fünf. Es gibt zwei unterschiedliche Aufgänge. Aufzug oder Treppenhaus. Das Problem ist, dass man nicht an derselben Stelle rauskommt.«

»Ich will, dass ihr beide Alternativen überwacht«, sagte Mona.

»Dann müssen wir uns aufteilen und weg vom Gate.«

Mona überlegte kurz. »Das ist okay, Wladimir übernimmt das Gate für euch. Los jetzt.«

Drei Stimmen antworteten rasch hintereinander, dass sie die Anweisungen verstanden hatten.

John fuhr zu dem Wachhäuschen. Als Mona klar wurde, dass es nicht besetzt war, schlug sie mit der Hand aufs Armaturenbrett. »Verdammt, wir kommen nicht weiter«, fluchte sie und riss die Tür auf. »Ich will dabei sein, wenn sie ihn festnehmen. Bleiben Sie hier, falls ihm einfällt, wieder rauszukommen. Rufen Sie mich an, dann verbinde ich Sie mit uns anderen.«

Während sie um das Terminalgebäude herumlief, um zur Abflughalle zu gelangen, drückte John sich das Headset in die Ohren und schloss sich dem Gruppencall an.

Eine keuchende Stimme nach der anderen berichtete, dass sie ihre Position eingenommen, Primer aber noch nicht gesichtet hätte. Hoffentlich war er noch in der Tiefgarage. An die Alternative – dass er sich unbewacht durch das Terminal bewegte – wollte John nicht einmal denken. Er merkte, wie sich seine anfängliche Irritation in reinste Wut verwandelte. Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie Primer bereits vor seinem Haus geschnappt und diesen ganzen Zirkus vermieden.

Er deaktivierte das Mikrofon seines Handys, damit ihn niemand hören könnte, setzte zurück und hielt etwa fünfzig Meter von der Schranke entfernt. Dann legte er den Vorwärtsgang ein und drückte das Gaspedal durch.

Die rot-weiße Schranke gab leichter nach, als er gedacht hatte. Er blickte in den Rückspiegel und sah Kunststoff- und Metallsplitter hinter sich auf der Straße landen. Neben dem Wachhäuschen begann eine knallgelbe Lampe zu blinken.

Er fuhr in die Tiefgarage hinab und musste abbremsen, um die Seitenspiegel nicht zu beschädigen, als die Fahrbahn sich verengte. Nach rund zehn Sekunden erreichte er die halb volle Parkebene. Die Autos standen vereinzelt zwischen den Säulen, und die Beleuchtung war schwach. Er ließ den Blick schweifen und entdeckte den SUV zwei Reihen weiter vorn.

Primer konnte problemlos ins Terminal gelangt sein, bevor Monas Kollegen ihre Positionen an den zwei Aufgängen erreicht hatten. Der Abstand vom Wagen zum Aufzug und zum Treppenhaus war ungefähr gleich, es ließ sich also schwer sagen, welchen Weg er genommen hatte.

John stellte den Passat auf einen freien Platz hinter einem Minivan. Er schaltete den Motor aus, aktivierte sein Mikrofon wieder und stieg aus.

»Ich glaube, wir haben ihn verpasst«, sagte er ins Headset. »Ich bin in der Garage und sehe den Wagen. Wahrscheinlich ist er hochgelaufen, bevor ihr da wart.«

»Sie sind unten in der Garage?« Monas Stimme klang verwundert.

»Ja.«

»Wie sind Sie da hingekommen?«

»Ich habe einen Weg gefunden«, antwortete John, während er sich langsam Primers Nissan näherte.

»Was meinen Sie damit?«

»Warten Sie mal.«

Er verstummte abrupt und trat hinter einen Betonpfeiler. Als er wieder dahinter hervorlugte, sah er, dass er sich die Bewegung im Wageninneren nicht eingebildet hatte. Primer saß noch hinter dem Lenkrad.

»Der Verdächtige ist noch in der Garage«, flüsterte er.

»Sehen Sie ihn?«, sagte Mona.

»Ja.«

»Hat er Sie gesehen?«

»Ich glaube nicht, nein.«

»Was macht er?«

»Er sitzt hinterm Lenkrad. Es sieht so aus, als warte er auf etwas.«

Aus Primers Bereich der Garage war ein Geräusch zu hören. John schaute wieder hinter dem Pfeiler hervor und sah, dass sich die Fahrertür geöffnet hatte. Primers Hemd spannte sich über seinem Bauch, als er aus dem Wagen stieg.

