50.
Am zweiten Tag in Folge parkte John seinen Wagen an derselben Stelle in der Nähe seines Elternhauses. Eigentlich hätte er einen neuen Platz finden sollen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber jetzt, am Abend und in der Dunkelheit, hatte er keine andere freie Lücke gefunden.
Auf dem Weg zum Haus dachte er an den Tag zurück. Mona war strahlender Laune gewesen. Nach dem Durchbruch im Fall hatte es viel Lob vom Staatsanwalt und dem Walross gegeben. Primer hatte nach der Begegnung mit Emelies Vater eine Panikattacke erlitten und die ganze Nacht kein Auge zugetan. Der herbeigerufene Arzt hatte sie gebeten, mit weiteren Vernehmungen mindestens einen Tag lang zu warten. Die Unterbrechung gab John die Zeit, die er brauchte, um zwei Kartentelefone zu kaufen. Seinem Bruder eines davon zu geben war der sicherste Weg, weitere gefährliche Anrufe in der Zentrale der Polizeistation zu vermeiden.
Billy hatte wirklich ein einzigartiges Talent, sich und andere in Schwierigkeiten zu bringen. So war es schon immer gewesen, und daran schien sich im Laufe der vielen Jahre, in denen die Brüder voneinander getrennt gewesen waren, nichts geändert zu haben.
Als John auf den Hof kam, hörte er in der Werkstatt das typische Geräusch eines Hammers, der auf Blech traf. Er erinnerte sich, das Billy einen geschrotteten Impala erwähnt hatte. John hatte geglaubt, es handle sich um eine Lüge, um ihn loszuwerden, aber vielleicht gab es ja wirklich ein Auto, das repariert werden musste.
Erst wollte er an die Tür klopfen, die in einem der Garagentore eingefügt war, aber dann fiel ihm ein, dass sein Bruder bestimmt einen Gehörschutz trug. Deshalb ging er einfach hinein.
Billy stand über die Motorhaube eines Wagens gebeugt. Als er aufblickte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er legte den Hammer auf die Werkbank und nahm den Gehörschutz ab. »Kaum zu fassen, wie belämmert manche Leute sind«, sagte er. »Eine so schöne Karre, und dann fährt der Trottel volle Kanne rückwärts gegen eine Straßenlaterne. Und das nicht gerade langsam.« Billy deutete auf die verbeulte Stoßstange des Wagens.
John ging um den Wagen herum, um den Schaden zu begutachten. Das Blech war in der Tat übel zugerichtet. »Du kannst die Beulen doch nicht rausklopfen, oder?«, sagte er.
»Werden wir schon sehen«, sagte Billy und wirkte zufrieden. »Ein neues Originalteil ist nicht billig, einen Versuch ist es also auf jeden Fall wert.«
Dieses Mal war sein Bruder viel entspannter, nicht so auf der Hut wie beim letzten Besuch. Hinter ihnen war ein plötzliches Wumm zu hören, und John drehte sich um. Nicole war von einem Reifenberg herabgesprungen und winkte ihm zu, während sie zu dem brummenden Kühlschrank ging. Die roten Kopfhörer saßen wie immer auf ihrem Kopf und waren ans Tablet angeschlossen.
»Sie hängt gern hier draußen rum, wenn ich abends noch arbeite«, erklärte Billy.
Die Kleine beugte sich vor und schnappte sich eine kalte Coca-Cola. Sie schlug den Verschluss an der Kante der Werkbank ab und hob die Flasche an die Lippen.
»Das reicht dann für heute Abend, Nicole. Ab jetzt keine mehr.«
Sie schaute zu Billy auf und nickte kurz, bevor sie sich wieder in ihren Bildschirm vertiefte.
»Möchtest du auch was trinken?«, fragte Billy.
»Nein, danke«, sagte John. »Ich bleibe auch nicht lange. Wollte dir nur das hier geben.«
Er reichte ihm den Karton mit dem einen Telefon. Sein Bruder nahm die Verpackung entgegen und wog sie in der Hand.
