4.
KARLSTAD, 2009
Heimer probierte den frisch gepressten Saft und stellte fest, dass die Orangen nicht seinen Ansprüchen genügten. Der Laden führte neuerdings eine andere Sorte, die nicht so süß war wie die vorherige. Er reinigte die Presse, stellte das Gehäuse in die Spülmaschine und füllte zwei Gläser. Dann servierte er eines davon seiner Frau an der Kücheninsel. Sie nahmen ihr Frühstück häufig dort ein, weil es der einzige Platz war, wo auch von Osten das Licht hereinfiel. An Tagen mit klarem Wetter konnten sie die Sonne über den Baumwipfeln aufgehen sehen.
Das Fenster war erst in letzter Sekunde eingefügt worden, und Heimer war froh, dass er sich durchgesetzt hatte. Die Lage des Grundstücks am Ufer des Vänern legte es natürlich nahe, alle Räume zum Wasser hin auszurichten. Aber Värmland bestand nicht nur aus Seen, sondern auch aus Wäldern. Heimer mochte diesen Satz. Er hatte ihn benutzt, um die Baufirma davon zu überzeugen, den Grundriss ein weiteres Mal zu überarbeiten. Im Gegenzug hatte er versprochen, dass es die letzte Änderung sein würde, die auch Leitungen oder tragende Wände betraf. Ein Versprechen, das er bereits am Tag darauf gebrochen hatte, als er mitten in der Nacht mit einer neuen Vision für das Schlafzimmer und das angeschlossene Bad aufgewacht war.
Während des Hausbaus war er ganz in seinem Element gewesen, und Sissela hatte sich ausnahmsweise aus allem rausgehalten und sein Architekturwissen respektiert. Es war noch vorhanden, auch wenn er schon seit Jahren nicht mehr in diesem Beruf gearbeitet hatte.
Heimer betrachtete seine Frau, während sie das Glas zum Mund führte. Ihre Hände sahen alt aus. Diesen Teil des Körpers konnten weder teure Wundercremes noch Schönheitschirurgen vorm Verfall bewahren. Wollte man das Alter einer Frau wissen, brauchte man nur auf ihre Hände zu schauen. Das war genauso zuverlässig wie die Radiokarbonmethode.
Dann dachte er wieder an Emelie.
Seine Gedanken schwirrten immer nur kurz in andere Richtungen, bevor sie wieder bei ihr landeten. Als hätte jemand seinen Brustkorb in einen Schraubstock gespannt und würde ihn langsam festdrehen. Er sehnte sich nach seiner Laufrunde. Er wollte einfach nur laufen, bis der Körper keine Kraft mehr für Gefühle hatte. Bis der Kopf von der vollständigen körperlichen Erschöpfung wie betäubt war.
»Es ist halb elf«, sagte Sissela. »Wir müssen etwas unternehmen.« Ihre Stimme war ruhig, aber entschlossen.
»Dieser Saft«, sagte er. »Findest du nicht, dass er irgendwie komisch schmeckt?«
»Heimer, das geht so nicht. Das Kokain in ihrem Zimmer …«
»Sie meldet sich bestimmt bald«, unterbrach er sie.
»Ich habe Angst, dass sie sich wieder etwas angetan hat. Vielleicht ist sie bei Mange, die beiden haben sich ja den Sommer über recht oft getroffen. Ich rufe Hugo an.«
Er sah ihr nach, als sie mit dem Mobiltelefon in der Bibliothek verschwand. Hugo Aglin war der Kaufmännische Geschäftsführer und das einzige Mitglied der Führungsebene von AckWe, der ab und zu ernsthaft mit Heimer redete. Er hatte unweit von ihnen ein Haus gebaut und hin und wieder um Rat gebeten, den Heimer ihm auch gern gegeben hatte. Dass jemand aus dem Unternehmen ihm etwas anderes zutraute, als nur das Geld seiner Frau auszugeben, war ungewöhnlich. Die meisten behandelten ihn so, wie Sissela es auch machte – mit künstlicher Begeisterung über seine exzentrischen Interessen. Aufmunternder Applaus für das Kind, bevor die Tür geschlossen wurde, weil die Erwachsenen sich in Ruhe unterhalten wollten. Hugo war der Einzige, dem er jemals den Weinkeller gezeigt hatte. Der Rest von diesem Pack konnte einen Barolo Riserva nicht mal von Traubensaft unterscheiden und hatte dort unten nichts verloren.
Es war leicht nachzuvollziehen, warum Sissela sich freute, dass Emelie jetzt mehr mit Hugos Sohn zu tun hatte. Er war in jeder Hinsicht eine bessere Gesellschaft als die Mädchen von den Striker Chicks, die sich auf dem Foto in ihrem Zimmer die Arme um die Schultern legten. Sissela nannte sie verächtlich Computernerds, wenn Emelie nicht zuhörte. Heimer wusste dagegen nicht, was er von Mange Aglin – oder Magnus, wie er eigentlich hieß – halten sollte. Mit seinen zurückgegelten Haaren trug er zweifellos dazu bei, dass Tynäs seinem Spitznamen The Hämptons alle Ehre machte.
