52.
So oft hatte er schon lange nicht mehr auf die Uhr seines Handys geschaut. Mona hatte John verboten, dabei zu sein, wenn sie Billy traf, wollte ihn aber immerhin anrufen, sobald sie mit ihm gesprochen hatte. John wusste, dass der Besuch für sieben Uhr morgens geplant war, damit sie seinen Bruder auch sicher antrafen. Als ob er wegfahren würde, dachte er. Die einzigen Orte, zwischen denen Billy sich hin- und herbewegte, waren das Wohnhaus und die Werkstatt. Eine Strecke von weniger als hundert Metern.
Er tippte auf die Hometaste seines Handys, damit sich das Display wieder aufhellte.
9.15 Uhr.
Über zwei Stunden waren vergangen, und er hatte noch immer keinen Ton von Mona gehört.
John blickte auf das Gemälde vor sich. Es war das erste Mal, dass er es über sich gebracht hatte, eine leere Leinwand auf der Staffelei zu platzieren. Er hatte seit über zehn Jahren nicht mehr mit Öl gemalt, und entweder war er völlig eingerostet, oder es klappte einfach nicht, wenn er mit den Gedanken woanders war. Der Ausblick von der Wohnung wollte auf der Leinwand nicht lebendig werden. Der Himmel blieb eindimensional. Die Bewegungen des Wassers waren zu grob und ließen die Sanftheit der wirklichen Wellen vermissen.
Sein Interesse an der Malerei war nach der Trennung von seiner Mutter und dem Umzug nach New York eingeschlafen. Ein engagierter Kunstlehrer an der Highschool hatte sein Talent entdeckt und versucht, ihn zu einer Bewerbung an der Kunsthochschule zu bewegen. Aber John hatte keinen Gedanken daran verschwendet. Sein Vater hätte es ihm nie erlaubt, eine so unsichere Zukunft zu wählen, und außerdem lockte die Polizei ihn mehr.
Er legte die Pinsel weg und ging ins Bad, um sich die Farbe von den Händen zu waschen. Warum meldete Mona sich nicht? Wusste sein Bruder doch etwas über das Verschwinden von Emelie Bjurwall? John stellte sich vor, wie der Besuch bei Billy zu einem Durchbruch im Fall geführt hatte. Vielleicht gestand Primer in diesem Augenblick auf der Polizeistation alles, während er selbst nicht dabei sein durfte, weil er mit dem Informanten verwandt war.
Er trocknete sich die Hände mit dem Handtuch ab, ging zurück ins Atelier und rief Mona erneut auf ihrem Handy an – landete aber wie zuvor auf der Mailbox. Noch eine Nachricht zu hinterlassen war sinnlos.
Er dachte an Billys Aggressivität. An dem Abend, als er ihm erzählt hatte, dass Emelies Leiche im Wald gefunden worden war, hatte er ihn mit einem Schraubenschlüssel bedroht. Er würde nie erfahren, ob er tatsächlich kurz davor gewesen war, das schwere Werkzeug als Waffe zu benutzen. Aber er hatte zweifellos etwas Grenzenloses an sich. Diese Seite an seinem Bruder hatte John bereits als Kind wahrgenommen. Hinter den gefährlichsten Aktionen hatte immer Billy gesteckt. Auf dem Schulhof hatte er am meisten Prügel ausgeteilt – und auch eingesteckt.
Johns Sorge wuchs. Wenn Mona ihn zu sehr unter Druck gesetzt hatte, bestand das Risiko, dass bei seinem Bruder eine Sicherung durchgebrannt war.
Er blickte wieder auf sein Handy.
9.31 Uhr.
Das ging einfach nicht. Er konnte nicht hier herumhocken, während Mona sich bei einer potenziell aggressiven Person befand. John fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss hinab, und kurz darauf rollte der Chrysler in Richtung Skoghall.
Auf dem Weg zu seinem Elternhaus überkam ihn ein Gefühl der Enttäuschung. Egal was Billy über Emelie Bjurwalls Tod wusste oder nicht wusste, es war ein Tabu, die Eltern zu erpressen. Sie hatten ihr einziges Kind verloren und verdienten es, in Ruhe gelassen zu werden. Billy hatte doch selbst eine Tochter. Er sollte nachvollziehen können, was die Trauer um ein Kind bedeutete.
John fuhr so schnell, dass er beinahe die Einfahrt zu Nermans Auto verpasst hätte. Diesmal würde er direkt vor der Werkstatt parken. Wenn ein neugieriger Nachbar wissen wollte, wem der Wagen gehörte, gab es eine gute Erklärung. Fredrik Adamsson war in einer dienstlichen Angelegenheit da.
Er bremste, als er im Hof den Streifenwagen neben Monas schwarzem Mietwagen stehen sah. Das Bild stimmte nicht. Sie würde niemals uniformierte Beamte zu solch einem heiklen Gespräch mitnehmen.
John parkte und schaltete den Motor aus. Als er die Fahrertür öffnete, kam Mona aus der Werkstatt. Ihr Anblick verstärkte seinen Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Sie schien nicht verärgert zu sein, ihn hier zu sehen. Stattdessen ging sie langsam über den Hof auf ihn zu. Ihre Schritte waren schwer, als koste es sie Mühe, die Schotterfläche zu überqueren.
John sprang aus dem Wagen und rannte zur Werkstatt. Mona trat zwei Schritte zur Seite, um ihn aufzuhalten, aber er riss sich los und lief weiter auf die offene Garagentür zu.
Das Erste, was er drinnen sah, waren zwei Polizisten in Uniform. Einer von ihnen hielt eine Kamera in der Hand, die auf das Dach gerichtet war. John folgte der verlängerten Achse des Objektivs und sah den leblosen Körper, der an einem Seil von einem der Stahlbalken baumelte.
Billy trug dieselben Klamotten wie gestern, aber sein Gesicht war verfärbt. Das Seil endete in einer Schlinge, die sich unter dem Gewicht des hängenden Körpers tief in die Haut schnitt. Blaue Streifen hatten sich vom Hals bis zu den bleichen Wangen ausgebreitet. Ein Stück entfernt lag der abgenutzte Stuhl, auf dem sein Bruder vermutlich gestanden hatte, als er sich das Seil um den Hals legte.
John spürte, wie ihn die Übelkeit packte. Er beugte sich vor und stützte sich auf die Knie, um nicht umzukippen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte der Polizist, der nicht mit Fotografieren beschäftigt war.
