45.

Heimer sah sich um. In der Bürolandschaft im Keller der Polizeistation gab es viele Schreibtische, aber wenige Menschen. Er dachte an eine dieser beliebten Zombieserien, die mal im Fernsehen gelaufen war. Es fühlte sich an, als stehe die Apokalypse bevor und gleich käme eine Horde schlurfender blutrünstiger Wesen herein. Er schielte zu Sissela hinüber. Sie las ihre Mails am Handy und schien die groteske Umgebung gar nicht zu bemerken.

»Wir haben hier unten einen Feuchtigkeitsschaden, deshalb ist es so leer«, erklärte die Beamtin, die sie an der Rezeption empfangen hatte.

Sie hatten sich schon einmal getroffen, als sie diesen verdammten Brief bei ihnen zu Hause in Tynäs abgeholt hatte. Sie hieß Mona Ejdewik und war die neue Ermittlungsleiterin, die Bernt Primer abgelöst hatte. Heimer versuchte ihr Alter zu schätzen. Die Frau war definitiv älter, als er zunächst geglaubt hatte. Die Hände entlarvten auch sie. Das hatte sie mit Sissela gemeinsam. Straffe Körper, aber schlaffe und faltige Hautpartien auf den Handrücken.

Sie brachte ein Tablett mit den obligatorischen Kaffeetassen und stellte es vor ihnen auf dem Schreibtisch ab. Heimer sah, wie Sissela von ihrem Handy aufblickte und kontrollierte, ob die Milch dabei war. Und das war sie. Kleine dreieckige grüne Tetra Paks lagen zusammen mit Streuzucker in naturfarbenen Papierröhrchen in einer Schale.

Heimer ahnte, dass man ihnen etwas Wichtiges mitteilen würde. Die ganze Situation strahlte Wichtigkeit aus. Dass sie hier im Keller der Polizeistation saßen und nicht zu Hause auf dem Sofa. Wie bedächtig Mona die Tassen zu ihnen hinschob und wie geduldig sie wartete, bis Sissela das Handy in ihrer Handtasche verstaut hatte. Und die Sprache natürlich. Der formelle Ton, den die Menschen zu Hilfe nahmen, wenn entscheidende Dinge erzählt werden sollten. Wie ein Nachrichtensprecher nach einem tragischen Unfall, zwei Oktaven tiefer als normal auf der Stimmenskala.

»Danke, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich möchte Sie auf den neuesten Stand der Ermittlungen bringen«, sagte sie.

»Das freut uns«, sagte Sissela. »In den letzten Jahren waren die Informationen seitens der Polizei ja eher spärlich.«

Heimer hoffte, dass der Kommentar die angenehme Stimmung nicht kaputtmachte. Es störte ihn, dass Sissela bei jeder neuen Begegnung mit einem Menschen das Bedürfnis hatte, ihrem Gegenüber Schuldgefühle zu vermitteln. Die neue Ermittlungsleiterin ließ sich jedoch nicht zu irgendwelchen Entschuldigungen verleiten, sondern fuhr in ihrem formellen Ton fort.

»Ich werde Ihnen gleich vertrauliche Informationen mitteilen und bitte Sie daher, alles, was in diesen vier Wänden gesagt wird, für sich zu behalten. Können wir uns darauf einigen?«

»Ja«, antwortete Heimer, bevor seine Frau irgendwelche Gegenfragen stellen konnte.

»Gut. Dann ist es meine Aufgabe, Ihnen mitzuteilen, dass die Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen eine Person ausgestellt hat, die unter dem dringenden Verdacht steht, den Mord an Ihrer Tochter verübt zu haben.«

Es wurde vollkommen still. Heimer spürte, wie sein Puls raste. Sissela legte die Milchpackung, die sie kurz zuvor genommen hatte, zurück in die Schale.

»Wer ist es?«, fragte sie mit einer Stimme, die in seinen Ohren fester klang, als sie sich vermutlich fühlte.

»Bevor ich Ihnen das sage, ist es wichtig, dass Sie das Gesamtbild verstehen. Früher oder später werden die Journalisten begreifen, wer verhaftet wurde, und dann wäre es klug, denke ich, wenn Sie verreisen oder sich zumindest abschotten würden.«

Sissela musterte sie mit ihrem durchdringenden Blick, von dem Heimer wusste, dass er den Mitarbeitern von AckWe Magenkrämpfe verursachte. »Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, Frau …?«

Eine weitere Machtdemonstration. Seine Frau vergaß niemals den Namen einer Person, die sie getroffen hatte.

»Ejdewik.«

»Mein Mann und ich sind voll und ganz in der Lage, uns um uns selbst und um die Journalisten zu kümmern, die nicht gewillt sind, unser Privatleben zu respektieren. Jetzt wollen wir einfach nur wissen, wer uns Emelie genommen hat.«

Heimer legte Sissela die Hand auf die Schulter, um zu zeigen, dass er hinter jedem ihrer Worte stand. Dies war ein Gespräch zwischen zwei Frauen, die es gewohnt waren, ihren Willen durchzusetzen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu schweigen und seine Loyalität zu zeigen.