»Was hat da gescheppert?«, fragte Mona, die das Geräusch offenbar durch das Telefon gehört hatte.

»Er ist gerade ausgestiegen«, sagte John.

»Dann schnappen wir ihn uns, sobald er hochkommt. Sagen Sie uns, welchen Weg er wählt. Die Treppe oder den Aufzug.«

»Verstanden.«

John kontrollierte, dass die Dienstwaffe ordentlich im Schulterholster steckte, ohne Primer aus den Augen zu lassen. Er sah, wie Primer die Reisetaschen aus dem Kofferraum holte, sich den Mantel überstreifte und losmarschierte.

»Er nimmt den Aufzug«, meldete John.

»Danke«, antwortete Mona. »Wir sind bereit.«

Als sich die Aufzugstüren hinter Primer schlossen, eilte John zum SUV und linste durch die Scheiben. Er dachte gerade, dass die Dienstwaffe vielleicht im Handschuhfach lag, als eine Stimme in seinem Ohr losbrüllte.

»Verflucht!«

»Was ist los, Bergting?«, rief Mona.

Es raschelte im Hörer, als würde jemand rennen.

»Ich glaube, er hat mich gesehen und geschnallt, dass ich ein Polizist bin. Er ist zurück in den Aufzug und fährt wieder runter. Ich bin nicht rechtzeitig hingekommen. Überall diese verdammten Leute!«

»Okay, haben Sie das gehört, John? Er kommt wieder runter in die Garage.«

John nahm Monas Stimme wahr, aber sie klang anders. Es dauerte eine Sekunde, bis er begriff, dass das nicht am Handy lag, sondern an ihm selbst. Er kannte das, was sich anbahnte. Lichtblitze und ein pulsierender Schmerz im Hinterkopf. Das Schwindelgefühl kam aus dem Nichts und zwang ihn, sich gegen einen Pfeiler zu stützen.

Das kann doch verdammt noch mal nicht wahr sein.

Er war dabei, einen seiner Anfälle zu kriegen. Während eines laufenden Einsatzes – und in einer Situation, in der alles von ihm abhing. In diesem Chaos aus Gedanken versuchte John, sich selbst zu beschwichtigen. Der Mann im Aufzug war mit größter Wahrscheinlichkeit unbewaffnet. Es hatte John keinerlei Unbehagen bereitet, sich vorzustellen, ihn vor der Villa zu verhaften, und es gab keinen Grund, jetzt etwas anderes zu empfinden. Primer war ein übergewichtiger Polizist, rund sechzig Jahre alt, er selbst ein trainierter FBI-Agent, der obendrein den Vorteil besaß, bewaffnet zu sein. Das war ja geradezu lächerlich. Er würde Mona nie wieder in die Augen sehen können, wenn er jetzt zusammenbrach.

»Hören Sie mich? Sind Sie da?«

Monas Stimme hallte in seinem Kopf wider. Je mehr sie redete, desto höher wurde die Lautstärke. Schließlich konnte er die Worte nicht mehr voneinander unterscheiden. Er hörte nur noch ein schrilles Dröhnen, das seinen Kopf in Stücke sprengen würde, wenn es nicht verstummte.

Er riss sich die Kopfhörer aus den Ohren. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Füße und Beine wurden taub, und bald würde er sich nicht mehr rühren können. John schaute zum Aufzug. Sein Blick war körnig, aber er sah den leuchtenden Pfeil, der anzeigte, dass Primer auf dem Weg nach unten war. Zu ihm.

In einem letzten Versuch, das Kommando über die Lage zu erlangen, riss er die Pistole aus dem Schulterholster. Zu spät wurde ihm klar, dass er damit nur Benzin auf das Feuer aus brennenden Nervenbahnen in seinem Gehirn schüttete. Der Anblick der Waffe in seiner Hand erinnerte ihn an den Container in Baltimore.

Der Schmerz explodierte in seinem Hinterkopf. Irgendwo in der Ferne hörte er das Pling des Aufzugs. Er wandte sich in Richtung Lichtquelle, doch im selben Moment entglitt ihm die Pistole. Er sah, wie die Türen aufgingen und Primer auf seinen Wagen zulief. John befahl seinen Beinen, sich zu bewegen, aber sie gehorchten ihm nicht. Er stand wie festgefroren im Dunkeln neben dem Pfeiler.