John kannte ihn. Er hatte während der Küchenwoche von Fredrik Adamsson im Aufenthaltsraum Leckereien in sich hineingestopft. Das runde, pausbäckige Gesicht sah freundlich und fürsorglich aus, aber John ließ sich nicht täuschen. Wenn es etwas gab, das Uniformierte liebten, dann war es das Lästern über Ermittler, die dem Druck nicht standhielten.
Er rief sich ins Gedächtnis, dass der Polizist nichts von seiner Verbindung zu Billy wusste. Das musste so bleiben. John durfte sich nicht auffällig benehmen.
»Zwei Tassen Kaffee zum Frühstück und dann ein Gewaltmarsch hierher. Keine besonders gute Kombination«, keuchte er.
Der Polizist klopfte ihm auf die Schulter. »Bei mir müssen Sie sich nicht entschuldigen. Aber wenn Sie sich hier drin übergeben, werden die Techniker sauer.«
»Sind sie unterwegs?«, sagte John und richtete sich auf.
Berufliche Kommunikation war gut. Das half ihm, sich von seinen privaten Gefühlen zu distanzieren.
»Ja, sie sollten schon längst hier sein. Aber anscheinend gab es heute viel zu tun.«
»Sie rühren doch nichts an?«
John drehte sich um, als er Monas Stimme hörte. Sie war in die Werkstatt getreten und blickte sie streng an. Sie begriff die Lage genauso gut wie er selbst. Keine Samthandschuhe, kein Mitgefühl. Nichts, das verraten könnte, welches Verhältnis John zu der Leiche an der Decke hatte.
»Natürlich nicht«, antwortete der Pausbäckige. Es schien ihm nicht zu gefallen, von einer Frau für dumm erklärt zu werden, noch dazu einer, die aus Stockholm kam.
John vermied es, in Billys lebloses Gesicht zu blicken. Er fürchtete, dann würde seine Maske fallen.
Der Polizist mit der Kamera senkte das Objektiv und murmelte, dass die Spurensicherung den Rest übernehmen müsse. Er kniete sich hin und verstaute seine Ausrüstung in der schwarzen Tasche am Boden. Plötzlich erstarrte er. Er hatte den Blick auf die Tür gerichtet und sah offenbar etwas, das die anderen noch nicht entdeckt hatten.
John drehte sich um.
Dort stand Nicole.
Sie trug einen dunkelblauen Pyjama mit weißen Sternen, und ihre nackten Füße steckten in einem Paar Gummistiefeln. Sie starrte an die Decke. Das Bild, das sich in ihre Netzhaut einbrannte, würde sie nie wieder löschen können. Sie würde es für den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen.
Dann kam der Schrei. Das gellende, krampfartige Kreischen einer Achtjährigen. John sah, wie sie sich umblickte und ihn entdeckte, das einzige Gesicht, das sie unter den Fremden in der Werkstatt kannte. Das Mädchen rannte auf ihn zu und klammerte sich an sein Bein wie ein Schiffbrüchiger an das letzte Stück Treibholz.
Mona versuchte vorsichtig, den Griff des Mädchens zu lockern. Obwohl es sich falsch anfühlte, half John ihr, die kleinen Finger vom Stoff zu lösen, sodass die Kollegin das Mädchen hochheben konnte. Nicole musste im Wohnhaus geschlafen haben und hatte das Klopfen an der Tür am frühen Morgen vermutlich nicht gehört. Dass niemand daran gedacht hatte, nach ihr zu suchen, war ein unverzeihlicher Fehler.
»Ich bringe sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie«, sagte Mona, nachdem sie das Mädchen auf die Rückbank ihres Mietwagens gesetzt hatte.
John nickte. Das war die richtige Entscheidung. Nicole brauchte professionelle Hilfe von Leuten, die wussten, wie man mit einem solchen Trauma umging.
Er selbst musste ebenfalls weg von hier und das Geschehene allein verarbeiten. Jetzt, da die Männer in weißen Overalls in der Werkstatt zugange waren, war er überflüssig. Fredrik Adamsson konnte sich entfernen, ohne dass dies für Fragen sorgte.
Er verließ das Grundstück mit hängendem Kopf und setzte sich in seinen Chrysler. An der Ausfahrt hielt er und überlegte, wohin er fahren sollte. Er entschied sich für die alte Pfadfinderhütte, in der Billy und er in ihrer Kindheit oft gespielt hatten. Sie lag ganz in der Nähe, und kurz darauf saß er auf einer der gezimmerten Bänke an der Feuerstelle.
Die Hütte war frisch gestrichen worden, jetzt war sie bräunlich statt dunkelrot wie früher. Davon abgesehen hatte sich kaum etwas verändert. Die Wippe stand noch an derselben Stelle, und die Kinder bauten noch immer Baumhäuser in dem Wäldchen neben dem alten Plumpsklo.
An Billy zu denken tat körperlich weh. John konnte kaum atmen, obwohl die Luft hier unten am See frisch und sauerstoffreich war. Er suhlte sich in seinen Schuldgefühlen wie ein Schwein in einer Güllegrube, bis er vor Selbstverachtung stank. Es spielte keine Rolle, dass er Billy vom Mordverdacht befreit hatte. Es war zu spät. Irgendetwas in seinem Bruder war im Laufe der Jahre zerbrochen, etwas, das nicht einmal ein Freispruch heilen konnte. Ihre Mutter hatte ja erzählt, dass er schon einmal versucht hatte, sich umzubringen.
Trotzdem war der Zeitpunkt unlogisch. Sein Bruder hatte doch gerade Ordnung in sein Leben gebracht und nach vorne blicken können, auf ein Dasein, in dem ihn die Leute aus der Gegend nicht verurteilten. Warum sollte er sich dann ein Seil um den Hals legen? Irgendetwas stimmte nicht.
John dachte an die Briefe. Sie mussten ein Versuch gewesen sein, Heimer Bjurwall zu erpressen. Womöglich lag das Motiv für den Selbstmord hier. Sein Bruder hatte vielleicht größere finanzielle Sorgen gehabt, als er durchblicken lassen hatte, und war in einer Schuldenfalle gelandet, die unerträglich geworden war. John bereute, dass er Billys Ego nicht einfach ignoriert und ihm eine Million in die Hand gedrückt hatte. Dann hätte Nicole vielleicht noch ihren Vater.
Es schien dringend geboten, mit Heimer Bjurwall zu sprechen. Wenn er für die Information, die Billy zu besitzen behauptete, bezahlt hatte, hatten sie sich möglicherweise auch getroffen. Vielleicht wusste Emelies Vater etwas, das erklären könnte, warum sein Bruder sich das Leben genommen hatte.