Sissela hatte sich geärgert, als ein Journalist von Nya Wermlands-Tidningen zwei Punkte über das A der amerikanischen Luxuskolonie gesetzt hatte und auf diese Weise – in ihren Augen – die Gegend verhöhnte, in der sie lebten. Heimer hatte es lustig gefunden. Auf der kleinen Landzunge im Vänern wohnte immerhin auch der Eigentümer der Zeitung persönlich.
Ansonsten war der prominenteste Einwohner von Tynäs der Schlagerstar Dansbandskungen, der mehrere Millionen Platten verkauft hatte. Heimer konnte sich sehr darüber amüsieren, dass Sissela und er das Nachbargrundstück gekauft und eine Villa gebaut hatten, die das einst so beeindruckende Haus des Sängers plötzlich wie ein schlichtes Ferienhäuschen erscheinen ließ. Der Schlagerkönig hatte nie protestiert, aber während der Bauphase hatte die sonst so samtweiche Baritonstimme einen angestrengten Unterton gehabt, wenn sie sich im Supermarkt grüßten.
Der Beitrag in der Lokalzeitung hatte die Überschrift Geteilte Welten getragen und nicht nur den wohlhabenden Teil von Hammarö außerhalb von Karlstad geschildert, sondern auch die Gegend um die Fabrik in Skoghall. Dort sah die sozioökonomische Mischung anders aus, und die Einwohner mussten den Gestank der Sulfate ertragen, die bei der Produktion von Holzstoff verwendet wurden.
Tynäs und Skoghall waren nicht weit voneinander entfernt, kaum zehn Kilometer. Doch nachdem Heimer viele Jahre auf Hammarö gewohnt hatte, wusste er, dass der Abstand in Wirklichkeit größer war. Die beiden Orte waren Planeten in verschiedenen Sonnensystemen.
Er räumte das Frühstück weg und war gerade fertig, als seine Frau aus der Bibliothek zurückkam.
»Mange schläft noch, aber Hugo hat versprochen, mit ihm zu reden, sobald er wach ist. Die Kinder haben gestern eine Party bei ihm im Haus gefeiert, und es ist gut möglich, dass Emelie auch da war. Er meinte, dass wir uns keine Sorgen machen sollen.«
Sissela klang jetzt ruhiger – mehr wie ein CEO und weniger wie eine bekümmerte Mutter. Heimer beschloss, dass dies der richtige Moment war, um sie kurz allein zu lassen. Er musste seine Laufrunde absolvieren. Sowohl der Körper als auch sein Schädel brauchten das.
Eine Viertelstunde später begab er sich auf die gewohnte Runde. Er wartete, bis die neue Garmin-Uhr an seinem Handgelenk Kontakt mit dem Satelliten hatte. Dann steckte er sich die Kopfhörer in die Ohren und schaltete den MP3-Player ein. Er würde heute eine kürzere Strecke laufen und wollte einen 3:40er-Schnitt halten.
Der erste längere Anstieg kam bereits nach knapp einem Kilometer und war ein erster Indikator: An guten Tagen genoss er die Kraft in den Beinen, wenn sie sich vom Boden abstießen und ihn den Hang hinauftrugen. An anderen Tagen spürte er am Ende des Anstiegs die Milchsäure in den Oberschenkeln. Dann wusste er, dass es eine zähe Runde werden würde.
Er schielte auf die Uhr, die ihm sagte, dass der erste Kilometer hinter ihm lag. Sein Körper sprach gut an, trotz des Chaos in seinem Schädel. Oder vielleicht genau deswegen. Die Sorgen trieben ihn voran. Er musste sich quälen, so nah an die Belastungsgrenze gehen wie möglich. Nur so konnte er seine Gedanken zum Schweigen bringen.
Als der Anstieg geschafft war, bog der breite Pfad nach links ab und führte am Wasser entlang. Das war Emelies Lieblingsteil der Runde. Sie behauptete, das liege an der Aussicht auf den Vänern, der sich weiter unten ausbreitete. Er zog sie dann gern auf und sagte, der Grund sei doch wohl eher, dass dieser Abschnitt so leicht zu laufen sei und sie sich nach dem Anstieg erholen könne.
Er liebte es, mit ihr über das Laufen zu fachsimpeln. Anfangs hatte er sie zwingen müssen, ihn zu begleiten. Für jeden gelaufenen Kilometer durfte sie zwanzig Minuten an den Computer. Im Gegenzug musste er ihr versprechen, jeden Tag ein bisschen zuzusehen, wenn sie spielte.