Primer entriegelte den Wagen, warf die Taschen auf die Rückbank und setzte sich ans Steuer. John versuchte verzweifelt, ihm etwas zuzurufen, aber auch sein Mund verweigerte ihm den Dienst. Nur ein schwaches Stöhnen kam ihm über die Lippen, als er zusammenklappte und zu Boden sank.

»Was zum Teufel geht da unten vor sich?«

Die Stimmen aus den Kopfhörern, die vor seiner Brust baumelten, wurden vom Motor übertönt, als Primer den Wagen startete und zurückstieß. Das Letzte, das John wahrnahm, bevor das Scheinwerferlicht seine Augen blendete, war Mona, die mit erhobener Waffe aus dem Treppenhaus gerannt kam.

Dann verlor er das Bewusstsein.

»Was ist passiert?«, fragte Mona, während sie eine lange Reihe von Autos überholte.

John saß auf dem Beifahrersitz des Passats, die Stirn gegen das kühle Seitenfenster gelehnt, während draußen der Nadelwald vorbeirauschte. Er sah auf seine rechte Hand herab, die schwer auf dem Oberschenkel ruhte, und krümmte vorsichtig die Finger. Zehn Minuten zuvor hatte er es nicht einmal geschafft, die Dienstwaffe festzuhalten, aber jetzt schienen die Signale seines Gehirns wieder anzukommen.

»Manchmal kriege ich Migräneanfälle«, sagte er und versuchte die Faust zu ballen.

Mona warf ihm einen kritischen Blick zu. »Migräne?«

»Ja, ich habe den Mist, seit ich klein war.«

Es rauschte im Funk.

»Er ist von der E4 runter und fährt weiter nach Osten auf der N77 in Richtung Husby-Långhundra«, sagte eine Männerstimme.

Mona führte das Mikrofon an ihren Mund und drückte auf den Knopf. »Verstanden.«

Nachdem Primer aus der Tiefgarage geflohen war, hatte Mona die Stockholmer Polizei kontaktiert. An einigen strategischen Auffahrten und Kreuzungen nördlich der Stadt wurden Straßensperren errichtet. Was eine ruhige Verhaftung hätte sein sollen, entwickelte sich zu einem umfangreichen Polizeieinsatz, der garantiert Aufmerksamkeit erregen würde. Mona beschleunigte auf 160 km/h, klang aber trotzdem nicht gestresst, als sie sprach. »Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie mich nicht belügen und mir sagen, was wirklich dahintersteckt.«

»Es steckt nichts anderes dahinter«, murmelte John.

»Nicht?«

»Nein.«

Erst als er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, merkte er, dass seine Wangen nass waren.

John konnte sich nicht erinnern, geweint zu haben, aber so musste es gewesen sein. Seine Augen brannten, und der Rotz lief aus seiner Nase. Er mied Monas Blick und starrte nur aus dem Fenster. Er schämte sich für das, was in der Tiefgarage passiert war. Wie er wieder zu Bewusstsein gekommen war, als sie ihn vom Betonboden hochgezerrt hatte, und wie er dann versucht hatte, sich loszureißen – voller Überzeugung, dass sie Ganiru war, der ihn ins Sonnenlicht ziehen und erschießen würde.

»Ich habe keine Ahnung, was Sie erlebt haben, und das muss ich auch nicht wissen. Aber Sie haben mich gerade angefleht, dass ich Sie nicht erschießen soll, und vor der halben Mannschaft geweint. Ich bezweifle, dass eine Kopfschmerztablette dagegen helfen wird.«

»Kommt nicht wieder vor«, sagte John und merkte, wie übel ihm war.

Er drehte sich um und sah nach, ob die McDonald’s-Tüte noch auf dem Rücksitz lag. Er wollte sich übergeben. Seine Selbstverachtung hochwürgen und sie für immer loswerden.

»Wie können Sie sich da so sicher sein?«, fragte Mona.