John stand auf und streckte sich. Er hatte zu lange in derselben Stellung gesessen und musste sowohl die Blutzirkulation als auch die Gedanken in seinem Kopf wieder auf Touren bringen.
Er ging hinunter zum Ufer und beschloss, seine Überlegungen von einem neuen Ausgangspunkt zu starten. Was war, wenn Billy wirklich etwas über den Mord gewusst hatte, was würde das bedeuten? Er verfolgte diesen Gedanken, kam aber nicht am ersten Hindernis vorbei. Wenn sein Bruder gewusst hatte, dass Bernt Primer der Täter war, warum hatte er dann nichts gesagt, als er selbst eine Gefängnisstrafe riskierte? Diese Gleichung ging einfach nicht auf.
John versuchte es noch einmal. Diesmal wollte er sich von den vorgegebenen Mustern seines Gehirns lösen. Ihm kam ein Gedanke. Wenn Billy erst nach seiner zweiten Freilassung erkannt hatte, wer der Mörder war, veränderte sich das Bild. Dann steckte eine Logik dahinter, den Brief an Heimer Bjurwall zu schicken, die John zuvor nicht gesehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Primer ja noch nicht verdächtigt worden, das Verbrechen begangen zu haben. Anstatt direkt zur Polizei zu gehen – wo man die Hinweise mit größter Wahrscheinlichkeit nicht ernst genommen hätte, weil sie von Billy Nerman stammten –, hatte sein Bruder versucht, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Indem er die Informationen an Heimer Bjurwall verkaufte, hätte er einen Batzen Geld verdienen und zugleich dafür sorgen können, dass Primer nicht ungeschoren davonkam. Wenn jemand in der Lage war, die Polizei dazu zu bringen, gegen einen Mann aus den eigenen Reihen zu ermitteln, dann die Bjurwalls.
John lief den Pfad entlang, der zu dem Aussichtspunkt auf dem Hügel neben der Pfadfinderhütte emporführte. Es ging steil bergan, und er musste kurz innehalten, um Luft zu holen. Er wünschte, er hätte die Ermittlungszeichnung und ein paar Bleistifte mitgenommen, aber einstweilen musste er weiter im Kopf Überlegungen anstellen.
Bald war er beim Aussichtspunkt angekommen. Die alte Bank stand noch da. Hier hatte er zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. Susanne hieß sie, erinnerte er sich, denn Billy hatte ihn den ganzen Sommer aufgezogen, weil sie John wegen eines Jungen aus dem Hockeyteam sitzengelassen hatte.
Von hier hatte man eine wunderbare Aussicht. Als Kind hatte er sich eingebildet, dass er auf das Meer hinausblickte und sich am anderen Ufer etwas viel Spannenderes als Linköping befand. Er beugte sich vor und suchte nach einem Stein. Eine jüngere Version von ihm hatte wieder und wieder versucht, bis zum Wasser zu werfen – von hier oben sah es ja so nah aus –, es aber nie weiter als bis halb über den Abhang geschafft. Als er gerade Ausschau nach einem geeigneten Wurfgeschoss hielt, fiel sein Blick auf ein paar Zigarettenstummel neben einem Bein der Bank, das in den Berg betoniert war.
In ihm machte es klick, und er musste sich wieder setzen.
Seine Mutter.
Ein paar heimlich rauchende Pfadfinder erinnerten ihn an den Besuch, den er seinem Elternhaus zwei Tage zuvor abgestattet hatte.
Sein Bruder war schon immer ein richtiges Muttersöhnchen gewesen, und daran schien sich während der Jahre, die John in den USA gelebt hatte, nicht viel geändert zu haben. Es war durchaus möglich, dass ihre Mutter ihn dazu gebracht hatte, diese Briefe an die Bjurwalls zu schreiben. Die ganze Geschichte stank geradezu nach ihr, und so wurde das Szenario viel wahrscheinlicher. Im Gegensatz zu Billy besaß sie sowohl die Durchtriebenheit als auch die Intelligenz, um eine solche Sache durchzuziehen.
Er erinnerte sich an Billys Anruf in der Polizeistation und die Verzweiflung in seiner Stimme. Vermutlich hatte sein Bruder ihm bereits da erzählen wollen, was er und die Mutter vorhatten. Als John keine Zeit gehabt hatte, ihm zuzuhören, war sie rechtzeitig zu ihm gekommen und hatte ihn auf Spur gebracht. Vielleicht war es darum in dem Streit gegangen, den Nicole mitbekommen hatte, bevor sie in ihr Zimmer verfrachtet worden war.
John sah ein, dass er zum Gunnarskärsgården fahren und mit seiner Mutter reden musste. Das Altersheim war nur wenige Autominuten entfernt.
John erkannte die Frau sofort, als er durch die Tür trat. Es war Rubens Frau, die ihrem Mann von ihm erzählt und seine Identität entlarvt hatte.
»Kommen Sie mit ins Büro, dort können wir uns unterhalten«, sagte sie ernst und öffnete die Tür zu dem kleinen Raum gleich neben dem Eingang des Altenheims.
John ließ sich auf einem Besucherstuhl nieder, und sie schob ihren eigenen hinter dem Schreibtisch hervor, sodass sie näher beieinandersaßen.
»Es tut mir sehr leid«, sagte sie und legte den Kopf leicht schief, wie es das Pflegepersonal zu tun pflegte, wenn es schlechte Nachrichten zu überbringen hatte.
»Dann war die Polizei schon hier und hat ihr von Billy erzählt?«
»Ja, vor Kurzem. Es hat sie hart getroffen. Danach mussten wir den Krankenwagen rufen.«
John starrte sie ungläubig an. Den Krankenwagen? Was wollte die Frau ihm sagen? »Bitte entschuldigen Sie, aber ich kann Ihnen gerade nicht folgen.«
»Ihre Mutter ist im Krankenhaus. Sie hatte Herzprobleme.«
John spürte, wie die Welt kurz ins Wanken geriet. Heute schien alles auf ihn hereinzubrechen. »Wie geht es ihr?«, stieß er hervor.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Sie müssen das Stadtkrankenhaus kontaktieren.«
Eine Viertelstunde später hielt John im Parkverbot vor der Notaufnahme. In seinem Kopf überstürzten sich die Gedanken. Er hoffte, dass seine Mutter noch bei Bewusstsein war, und schämte sich zugleich ein wenig. War er aus Sorge um seine Mutter hier oder um mehr über die Briefe an Heimer Bjurwall zu erfahren? Er schob die Fragen beiseite und hielt eine Krankenschwester auf, die mit einem Katheter den Gang entlangkam.