»Es hat eine Karte, und ich habe meine Nummer eingespeichert. Wenn du mich anrufen willst, nutze diese Nummer. Und kontaktiere in Gottes Namen niemanden sonst mit diesem Telefon.« John hörte, wie mahnend er klang, und machte sich darauf gefasst, dass sein Bruder gleich wieder sauer würde. Aber stattdessen nahm Billy das Handy aus der Verpackung, musterte es kurz und legte es dann in eine der vielen Schubladen der Werkbank.
»Hast du hier draußen eine Toilette, die ich kurz benutzen könnte?«, fragte John und sah sich um.
»Er ist tot, oder?« Billys Antwort verwirrte ihn. Er blickte seinen Bruder an. Seine Augen wirkten seltsam glasig, und er schien ganz woanders zu sein.
»Tot?«, sagte John. »Von wem redest du?«
»Papa. Er ist doch tot, oder?« Billy sah ihn an.
John wurde klar, dass es so war, wie er es sich gedacht hatte – ihre Mutter hatte nichts gesagt. »Ja, er ist tot. Er ist vor vier Jahren gestorben.«
Billy schien nicht auf die Antwort zu reagieren. Er packte nur seinen Hammer und setzte den Gehörschutz wieder auf. »Vielleicht ist es besser so«, sagte er. »Um aufs Klo zu gehen, musst du rüber ins Haus. Die Tür ist offen, und du weißt ja, wo es ist. Jetzt muss ich weiterarbeiten.«
John verabschiedete sich und verließ die Werkstatt, begleitet vom Lärm des Hammers, der auf die Stoßstange traf. Aus der Beziehung seines Bruders zu dem Mann, den er stur seinen Vater nannte, wurde er nicht klug.
Wie Billy gesagt hatte, war die Tür des Wohnhauses nicht abgeschlossen, und John erledigte sein Geschäft auf der behindertengerechten Toilette. Auf dem Weg nach draußen blickte er in die Küche.
Die Lampe über dem Esstisch war eingeschaltet und verbreitete einen warmen, behaglichen Schein. Auf den zwei Tellern in der Spüle konnte er deutliche Spuren von Ketchup erkennen. Daneben standen leere Bierflaschen und ein halb leeres Glas Milch.
Auf dem obersten Fach des Regals neben der Speisekammer blieb sein Blick an etwas hängen, das den Polizisten in John zum Leben erweckte – es war der Laptop, den Billy gestern seiner Tochter aus den Händen gerissen hatte.
Er lauschte. Das Hämmern in der Werkstatt war weiterhin zu hören. Sein Bruder bearbeitete noch immer die Stoßstange. John unternahm eine kurze moralische Abwägung. Wenn Billy ihn so offensichtlich über den Besuch der Mutter angelogen hatte, war es nur rechtens, wenn er jetzt im Computer nachsah, ob es irgendeine logische Erklärung dafür gab.
Er nahm das Gerät herunter, klappte es auf und berührte das Touchpad. Der Bildschirm ging an, und das Hintergrundbild in Form eines sonnenbeschienenen Lavendelfelds erschien zusammen mit einem Schreibfeld, in das man das Passwort eingeben musste. John versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie alt Billys Tochter war. Dann gab er nicole2011 ein und drückte auf Enter.
Das klappte nicht.
Er schob die Jahreszahl hin und her und tauschte Groß- und Kleinbuchstaben, bis er schließlich die richtige Kombination fand. Die Blumen verschwanden, und der Sesam öffnete sich.
Als Erstes checkte er den Verlauf des Browsers. Billys Interessen waren ziemlich begrenzt. Sein Bruder besuchte fast nur Internetshops, die Teile für Oldtimer verkauften, oder Seiten, die über American Football berichteten. John unternahm einen Versuch, die Mails zu lesen, aber dafür war ein neues Passwort erforderlich. Er testete verschiedene Alternativen, aber als Outlook ihm den Zugriff verweigerte, gab er auf.
Das Hämmern klang noch immer entschlossen. Er klickte auf das Symbol für Microsoft Word und wartete, während das Programm startete. Danach ging er auf Zuletzt verwendete Dateien. Zwei Alternativen erschienen: brief. docx und brief-1.docx.
Johns Neugier war geweckt. Billy schien nicht der Typ zu sein, der Briefe schrieb, aber vielleicht hatte sein Bruder ja auch andere Seiten, die er bislang noch nicht gezeigt hatte. Er öffnete das erste Dokument und starrte wie verhext auf den Bildschirm.