John murmelte etwas Unverständliches. Danach saß er schweigend da und hoffte, dass sie endlich mit ihrer Fragerei aufhören würde. Zugleich teilte eine Stimme über Funk mit, dass Primer soeben an Husby-Långhundra vorbeigefahren sei und weiter auf der N77 in Richtung Rimbo und Finsta blieb. Drei Straßensperren waren errichtet und sämtliche Auffahrten zur E18 blockiert.

»Wohin fährt er?«, fragte John in dem Versuch, das Thema zu wechseln.

»Wahrscheinlich nirgendwohin, einfach weg von uns.«

»Haben wir jemanden in der Luft?«

»In Kürze wird ein Hubschrauber in Arlanda abheben. Die Piloten haben noch geschlafen«, antwortete Mona und fuhr von der Autobahn ab.

Sie fuhr bei Rot über die Ampel, um vor zwei Linienbussen auf die N77 zu gelangen. Ein dröhnendes Hupkonzert folgte.

Die Morgendämmerung hatte eingesetzt, aber der Verkehr auf den schmaleren Straßen war bislang eher dünn. Die gelblichen Straßenlaternen in den kleinen Dörfern leuchteten noch, und die Menschen in den Häusern bereiteten sich auf einen weiteren Arbeitstag vor.

»Ich habe meine Wohnung fünf Monate lang nicht verlassen, nachdem ein bewaffneter Zugriff schiefgegangen war«, sagte Mona wie aus dem Nichts.

»Aha«, antwortete John abwartend.

»Ein junger Mann ist dabei gestorben. Ich fand, dass es mein Fehler war, und nahm die ganze Schuld auf mich. Dass die internen Ermittler zu dem Schluss gekommen sind, ich hätte mich regelkonform verhalten, hat keine Rolle gespielt – ich wusste, dass dieser Junge noch am Leben wäre, wenn ich mich anders verhalten hätte.«

Der Polizeifunk forderte wieder ihre Aufmerksamkeit. Eine weitere Durchsage, die mitteilte, dass Primer auf Höhe von Norrtälje abgebogen und nach Norden auf der N76 in Richtung Hallstavik und Östhammar unterwegs war. Die Straßensperren an der E18 konnten aufgelöst und an andere Positionen verlegt werden. Man sprach von einem Kneifzangenmanöver, das die Fluchtmöglichkeiten des Verdächtigen abschneiden sollte. Der Hubschrauber hatte sich jetzt ebenfalls der Verfolgungstruppe angeschlossen, und die Piloten gaben durch, dass sie Blickkontakt mit dem Objekt hätten.

Mona sah erneut zu John, während sie zum Überholen ausscherte. Ein Bauer nahm mit seinem Traktor große Teile der Fahrbahn ein und weigerte sich, an den Rand zu fahren.

»Sie müssen die Kontrolle über Ihre eigenen Gedanken zurückgewinnen«, sagte sie.

»Mit meinen Gedanken ist alles in Ordnung«, erwiderte John.

»Ja, na klar, Sie sind ja auch ein FBI-Agent. Das habe ich vergessen. Sie schlucken einfach eine Schmerztablette und machen weiter.«

Er schloss die Augen, um den Sarkasmus fernzuhalten. Es war nervig, jemandem zuzuhören, der ungehemmt auf die empfindlichsten Stellen drückte.

»Wann kommen sie?«, sagte Mona.

»Wer?«

»Die Anfälle? Was triggert sie?«

John dachte insgeheim doch darüber nach. Er war sich wohl bewusst, dass die Schmerzen im Nacken in Stresssituationen kamen, die seine Gedanken zur Scheinhinrichtung im Hafen von Baltimore zurückführten. Zu dem Moment, in dem er sicher gewesen war, dass sein Leben vorbei war.

»Fünf Monate nach dem Tod dieses Jungen war ich zurück im Revier«, fuhr Mona fort. »Allein der Gedanke, wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen, hat mir Angst gemacht, also habe ich um eine Versetzung in den Innendienst gebeten. Fast ein Jahr habe ich hinter einem Schreibtisch gehockt, bevor ich beschlossen habe, das Kommando über meinen eigenen Kopf zu übernehmen.« Sie zögerte kurz, als müsste sie nach den richtigen Worten suchen. »Ich kann nicht erklären, woher die Kraft kam, aber eines Tages wurde mir klar, dass ich es nicht ungeschehen machen konnte. Ich würde mich immer hassen, weil der Junge gestorben war, und das war okay. Ich konnte damit leben. Am nächsten Tag sprach ich mit meinem Chef. Eine Woche später bekam ich meine alte Stelle zurück und habe den ersten Einsatz geschafft, ohne Panik zu kriegen.«