»Ich müsste mit einer Frau sprechen, die vorhin von Gunnarskärsgården geholt worden ist«, sagte er und zeigte ihr seinen Polizeiausweis.
»Erkundigen Sie sich da drüben«, antwortete sie und zeigte auf einen Tresen am Ende des Flurs.
Er folgte der Anweisung und wiederholte sein Anliegen gegenüber einer älteren grauhaarigen Frau. Sie konnte sofort antworten, ohne den Computer auf dem Schreibtisch konsultieren zu müssen. Alte Schule, dachte John. Früher waren die Leute noch gezwungen, Dinge im Kopf zu behalten.
»Sie ist im Herzkatheterlabor. Ja, zur Ballondilatation. Sie wurde mit Atemnot und Brustschmerzen eingeliefert.«
»Ist es ernst?«, fragte er.
»Ja, würde ich schon sagen. Aber sie wurde rasch behandelt, und dann ist die Prognose gut.«
John stellte sich seine Mutter inmitten von Ärzten und Krankenschwestern vor. Er konnte das Piepsen der Maschinen hören, die ihre Werte überwachten, während das Personal alles unternahm, um sie am Leben zu halten.
»Darf ich fragen, um was es geht?« Die Stimme der grauhaarigen Frau war spröde, aber freundlich.
»Eine polizeiliche Ermittlung, ich darf leider nicht mehr sagen. Aber Sie müssen sie unbedingt bitten, diese Nummer anzurufen, sobald sie die Möglichkeit dazu hat.«
Er notierte seine Handynummer auf einem Zettel und gab ihn der Frau, die ihn in die Tasche ihrer Schwesternuniform steckte.
»Es ist wichtig«, fügte er hinzu.
Sie nickte und blickte ihn ernst an. »Ich werde ihr die Nachricht überbringen, das verspreche ich.«
John bedankte sich und eilte zurück zu seinem Wagen vor der Notaufnahme. Sobald er die Fahrertür geschlossen hatte, fing er an zu weinen, ohne zu begreifen, weshalb. Die Tränen entsprangen einer merkwürdigen Mischung aus Gefühlen, die er tatsächlich empfand, und aus Gefühlen, die er seiner Meinung nach empfinden sollte. Seine Mutter kämpfte im Krankenhaus um ihr Leben, und sein Bruder hatte beschlossen, dem seinen ein Ende zu setzen – und das alles innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Es war chaotisch und aufwühlend.
Zugleich fühlte er sich zu einem gewissen Teil wie ein außenstehender Beobachter. Als handelte es sich um die Mutter und den Bruder eines anderen. So lange waren sie aus seinem Leben verschwunden gewesen. Vielleicht war es symptomatisch, dass die Tränen sofort versiegten, als Mona anrief. Als kämen sie aus einem Hahn, den er nach Lust und Laune auf- und zudrehen konnte.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie.
John schloss die Augen und sah erneut das blasse Gesicht seines Bruders vor sich, als er in der Werkstatt hing. Das Bild wurde im Großformat auf seine Netzhaut projiziert und war unangenehm detailscharf. »Ich weiß es nicht, nicht so gut, denke ich.«
»Wo sind Sie?«
»In einem Auto vor dem Krankenhaus.«
»Vor dem Krankenhaus?«, wiederholte sie verwundert.
John berichtete ihr, dass seine Mutter dort behandelt wurde. Dass er den Verdacht hatte, dass sie die treibende Kraft hinter den Briefen an Emelies Vater gewesen war, nun aber von Billys Tod so hart getroffen wurde, dass ihr Herz es nicht mehr verkraftete. Er schilderte, wie sein Bruder womöglich erst nach seiner Freilassung begriffen hatte, dass Primer der Mörder war, und diese Information zusammen mit seiner Mutter an Heimer Bjurwall verkauft hatte. Der Plan war, Primer zu überführen und damit gleichzeitig Geld zu verdienen.
Mona lauschte und unterbrach ihn nur zweimal: einmal, um ihm zu sagen, wie leid es ihr tue, dass seine Mutter im Krankenhaus lag, und das zweite Mal, um ihm von dem Rucksack zu erzählen, der in Billys Werkstatt entdeckt worden war. Er enthielt fast dreihunderttausend Kronen in Scheinen.
»Oh verdammt, dann müssen sie sich ja getroffen haben«, meinte John.
»Scheint so.«
»Haben Sie mit Heimer Bjurwall gesprochen?«
»Nein«, sagte Mona und klang ein wenig irritiert. »Wann hätte ich das schaffen sollen?«
John hörte das leise Tuten in der Leitung, das signalisierte, dass jemand anklopfte.
»Die Gerichtsmedizin ruft gerade an. Bleiben Sie in der Leitung, dann schalte ich uns zusammen.«
John wartete, und kurz darauf bekamen sie Gesellschaft von einer weiteren Stimme.
»Ich habe gerade mit der Autopsie von Billy Nerman begonnen, dem Mann, der sich in der Nähe von Skoghall erhängt hat«, sagte der Mann, der keine Zeit mit einer Vorstellung verschwendete. »Ich schicke Ihnen morgen einen ausführlichen Bericht, aber eine Sache sollten Sie schon jetzt wissen.«
»Okay, wir hören«, sagte Mona.
»Das war kein Selbstmord. Jemand hat nachgeholfen.«
Im Hintergrund eines der beiden Telefone – vermutlich Monas – hörte John das Geräusch eines heftig beschleunigenden Autos oder Motorrads. Das laute Dröhnen verhallte und wurde von Schritten und Rascheln ersetzt, während sie zu einer leiseren Stelle lief.
Er schloss die Augen und verdaute die neue Information. Dann packte ihn der Zorn. Er stieß mit dem Kopf hart gegen die Nackenstütze und verfluchte sich selbst, weil er nicht mehr auf seine Intuition gehört hatte.
Jemand hatte nachgeholfen.
Natürlich war es so.
Billy hatte sich nicht umbringen wollen. Nicht jetzt, wo er endlich Gerechtigkeit erfahren hatte für all das Elend, das er in der Vergangenheit hatte durchmachen müssen.
»Sind Sie sicher?«, fragte Mona.