Die Worte waren nicht neu für ihn.
Ich weiß, wer Ihre Tochter umgebracht hat. Wie viel ist Ihnen diese Information wert? Ich melde mich wieder.
John überquerte mit schnellen Schritten den Hof. In der Werkstatt hatte das Hämmern aufgehört, aber das Licht brannte noch. Wenn Billy den Kopf zur Tür heraussteckte, würde er sich wahrscheinlich nicht zurückhalten können, ihn zu beschimpfen. Ihm zu erklären, wie idiotisch es war, Emelies Vater zu erpressen. Aber damit würde er die ohnehin schon heikle Lage nur noch verschlimmern.
Der Ledersitz des Chryslers war kühl, als er sich ans Steuer setzte und losfuhr. John knöpfte seinen Mantel auf und suchte Monas Nummer im Handy. Es widerstrebte ihm, die Kollegin anzurufen, er wusste ja, wie zornig sie sein würde. Zugleich konnte er ihr diese Information nicht vorenthalten.
Mona ging beim ersten Klingeln ran. Im Hintergrund dröhnte Musik. »Bin mitten in einem Spinning-Kurs, können wir später reden?«, keuchte sie.
»Leider nicht. Sie müssen vom Rad absteigen.«
John wartete, bis sie eine ruhige Ecke gefunden hatte. Dann erzählte er ihr von seinem Besuch bei Billy und dem Brief auf der Festplatte des Computers.
»Dann haben Sie mich also angelogen«, sagte sie. »Ich habe Sie doch gefragt, ob Sie Kontakt mit Ihrem Halbbruder hatten.«
»Ich bitte Sie, Mona. Das war doch unvermeidlich. Früher oder später musste ich ihn treffen. Mich hat niemand gesehen, das verspreche ich.«
»Das spielt keine Rolle. Für mich ändert das alles.«
John blieb an einem Zebrastreifen stehen und sah mit leerem Blick zu, wie ein älteres Paar die Straße überquerte. Er konnte Monas Einstellung nachvollziehen und respektierte sie. Wer einmal gelogen hatte, konnte wieder lügen, und dann fehlte das Vertrauen, das man unter Kollegen in dieser Branche brauchte. »Tut mir leid«, sagte er kurz.
Das Schweigen, das sich daraufhin lange hinzog, war quälend. Ab und zu krachte es im Hintergrund. John nahm an, dass Mona sich in der Umkleide befand, er hörte das Klappern der Schranktüren.
»Wir müssen uns treffen, wo sind Sie?«, sagte sie schließlich.
»Auf dem Weg nach Hause«, sagte er.
Monas Gesicht war noch rot und schweißnass, als sie sich vor der Eingangstür des Empire State trafen. Offenbar hatte sie auf das Duschen verzichtet, um möglichst schnell da zu sein. In der Wohnung stellte John ein Glas für sie auf den Küchentisch, während sie seine neue Unterkunft musterte.
Ihm war klar, dass sein Appartement Fragen aufwarf. Wie konnte sich ein Polizist mit geschützter Identität etwas so Teures leisten? Darauf hatte er immerhin eine gute Antwort. Schlechter stand es um den Besuch bei Billy und warum er ihn ihr verheimlicht hatte.
Mona setzte sich auf eine der Obstkisten und leerte das Glas in einem Zug. »Ihnen ist sicher klar, dass ich nicht mehr Ihre Kontaktperson im Zeugenschutz sein kann, oder? Sobald wir die Ermittlungen abgeschlossen haben, werde ich mit meinem Chef sprechen und ihn bitten, einen Nachfolger zu finden. Bis dahin muss ich mich darauf verlassen können, dass Sie mich nicht wieder anlügen.«
»Das können Sie«, sagte er. Ihm war klar, dass seine Worte in ihren Ohren nicht mehr wogen als die von Primer im Vernehmungsraum.
Mona bat ihn um mehr Wasser, und er schenkte nach. Sie hatte ihn gemocht, das wusste John, denn er empfand dasselbe ihr gegenüber. Vielleicht wirkte sie deshalb eher enttäuscht als wütend.
»Haben Sie Fotos von den Briefen gemacht?«, fragte sie, als das Glas erneut leer war.