John presste den Lederbezug des Sitzes mit der Hand zusammen. Er wusste, worauf sie mit ihrer Geschichte hinauswollte. Aber war sie überhaupt wahr? Er bezweifelte das. Wahrscheinlich versuchte sie nur, ihn dazu zu bringen, sich für sie zu öffnen. Er hatte dieselbe Methode benutzt, um sich ein paar Typen aus Ganirus Bande zu nähern. Hatte von einem abwesenden Vater in der Kindheit geschwafelt, obwohl sein eigener in Wirklichkeit anwesender gewesen war, als er es sich manchmal gewünscht hatte.

»Es tut mir schrecklich leid, dass ich es vermasselt habe. Es war reines Pech, dass die Migräne ausgerechnet heute kam.«

Mona löste eine Hand vom Lenkrad und hob sie zu einer beschwichtigenden Geste. »Wie ich schon sagte, ich weiß nicht, was Sie mit sich herumtragen. Aber eines weiß ich: Sie entscheiden selbst, wie Sie sich dazu verhalten. Was passiert ist, ist passiert, und Sie können daran nichts mehr ändern. Sie können es nur beim nächsten Mal anders machen. Und die Kraft dazu haben Sie. Die ist da. Sie haben sie nur noch nicht gefunden.«

John spürte erneut eine Woge der Übelkeit und ließ die Scheibe ein paar Zentimeter herab. Er konnte den Würgereiz unterdrücken, bis Mona scharf bremste und an einer Kreuzung hielt. Da ging es nicht mehr. Er riss die Tür auf, wankte zum Straßengraben und erbrach das bisschen, was sich in seinem Magen befand.

»Gibt’s was Neues über Funk?«, fragte er, als er sich kurz darauf wieder in den Wagen setzte.

Mona schaute ihn mitleidig an. Er hoffte innerlich, dass das Psychologisieren bald vorbei war, damit sie sich auf Primers Festnahme konzentrieren konnten.

»Es ist okay, ich musste das nur loswerden«, sagte er und versuchte sowohl sich als auch Mona davon zu überzeugen, dass das stimmte.

Ein Volvo Kombi mit Blaulicht und Sirene überholte sie mit hoher Geschwindigkeit. Mona wandte ihre Aufmerksamkeit dem Wagen zu und drückte aufs Gaspedal.

»Primer ist in Richtung Älmsta abgebogen. In ein paar Minuten kommt er zu unserer Sperre«, sagte sie.

Sie folgte den Kollegen im Streifenwagen. Zu beiden Seiten des Passats sausten hohe Nadelbäume vorbei, und John klammerte sich an dem Griff über dem Seitenfenster fest, um in den Kurven nicht aus dem Sitz zu rutschen. Dann öffnete sich die Landschaft wieder. Der Wald wich Wiesen und ausgedehnten Feldern. Auf der anderen Seite eines Ackers ein paar Hundert Meter vor ihnen sah er die Stelle, auf die sie zurasten.

Es war, als wäre ein Raumschiff mitten in der Idylle gelandet. Drei Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht plus weitere zwei Zivilfahrzeuge standen in einem Kreis um etwas, das Primers Nissan sein musste.

»Wir greifen zu«, drang es rauschend aus dem Funkgerät.

Sie warfen einander einen raschen Blick zu, bevor Mona auf den Knopf drückte. »Verstanden. Wir sind gleich bei euch.«

Als sie bei der Sperre angelangt waren und Mona gerade aus dem Wagen steigen wollte, klingelte ihr Handy.

»Da muss ich rangehen«, sagte sie und trat ein paar Schritte zur Seite.

John zögerte ein paar Sekunden, öffnete dann aber die Tür und trat auf den Asphalt. Er ging langsam auf Primers Auto zu, vor dem drei uniformierte Polizisten mit gezückten Waffen standen. Ein übergewichtiger Mann mit weißem Hemd und gebrochener Haltung kroch aus dem Wageninneren.

»Er ist es«, sagte Mona, die sich unauffällig von hinten genähert hatte. »Linköping ist fertig mit der Analyse. Es war tatsächlich Primers Sperma auf den Felsen.«