»Ja, der Mann war schon tot, als er aufgeknüpft wurde. Neben den Verletzungen durch das Seil gab es deutliche Spuren von zwei Daumen am Hals, die fest gegen die Kehle gedrückt haben.«
»Also wurde er erwürgt?«
»Ja, daran besteht kein Zweifel. Aber wie gesagt – morgen gegen Mittag bekommen Sie den vollständigen Bericht.«
Mona bedankte sich, und der Gerichtsmediziner verließ die Telefonkonferenz. John stellte sich vor, wie der Mann sich ein paar neue Latexhandschuhe überzog und in den sterilen Raum zurückkehrte, in dem sein Bruder auf dem Obduktionstisch unter den Neonröhren an der Decke lag. Billys Leiche war von nun an ein Beweisstück in einem Mordfall.
»Wir müssen uns treffen und reden«, sagte Mona.
John lehnte sich gegen das Heck des Chryslers und hörte zu, wie Mona versuchte, ihre Gedanken zu dem Mord an Billy zu ordnen. Als Treffpunkt hatten sie eine Tankstelle in der Nähe des Krankenhauses gewählt. Sie beschränkte die Unterhaltung strikt auf die Ermittlungen. John war froh darüber. Seinen Bruder als ein normales Mordopfer zu betrachten half ihm, sich zu distanzieren.
»Das Geld, das sie gefunden haben, lag in einem Rucksack, der im Kofferraum eines der Autos in der Werkstatt versteckt war. Säuberlich gebündelte Geldscheine. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stammen sie von Heimer Bjurwall.«
John sah den aufgebockten schwarzen Buick vor sich, von dem sein Bruder so geschwärmt hatte. Es passte zu ihm, dass er die Beute ausgerechnet dort versteckt hatte.
»Ich gehe jede Wette ein, dass er ihn umgebracht hat«, sagte er.
»Wer? Heimer Bjurwall?«, sagte Mona.
John nickte und fuhr fort: »Vielleicht hatte Billy trotz allem geblufft. Er hatte keine Ahnung, wer der Mörder von Emelie war, und als ihr Vater das begriff und einsah, dass er übers Ohr gehauen worden war, drehte er durch.«
»Und hat ihn erwürgt?«
»Ja, vielleicht. Heimer hatte ja allen Grund, wütend zu sein.«
Mona blickte ihn ungläubig an. »Weil er ihn um dreihunderttausend Kronen betrogen hat? Ich war bei den Bjurwalls zu Hause, bei denen hat sicher selbst die Mülltonne mehr gekostet. Das reicht kaum als Motiv, um Billy zu töten.«
»Jetzt machen Sie es sich zu leicht«, entgegnete John. »Wenn Billy behauptet hat, er wüsste, wer der Mörder seiner Tochter ist, und dann die Antwort nicht liefern konnte, zählte der Verrat mehr als nur das Geld. Vielleicht hat es Heimer rasend gemacht, wie Billy die Trauer der Familie ausnutzte.«
»In meinen Ohren klingt das immer noch dünn.«
»Das ist möglich, aber wir müssen trotzdem so schnell wie möglich mit ihm sprechen. Wenn sie sich zur Geldübergabe getroffen haben, könnte Heimer unser Schlüssel zu allem sein. Vielleicht hat Billy ihm etwas erzählt, das erklären würde, warum er kurz darauf umgebracht wurde.«
Mona trat einen Schritt auf ihn zu, als ein Lastwagen in die Tankstelle einbog und der lange Anhänger an ihr vorbeiglitt. »Aber wenn wir es mal umdrehen«, sagte sie. »Wenn Billy tatsächlich etwas über den Mord wusste, dann könnte hier ja auch ein Motiv liegen. Er hat vielleicht gesehen, wie Primer es getan hat. Oder zumindest ihn zusammen mit Emelie Bjurwall auf der Landzunge von Tynäs beobachtet.«
John schüttelte den Kopf. »Das passt nicht zusammen. Wenn Billy etwas über den Mord wusste, muss er diese Information erhalten haben, nachdem er selbst vom Tatverdacht befreit worden war. Warum sollte er sonst all die Jahre geschwiegen haben?«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Mona. »Und außerdem sitzt Primer ja in Untersuchungshaft.«
»Genau. Er hat ein Motiv, aber keine Möglichkeit.«
»Vielleicht arbeitet er mit jemandem außerhalb der Gefängnismauern zusammen, der ihm geholfen hat, Billy zum Schweigen zu bringen.«
»Das finde ich jetzt ein bisschen sehr weit hergeholt«, sagte John. »Primer ist ein geiler alter Bock, der seinen Polizeiausweis und den Zugang zu Drogen ausnutzte, um eine junge Frau zum Sex zu zwingen. Er ist nicht Teil eines kriminellen Netzwerks, und ich kann mir nur schwer vorstellen, dass er einen Mord in Auftrag gibt.«
Ein weiterer Lastwagen donnerte vor die Tankstelle und beendete die Diskussion.
»So oder so brauche ich das Einverständnis des Polizeidirektors, um den Tatort in der Werkstatt eingehender zu untersuchen«, sagte Mona, nachdem der Sattelschlepper an der Dieselzapfsäule gehalten und den Motor ausgeschaltet hatte. »Und ich muss ihm unbedingt deutlich machen, dass Billys Tod nicht als isoliertes Ereignis untersucht werden darf, sondern als Teil meiner laufenden Ermittlungen.«
John nahm die Wortwahl zur Kenntnis. Meiner laufenden Ermittlungen. Als würde er nicht mehr dazugehören.
»Abgesehen davon sind Sie ab jetzt raus«, fuhr Mona fort, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Ihre Verbindung zu Billy ist ein Problem.«
Er hatte darauf gewartet. Es war fast verwunderlich, dass es erst jetzt so weit kam. Schließlich sorgte sein familiäres Band mit Billy nicht zum ersten Mal für Ärger.
»Das verstehe ich«, sagte er und überlegte, ob er ihr von dem Telefon erzählen sollte, das er seinem Bruder gegeben hatte. Mona würde sofort ausflippen. Aber gleichzeitig konnte er die Ermittler nicht einer blinden Spur hinterherjagen lassen.
»Eine Sache müssen Sie für die Tatortuntersuchung noch wissen«, sagte er.