John legte das Handy auf den Tisch und drehte es so, dass Mona das Foto auf dem Display sehen konnte. Sie schien bereit zu sein, weiterzumachen und die Aufmerksamkeit auf den Fall zu richten.
»Den ersten kennen wir schon«, sagte sie. »Die Formulierung und Schrift stimmen mit dem überein, der an Heimer Bjurwall geschickt wurde.«
Sie strich mit dem Zeigefinger über den Bildschirm, damit das nächste Foto gezeigt wurde – die Aufnahme, die den zweiten und bisher unbekannten Brief zeigte. Mona las laut vor:
Loggen Sie sich am Freitag um 19.30 Uhr auf chatta. se ein. Nennen Sie sich Froggy und suchen Sie nach Nadja6543.
»Glauben Sie, dass er diesen Brief auch abgeschickt hat?«, fragte John.
Mona strich sich ein paar Strähnen aus der Stirn. Der Schweiß an ihrem Körper schien abzukühlen, und sie zitterte ein wenig. »Hätten sich die Bjurwalls dann nicht bei uns gemeldet?«
»Sollte man meinen, aber …«, sagte er und verstummte.
»Aber was?«, fragte Mona gespannt.
»Irgendetwas war mit Sissela Bjurwalls Stimme. Als sie nach dem ersten Brief fragte und herausfand, dass ihr Mann ihn nicht zu uns gebracht hatte, meine ich. Sie wirkte überrascht. Ich bin damals nicht darauf eingegangen, aber vielleicht hätte ich genauer hinschauen sollen.«
»Meinen Sie, dass er den Brief geheim halten wollte?«
»Vielleicht. Es wäre ja nicht unmöglich, dass das Paar Bjurwall in dieser Sache unterschiedlicher Meinung ist, oder?«
»Stimmt. Da werden wir der Villa auf der Landzunge von Tynäs wohl noch einmal einen Besuch abstatten.« Mona scrollte zurück zu dem Foto des ersten Briefes und las ihn noch einmal. »Glauben Sie wirklich, dass Ihr Bruder etwas über den Mord weiß?«, fragte sie.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Wenn es so wäre, hätte er es doch der Polizei gesagt. Er wurde ja zweimal fast selbst dieses Verbrechens angeklagt.«
»Dann ist es so, wie wir die ganze Zeit schon vermutet haben – der Brief ist ein Bluff«, sagte John.
Mona blickte ihn an. »Was denken Sie? Er ist ja Ihr Bruder.«
John erinnerte sich an den Geldschein, den seine Mutter Nicole gegeben und den Billy seiner Tochter weggenommen hatte. »Geld braucht er auf jeden Fall, so weit würde es passen. Und Billy ist bestimmt kein Heiliger, nur weil er Emelie Bjurwall nicht umgebracht hat.«
»Haben Sie nachgesehen, wann die Worddateien erstellt worden sind?«
John schüttelte den Kopf. Er verfluchte sich selbst, weil er dieses Detail vergessen hatte. Das Adrenalin hatte ihm die Sinne vernebelt, als ihm klar geworden war, was er auf dem Laptop entdeckt hatte.
»Okay, wir wissen immerhin, wann der erste Brief zugestellt wurde«, sagte Mona. »Und wenn Billy den zweiten abgeschickt hat, müsste er ja kurz darauf angekommen sein, nicht wahr?«
»Ja, er muss verfasst worden sein, bevor bekannt wurde, dass Primer verhaftet worden ist. Danach wusste ja jeder Mensch, der lesen kann, wer Emelie Bjurwall umgebracht hat, und es wäre aussichtslos gewesen, den Vater auszunehmen.«
»Wir müssen herausfinden, ob sie über diesen Chat Kontakt hatten oder nicht«, sagte Mona und stand auf. »Ich fahre morgen früh zu Billy.«
»Möchten Sie, dass ich mit Heimer Bjurwall spreche?«
»Nein, Sie sprechen mit niemandem«, erwiderte sie scharf. »Sie halten sich aus dem Ganzen raus. Billy ist wieder ein Teil der Ermittlungen, und er ist trotz allem Ihr Bruder.«
Halbbruder, dachte John, sagte aber nichts.