Mona lehnte sich zurück. Als müsste sie Anlauf nehmen, um die Worte über die Lippen zu bekommen. »Die festgenommene Person ist Bernt Primer.«

Heimer ließ die Schulter seiner Frau los. Wer war diese Frau, die ihnen gegenübersaß? War sie überhaupt Polizistin oder nur eine Irre, die es geschafft hatte, sich irgendwie Zutritt in die Polizeistation zu verschaffen? Bernt Primer war im Laufe der Jahre mehrmals bei ihnen zu Hause gewesen. Er hatte auf Fotos für die Zeitungen posiert und davon gesprochen, wie wichtig es sei, dass der Fall gelöst würde. Wenn man ihn tatsächlich verhaftet hatte, war das eine unfassbare Ironie.

»Doch wohl nicht der Bernt Primer?«, sagte Sissela, die als Erstes die Sprache wiederfand.

»Doch, leider«, antwortete Mona.

»Aber er hat doch bis vor Kurzem noch die Ermittlungen geleitet?« Ihre Stimme klang jetzt dünner. Nicht einmal Sissela Bjurwall ließ das Gehörte unberührt.

Mona nickte ernst und breitete niedergeschlagen die Arme aus. Als wollte sie im Namen des gesamten Teams um Entschuldigung bitten.

»Sind Sie sicher?«, sagte Sissela.

»Wir haben starke technische Beweise.«

Sissela schüttelte den Kopf. Heimer verstand, was seine Frau dachte. Das hatte die Polizei schon einmal gesagt. Aber diesmal wählte sie nicht die Konfrontationsstrategie. Vielleicht war sie zu mitgenommen von der Nachricht, um Druck auf die neue Ermittlungsleiterin auszuüben. Wenn Sissela nicht die Kraft hatte, die notwendigen Fragen zu stellen, musste er das übernehmen.

»Worin bestehen die technischen Beweise?«, fragte er und räusperte sich. Er hatte so lange geschwiegen, dass seine Stimme ganz eingerostet klang.

»DNA. Bernt Primers DNA stimmt mit der Körperflüssigkeit überein, die in der Nähe von Emelies Blut gefunden wurde.«

»Jetzt bin ich verwirrt«, sagte Heimer. »Das hatten Sie doch auch bei Billy Nerman gesagt.«

Mona blickte ihn ernst an. »Wir vermuten, dass Bernt Primer seine eigene DNA-Probe mit der von Billy Nerman ausgetauscht hat, um ihm das Verbrechen anzuhängen. Wir haben die Tests noch einmal durchgeführt und festgestellt, dass es eine Übereinstimmung mit Primers DNA gibt.«

»Also war er dort?«

»Ja, er war vor Ort, so viel wissen wir sicher.«

Das Schwindelgefühl kam wie aus dem Nichts, und der ganze Raum fing an, sich zu drehen. Das Licht der Neonröhren glitt an den Wänden herab und schuf einen unangenehmen Haloeffekt. Heimer klammerte sich am Tisch fest, um nicht vom Stuhl zu fallen. Die Handbewegung war so hastig, dass sie unnatürlich wirkte. Seine Frau bemerkte es, die Polizistin auch.

»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, sagte Mona.

Heimer schüttelte den Kopf. »Nein, danke, es geht schon. Und was sagt er?«

»Bisher haben wir ihn erst einmal vernommen. Wir werden noch eingehender mit ihm …«

»Hat er gestanden?«, unterbrach sie Sissela.

»Er hat zugegeben, dass er sich an dem fraglichen Abend auf der Landzunge von Tynäs befunden hat.«

»Okay. Aber er hat nicht gestanden, was er Emelie angetan hat. Wollen Sie uns das sagen?«

»Nein, noch nicht. Aber wir haben wie gesagt gerade erst damit begonnen, ihn zu vernehmen.«

»Ich muss ihn treffen«, sagte Heimer.

Mona blickte ihn erstaunt an. Sissela wirkte auch überrascht, aber zugleich ein wenig irritiert – auch wenn sie das gut verbarg. Heimer hatte gar nicht vorgehabt, das laut auszusprechen. Die Worte waren ihm einfach entschlüpft. Ein Reflex, den er nicht steuern konnte.

»Das geht leider nicht«, sagte die Polizistin. »Aber Sie werden natürlich laufend von uns darüber informiert, wie sich die Ermittlungen entwickeln.«

Heimer wäre am liebsten aufgesprungen und hätte losgebrüllt. Plötzlich erschien es ihm völlig sinnlos, dreihunderttausend Kronen in einem Schließfach am Bahnhof zu hinterlegen. Er musste mit Primer reden. Sofort! Aber genau in solchen Momenten musste er sich besonders beherrschen, um nicht zum Opfer seiner eigenen Gefühle zu werden.

Sissela hatte ihn mit einem kurzen Blick davor gewarnt, auf dem eingeschlagenen Weg zu bleiben. Er erinnerte sich noch gut an seinen Fausthieb gegen die Gipswand in Primers Büro und die darauffolgende Unterredung. Das wollte er nicht noch einmal erleben. Wenn er die Chance bekommen wollte, dieses Aas zu treffen, musste er so ruhig und ausgeglichen wirken wie möglich.

»Ich glaube, ich hätte doch gern ein Glas Wasser«, sagte er.