»Was denn?«
»Sie werden bei Billy ein Kartentelefon finden. Im Kontaktverzeichnis ist nur eine Nummer abgespeichert.«
»Lassen Sie mich raten: Ihre!«, sagte sie, ohne einen Hehl aus ihrer Verärgerung zu machen. »Verdammt noch mal! Die Spurensicherung hat es bestimmt schon gefunden und die Verbindung zu Ihnen aufgedeckt. Jetzt fliegt uns diese ganze Bruder-ermittelt-gegen-Bruder-Geschichte um die Ohren.«
John starrte auf den Asphalt. Mona reagierte genau wie erwartet. Rücksicht auf seine Trauer um den Bruder nahm sie jetzt nicht mehr.
»Keine Sorge«, beschwichtigte er sie. »Es ist die Nummer eines anderen Kartentelefons. Es gibt keine Möglichkeit, es zu mir zurückzuverfolgen. Ich erzähle Ihnen das nur, damit Sie keine Energie darauf verschwenden.«
»Und natürlich darf ich die tolle Aufgabe übernehmen, den anderen zu erklären, warum wir unserer heißesten Spur nicht nachgehen sollen?« Trotz des heiklen Themas hatte Mona die Stimme erhoben. Als sich zwei junge Männer umdrehten, die gerade dabei waren, einen Anhänger zu befestigten, sprach sie leiser weiter. »Es tut mir wirklich sehr leid, was Ihrem Bruder zugestoßen ist. Und was die Ermittlungen betrifft, bin ich selbst schuld – es war ein großer Fehler, Sie wieder in den Fall einzubeziehen.«
Jetzt wurde John wütend. »Ohne mich hätten Sie immer noch keine Leiche, und Primer wäre nie gefasst worden. Das wissen Sie genauso gut wie ich, also lassen Sie dieses Gerede.«
Mona trat einen Schritt auf ihn zu. Ihr schien es egal zu sein, ob die Männer neben dem Anhänger zu ihnen herüberstarrten. »Das stimmt. Aber dann wären uns auch eine Menge Probleme erspart geblieben. Wenn herauskommt, dass Sie in die Ermittlungen gegen Ihren Bruder involviert waren, werden die Journalisten so lange schreiben, bis Köpfe rollen. Je fetter die Schlagzeilen, desto größer die Opfer auf der Schlachtbank.«
»Also ist es Ihnen wichtiger, Polizeikarrieren zu retten, als den Täter vor Gericht zu bringen und zu bestrafen?«
Monas Blick verfinsterte sich, aber er hatte keine Lust, sich ihre Verteidigungsrede anzuhören. Sie hatte gezeigt, wo ihre Loyalitäten lagen, und das reichte ihm. Die Reifen des Chryslers quietschten, als er sie allein an der Tankstelle zurückließ.
John überholte im Zickzackkurs und achtete nicht auf die Proteste der anderen Autofahrer auf dem Weg nach Hammarö. Billy war in dieser traurigen Geschichte von Anfang bis Ende ein Opfer gewesen. Die Polizei hatte ihn zehn Jahre lang gequält. Jetzt – nach seinem Tod – von John zu verlangen, dass er sich zurücklehnte und dieselbe Behörde einfach weitermachen ließ, war absurd.
Er bog links ab in den Tynäsvägen und drückte das Gaspedal durch, sodass der zwei Tonnen schwere Chrysler einen Satz nach vorne machte. Sobald das Walross Mona Billys Mord offiziell übertrug, würde sie Heimer Bjurwall aufsuchen. Aber das dürfte noch eine Weile dauern, und John wollte seinen Vorsprung nutzen und vor ihr da sein.
Mona hatte nicht übertrieben, als sie vom Anwesen der Familie Bjurwall gesprochen hatte. Die Villa war wirklich schön und bot eine herrliche Aussicht auf das Wasser. Er vergewisserte sich, dass seine Dienstwaffe ordentlich im Schulterholster steckte, und rollte zum Tor. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn ein englischer Butler auf sein Klingeln geantwortet hätte. Stattdessen vernahm er das gepflegte Värmländisch von Heimer Bjurwall persönlich.
John erklärte ihm, wer er – oder besser gesagt Fredrik Adamsson – war. Kurz darauf erklang das Surren des elektrischen Schlosses, und die Torflügel glitten auf. Er parkte in der Auffahrt neben zwei italienischen Sportwagen und wurde ins Haus gebeten.
Die Einrichtung war so nüchtern und exklusiv, wie John sie sich ausgemalt hatte. Zugleich schwebte über allem ein Hauch von Verlassenheit, und dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass Heimer Bjurwall allein zu Hause war. So wenig Leben auf so vielen Quadratmetern. Das hatte etwas Trauriges.
»Entschuldigen Sie, dass ich einfach so vorbeikomme, ohne vorher anzurufen«, sagte John, nachdem er dem Mann die Treppe hinauf und in die Küche gefolgt war.
»Gar kein Problem. Aber sie haben Glück, dass ich zu Hause bin. Meistens bin ich tagsüber nicht hier.«
»Ja, das verstehe ich.«
»Um was geht es? Ich habe leider nicht viel Zeit.«
Blödsinn, dachte John. Du willst keine Zeit haben.