Das hatte ihm die Augen geöffnet. Er hatte keine Ahnung gehabt, was Counter-Strike war, bevor Emelie ihn in die Geheimnisse des Spiels eingeweiht hatte. Die Regeln waren einfach. Zwei Teams mit jeweils fünf Personen. Die einen spielten die Terroristen, die anderen die Terroristenbekämpfer. Alles passierte virtuell, online und mit einer Geschwindigkeit, die ihm anfangs Kopfschmerzen bereitete, ehe sie ihn nach einer Weile faszinierte. Er begriff rasch, dass Emelie und ihre Teamkameradinnen von den Striker Chicks richtige Cracks waren und sich auf den E-Sportseiten einen Ruf gemacht hatten.
»Was würde Mama wohl sagen, wenn ich im Tennis so gut wäre wie bei Counter-Strike?«, hatte Emelie ihn gefragt, als sie es zum ersten Mal geschafft hatte, zwei ganze Runden mit ihm zu laufen und sich damit fast fünf Stunden Spielzeit verdient hatte.
Die Worte hatten ihn getroffen. Er wusste genau, was Sissela dann gemacht hätte – sie hätte die ganze Welt wissen lassen, dass ihre Tochter ein kommender Star war, und einen amerikanischen Privatcoach einfliegen lassen.
Von diesem Moment an hatte Heimer ihre Spielleidenschaft anders bewertet. Seine Tochter hatte etwas gefunden, das sie liebte, und seine Aufgabe war es, sie dabei zu unterstützen. Er hatte ihr gesagt, sie solle ihre Freundinnen von den Striker Chicks anrufen und sie bitten, zu ihnen zu kommen. Dann war er mit der ganzen Bande in den Elektronikmarkt gefahren und hatte sie das Auto mit allem vollstopfen lassen, was sie benötigten, um noch besser zu werden. Er übernahm sämtliche Kosten.
Wie Emelie ihn angesehen hatte, als er die Kofferraumtür über dem Berg von Elektronikgeräten geschlossen hatte. Diese Erinnerung hütete er wie einen Schatz. Aber das war lange her. In diesem Sommer war sie kein einziges Mal mit ihm laufen gegangen.
Seine Uhr piepste und machte ihn auf die Kilometerzeit aufmerksam. Drei Minuten und achtundfünfzig Sekunden. Das war zu langsam. Bei all den Gedanken an Emelie hatte er den Rhythmus verloren, und er zwang sich, das Tempo wieder zu erhöhen.
Als er nach dem Laufen das Haus betrat, hatte Sissela Besuch bekommen. Hugo Aglin stand neben ihr an der Kücheninsel und deutete auf einen Laptop. Vielleicht lag es nur am Licht des Bildschirms, aber Heimer fand, dass seine Gattin sehr blass wirkte.
»Tut mir leid, wenn ich dich nicht ordentlich begrüße, Hugo, aber ich bin völlig durchgeschwitzt«, sagte er und hielt die Arme hoch, um zu zeigen, wie feucht seine Handflächen waren.
»Du musst dir das ansehen«, stieß Sissela mit zusammengepressten Lippen hervor.
»Es ist ein Foto von Emelies Facebook-Seite«, erklärte Hugo. »Mange hat es mir gezeigt, als ich ihn gefragt habe, ob er weiß, wo sie steckt.«
Heimer hatte nur eine vage Ahnung von Facebook. Er hatte Emelie davon erzählen hören und verstanden, dass es eine Art Schwarzes Brett für Freunde im Internet war. Er ging zur Kücheninsel und merkte, wie er mit den Strümpfen Fußspuren aus Schweiß auf dem Parkett hinterließ.
Hugo drehte den Bildschirm zu ihm hin, und er sah das Foto. Es zeigte Emelies Unterarm mit der merkwürdigen Tätowierung, um die sie solch ein Geheimnis gemacht hatte. Das Motiv bestand aus drei Quadraten, und in zweien davon befand sich ein v-förmiges Häkchen.
Er hatte die Tätowierung zufällig gesehen, nachdem seine Tochter aus Björkbacken zurückgekommen war, und hatte versucht ihr zu entlocken, was sie bedeutete. Sehr widerstrebend hatte sie ihm schließlich verraten, dass es sich um eine Bucketlist handelte. Drei Dinge, die sie vor ihrem Tod noch tun wollte. Natürlich hatte er gefragt, was diese drei Dinge waren, aber da hatte sie nur den Kopf geschüttelt und gesagt, das werde sie niemandem erzählen.
»Siehst du«, sagte Sissela und zeigte auf das dritte Quadrat, das bislang leer gewesen war. »Sie hat sich selbst geschnitten. Sie hat sich das letzte Häkchen direkt in die Haut geritzt.«