»Dann komme ich gleich zur Sache«, sagte er, als sie an der Kücheninsel Platz genommen hatten. »Wir müssen uns über die Briefe unterhalten, die sie bekommen haben.«
»Die Briefe?«
»Ja, die Briefe. Sie haben doch zwei erhalten, nicht wahr?«
Heimer Bjurwall schien zu zögern, als könnte er sich nicht richtig entscheiden, ob er die Wahrheit sagen sollte oder nicht. Aber dann hob er die Hände abwehrend hoch. »Ja, es kam ein zweiter Brief«, sagte er. »Es tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe. Aber ich wollte es für mich behalten. Nicht einmal meine Frau weiß es.«
»Was stand drin?«
»Dass ich zu einer bestimmten Uhrzeit einen Chat im Internet aufsuchen solle. Dort sollte ich weitere Anweisungen erhalten.«
»Anweisungen wozu?«
»Das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Aber ich nahm an, dass es um Geld ging. Die Information darüber, was unserer Emelie zugestoßen ist, war nicht umsonst. Deshalb habe ich Ihnen nichts von dem Brief erzählt. Ich wollte den Absender nicht verschrecken.«
»Kam Ihnen nie der Gedanke, dass es ein Bluff sein könnte?«
Heimer blickte ihn verärgert an. »Doch, ständig. Sissela war ja überzeugt, dass uns jemand betrügen wollte, und deshalb habe ich ihr auch nichts gesagt. Ich war bereit, das Risiko einzugehen, weil es um Emelie ging.«
»Und, was ist dann passiert? Hatten Sie in dem Chat mit jemandem Kontakt?«
»Ja«, sagte Heimer. Er sprach jetzt schneller, als wäre der anfängliche Widerstand gebrochen und er bereit, alles zu erzählen. »Ich sollte dreihunderttausend Kronen in einem Schließfach am Bahnhof hinterlegen. Wenn ich das tat, würde man mir die Informationen zusenden.«
»Sie haben den Briefschreiber also nie getroffen?«
»Nein.«
John verschärfte den Ton. »Ich finde das seltsam. Einer Person, die Sie nicht einmal kennen, so viel Geld zu geben.«
»Sie dürfen mich gern für einen Idioten halten, aber ich hatte mir das gut überlegt.«
John ließ ein paar Sekunden verstreichen, um zu zeigen, dass er noch immer nicht überzeugt war. »Okay, lassen Sie uns weitergehen«, sagte er dann. »Welche Informationen sollten Sie bekommen?«
»Richtige Beweise, die in einem Prozess stichhaltig wären.«
»Beweise gegen Bernt Primer?«
Heimer zuckte mit den Achseln. »Ich nehme es an. Der Brief kam ja, bevor er verhaftet wurde. Ich hätte Ihnen das Material übergeben sollen, als ich es erhalten habe. Jetzt, wo wir darüber sprechen, klingt es so dumm. Aber es schien meine letzte Chance zu sein, wirklich etwas für Emelie tun zu können.«
»Also haben Sie nie einen Beweis bekommen?«
Der Mann auf der anderen Seite der Kücheninsel lachte auf. Es klang verbittert und resigniert. »Sissela hatte natürlich recht«, sagte er. »Es war nur ein Betrüger. Ich habe dreihunderttausend für nichts bezahlt.«
»Und Sie behaupten weiterhin, nicht zu wissen, wer die Briefe geschrieben hat?«
»Ich habe keine Ahnung.« Er seufzte. »Und es ist mir ehrlich gesagt auch egal.«
John blickte in Heimer Bjurwalls traurige Augen und versuchte die Glaubwürdigkeit des Mannes einzuschätzen. Er hatte es aufgegeben, den Schein des gestressten Bonzen mit vollem Kalender aufrechtzuhalten. Seine steife Haltung und gestelzte Redeweise waren etwas Weicherem, Verletzlicherem gewichen. John musste zugeben, dass es ihm schwerfiel, sich Emelies Vater in der schmutzigen Werkstatt mit den Händen um Billys Hals vorzustellen.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?«, fragte Heimer. Bevor John das Angebot ablehnen konnte, erhob er sich und ging zu einer stylischen Kaffeemaschine mit Kupferelementen. »Kommen Sie mit Primer weiter?«, fragte er und hob die Stimme, um die eingebaute Kaffeemühle zu übertönen.
»Es geht voran«, antwortete John. »Ihr Besuch hat viel bewirkt, das war ein Durchbruch.«
Heimer wirkte zufrieden und sog das Lob auf wie ein Schuljunge. »Hat er schon gestanden?«
»Leider darf ich nicht sagen, was er bei den Vernehmungen gesagt hat. Die unterliegen der Geheimhaltung, wie Sie ja wissen.«
Johns Handy vibrierte in seiner Tasche. »Entschuldigen Sie, da muss ich rangehen«, sagte er.
»Sie können in der Bibliothek telefonieren«, meinte Heimer und ging vor ihm durch den Flur zu einer großen Doppeltür.
John trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er kannte die Nummer nicht, aber sie begann mit 054, der Vorwahl von Karlstad und Umgebung.
»Fredrik Adamsson«, meldete er sich.
»Oh John. Das ist alles so fürchterlich schiefgelaufen.« Er erkannte die Stimme seiner Mutter sofort. Sie weinte und schniefte, dadurch verstand er kaum, was sie sagte.
»Mama«, sagte er und warf einen hastigen Blick über die Schulter. Dieses Wort sollte er eigentlich nicht benutzen, und er war froh, die Doppeltür zugezogen zu haben.
»Wie geht es dir? Wie ist der Eingriff verlaufen?«, fuhr er fort.
»Alles gut, mein Herz ist in Ordnung. Aber du musst mir zuhören. Es ist meine Schuld, dass Billy tot ist. Niemand kann mir erzählen, dass er das selbst getan hat.«
John presste das Handy fester ans Ohr. »Was genau meinst du?«, sagte er.
Sie gab ein tiefes Stöhnen von sich, und er begriff, dass sie Schmerzen hatte. »Erinnerst du dich noch, als du zu Billy gekommen bist und wir Torte gegessen haben?«
»Ja, natürlich.«
»Da wurde mir alles klar.«
»Was wurde dir klar?«
»Du hast ja erzählt, wo du die Leiche des Mädchens gefunden hast. Dass sie in der Nähe des alten Schuttplatzes am Hallerudsleden vergraben war.«
John erinnerte sich. Anfangs hatte seine Mutter gute Laune gehabt, dann war sie auf einmal ganz blass geworden und hatte zurück ins Heim gewollt.
»Ich habe ihn in der Nacht aus dem Wald kommen sehen, als ich von der Arbeit nach Hause gefahren bin. Ich fand es komisch, dass jemand wie er sich um diese Uhrzeit da draußen herumtrieb. Mit Taschenlampe und allem. Aber dann habe ich gelesen, was passiert war, und es kam mir nicht mehr ganz so merkwürdig vor. Ich dachte, dass er wahrscheinlich nach dem Mädchen gesucht hat.«
»Warte, von wem redest du?«
Seine Mutter antwortete nicht auf seine Frage. Es war, als wäre sie in Trance und würde mit sich selbst reden. »Als du uns erzählt hast, wo du die Leiche gefunden hast, wurde mir klar, dass ich völlig falschgelegen hatte. Es war überhaupt nicht so, wie ich dachte. Er hat nicht nach ihr gesucht, verstehst du. Er hat sie vergraben.«
Allmählich dämmerte es John. Er hätte früher daran denken müssen. Seine Mutter war zur Spätschicht in der Fabrik gegangen, das hatte Billy bereits bei der ersten Vernehmung gesagt. Und nicht Billy, sondern sie hatte Emelie Bjurwalls Mörder gesehen.
Er hob die Stimme, um die Flut ihrer Worte zu durchbrechen. »Wen? Wen hast du gesehen?«
Das schien zu funktionieren. Endlich verstummte die Stimme am anderen Ende. Ein paar schwere Atemzüge waren zu hören, dann ergriff seine Mutter wieder das Wort. »Heimer Bjurwall natürlich, wen sonst?«
John schnappte nach Luft und sank auf die Kante eines der tiefen Ledersofas. Die Luft in der Bibliothek kam ihm plötzlich stickig vor. Er hatte vorher nicht gemerkt, dass der Raum keine Fenster hatte. Bücherregale bedeckten die Wände vom Boden bis zur Decke, kein natürliches Tageslicht drang in den Raum. Der einzige Weg nach draußen führte durch die schwere Doppeltür aus dunklem Edelholz.
Er war so ein Idiot gewesen, weil er das Offensichtliche nicht gesehen hatte. Mona und er hatten Heimer nur als Billys Mörder in Betracht gezogen. Dass er auch für den Tod seiner eigenen Tochter verantwortlich sein könnte, war ihnen nie in den Sinn gekommen, obwohl sie die Antwort direkt vor Augen gehabt hatten. Er erinnerte sich daran, was in dem ersten Brief gestanden hatte, den sein Bruder geschickt hatte: Ich weiß, wer Ihre Tochter umgebracht hat. Wie viel ist Ihnen diese Information wert?
Auf seltsame Weise hatten Mona und er sich grundlegend geirrt und die Nachricht so gedeutet, dass jemand versuchte, Informationen zu verkaufen. Die Wahrheit war viel einfacher. Der Brief war ein Erpressungsversuch. Deshalb hatte Heimer ihn auch nicht der Polizei zeigen wollen.
»Hallo John, bist du noch dran?« Die Stimme seiner Mutter klang fern.
»Ja, ich bin da.«
»Das mit den Briefen war meine Idee. Billy meinte, ich sollte dir alles sagen. Aber wer hätte mir geglaubt? Mein Wort – das einer alten Säuferin – stand gegen das eines Bjurwalls. Das Geld sollte Billy kriegen, glaub bloß nichts anderes. Jede Öre. Es war nur fair. Er hat all die Jahre so gelitten, wenn ihm die Leute in der Stadt Mörder und Vergewaltiger nachgerufen haben.« Bei der letzten Silbe stöhnte sie wieder auf. »Wir waren so vorsichtig, John«, fuhr sie fort. »Heimer Bjurwall sollte nie herausfinden, wer ihn erpresste. Aber ich hätte wissen müssen, dass ein Typ wie er das nicht einfach schlucken würde. Jemand, der so viel zu verlieren hat, ist gefährlich.«
Ein vorsichtiges Klopfen war zu hören, und eine Hälfte der Doppeltür ging auf. Heimer brachte ein Tablett mit einer weißen Tasse, einer kleinen Milchkanne und einer Schale mit braunem Rohrzucker. »Ihr Kaffee ist fertig«, flüsterte er, um die Unterhaltung nicht zu stören.
John blickte ihn an und spürte das erste Ziehen im Hinterkopf. In der nächsten Sekunde explodierte der Schmerz, und es blitzte vor seinen Augen. Instinktiv ließ er das Telefon los, das erst auf das Sofa prallte und von dort auf den grau gescheckten Teppich am Boden. Alles geschah nahezu lautlos. Die Fasern des dicken Gewebes dämpften den Fall.
»Verzeihung, habe ich Sie erschreckt?«
»Kein Problem«, stieß John hervor und merkte, wie seine Füße taub wurden. Er versuchte die Zehen in den Schuhen zu krümmen, aber sie gehorchten ihm nicht. Wenn er nachgab, würde sich der Verlauf beschleunigen, und er würde den Punkt erreichen, an dem sein Körper überhaupt nicht mehr funktionierte. Er rief sich ins Gedächtnis, dass er keine neurologischen Probleme hatte. Die Ärzte in Baltimore hatten ihn von Kopf bis Fuß durchgecheckt. Alles lief nur in seinem Kopf ab.
Heimer Bjurwall hob das Handy vom Teppich auf und blickte darauf. »Sie sehen blass aus«, sagte er.
»Nur eine leichte Migräne. Die kommt und geht leider, wie sie will.« John streckte die Hand nach dem Telefon aus, aber sein Gastgeber machte keinerlei Anstalten, es ihm zurückzugeben.
»Ich verstehe, Migräne kann sehr unangenehm sein«, sagte er. »Haben Sie etwas Neues zum Fall erfahren?«
John versuchte Veränderungen in der Stimme auszumachen, aber sie klang genauso freundlich wie zuvor. Hatte Heimer Bjurwall doch etwas geahnt? Vielleicht hatte er die Unterhaltung durch die Tür belauscht. John dachte darüber nach, was er am Telefon gesagt hatte. Zwar hatte seine Mutter die meiste Zeit geredet, aber einmal hatte er sie unterbrochen, die Stimme erhoben und laut gefragt, wen sie gesehen hatte.
»Darüber kann ich leider nicht sprechen«, sagte er.
Die Schmerzen im Hinterkopf kamen in Wellen und zwangen ihn, die Augen zu schließen. Das Taubheitsgefühl hatte die Arme erreicht, und er war sich nicht sicher, ob er vom Sofa aufstehen könnte, wenn er es versuchte.
Heimer starrte auf das Handy in seiner Hand. Dann legte er es hinter sich auf das Bücherregal. Für John ein klares Zeichen. Emelies Vater hatte verstanden. Wenn nicht alles, dann zumindest genug, um zu begreifen, dass er in der Bredouille war.
Das Holster drückte auf Johns Brust, aber es war gefährlich, die Dienstwaffe in diesem Zustand zu zücken, ohne zu wissen, ob er sie kontrollieren konnte. Dennoch musste er etwas tun. Die Schmerzen in seinem Hinterkopf wüteten mit einer solchen Kraft, dass er kaum seine eigenen Atemzüge hören konnte. Er wagte es nicht, seine Beine zu bewegen, weil er befürchtete, dass sie bereits taub waren.
Er konzentrierte sich auf Heimer Bjurwalls Miene. Emelies Vater war kein Ganiru. Er hatte zwar getötet – nicht nur einmal, sondern zweimal –, kam aber dennoch aus einer anderen Welt. John hingegen war ein FBI-Agent, trainiert für solche Situationen. Wenn er nur ein Zehntel der Kapazität hatte, die er normalerweise besaß, wäre diese Angelegenheit hier in Nullkommanix erledigt.
John wartete, bis die nächste Schmerzwelle verebbt war. Dann zwang er seinen Arm, ihm zu gehorchen. Er griff unter sein Jackett, packte die Dienstwaffe und riss sie aus dem Holster.