Lily ist weg. Ich starre auf die leere Nische. Versuche zu kapieren, was ich sehe.
Nichts.
Das Nichts befindet sich zwischen der Batterie-Abgabestelle und den ineinander geschobenen Einkaufswagen neben dem Ladeneingang. Genau dort, wo Lilys Kinderwagen stehen sollte. Vor zehn Minuten habe ich ihn hier parkiert. Auf dem Kunststeinboden sehe ich die Spuren der nassen Räder. Neben mir schüttelt eine alte Frau ihren Schirm aus. Ein braunes Blatt klebt an ihrem Regenmantel. Ich weiss nicht, warum mir das auffällt.
«Ja mängisch hock i stundelang im dschungel», tönt es aus meinen Kopfhörern. Vermutlich dachte Phenomden an einen Supermarkt, als er den Song schrieb. In Scharen strömen die Leute durch die Drehtür, drängen sich vor, schneiden einander mit ihren Einkaufswagen den Weg ab. «Will i mängisch gar nüme checke, was all lüüt wänd, nei», singt Phenomden weiter. Volltreffer.
Normalerweise schlägt mein Herz im Reggaerhythmus. Doch als ich begreife, was das Nichts vor mir bedeutet, legt es ein gewaltiges Solo ein. Ich schiebe die Kopfhörer von den Ohren. Ein Gewirr von Stimmen umgibt mich. Der Lautsprecher verkündet, dass Bananen Aktion seien.
Lily mag Bananen. Sie schiebt alles in den Mund, was sie zwischen die Finger bekommt. Wenn es ihr schmeckt, macht sie ein schmatzendes Geräusch und beginnt zu schielen, als versuche sie, sich selbst in den Mund zu schauen. Einmal habe ich sie vor einen Spiegel gesetzt, damit sie den Brei sieht, der ihr aus dem Mund quillt. Aber sie hat nur mit der Hand gegen das Glas gepatscht.
Ich finde Babys nicht besonders toll. Sie können total laut sein und haben keine Stoptaste. Dass ich mit achtzehn eine kleine Schwester bekommen habe, hat mich ziemlich überrascht. Meinen Vater auch. Ich lebe seit zwei Jahren bei ihm. Aufgewachsen bin ich bei meiner Mutter. Ich war etwa sieben, als sich meine Eltern trennten. An die Zeit davor erinnere ich mich kaum. Ich weiss nur noch, dass dicke Luft herrschte. Ich meine, richtig dicke. Da war etwas. Es fühlte sich an wie das Gegenteil von dem Nichts, das ich jetzt anstarre.
Ich reibe mir die Augen. Es ist beschissen früh. Normalerweise schlafe ich um diese Zeit, zumindest wenn ich frei habe. Plötzlich geht mir ein Licht auf. Das muss ein Traum sein! Ich bin gar nicht mit Lily einkaufen gegangen – ich schlafe noch. Erleichtert greife ich nach den Kopfhörern. Mitten in der Bewegung halte ich inne. Das Nichts starrt mich vorwurfsvoll an.
Es ist kein Traum. Lily war hier.
Jetzt ist sie weg.
Als Adoda heute Morgen um halb acht Uhr gegen die Tür polterte, schlief ich tief. Adoda ist mein Vater. Eigentlich heisst er Bruno, aber niemand nennt ihn so. Adoda bedeutet Vater in der Sprache der Cherokee-Indianer. Wenn ich Kollegen erzähle, dass ich von Indianern abstamme, reissen sie Witze, fragen mich, wo meine Federn geblieben seien. Als würden die Cherokee in Federschmuck und Lendenschurz herumlaufen. Meine Grossmutter trägt ganz normale Kleider. Sie wohnt auch nicht in einem Tipi, sondern in einem Haus in den USA.
Erwachsene lassen meistens Bemerkungen über meine schwarzen Haare und dunklen Augen fallen. Sie erklären, dass sie mich für einen Asiaten hielten, trotz meiner 1.84 Meter. Auch Lily hat schwarze Haare. Sie stehen ihr vom Kopf ab wie Schnittlauch. Ihre Augen sind aber blau wie der Herbsthimmel, wenn ausnahmsweise mal kein Hochnebel über dem Mittelland liegt.
Mein Vater weckt mich nie. Meistens ist er weg, wenn ich aufstehe. Er ist Bulle. Ohne Tomahawk, dafür mit einer Heckler & Koch. Es dauerte einen Moment, bis mir heute Morgen klar wurde, was er um halb acht von mir wollte. Seine Lippen bewegten sich zwar, aber seine Worte drangen nicht zu mir durch. Sie blieben mir in den Ohren stecken. Er riss mir die Decke weg, öffnete die Fenster und drückte mir etwas in die Arme. Es fühlte sich wie eine Bettflasche an, warm und weich, nur, dass es sich bewegte. Eine Hand schnellte hervor und landete auf meinem Gesicht. Sie gehörte Lily.
Dann war der Platz neben meinem Bett leer. Ich hörte Schritte in der Küche, mein Vater rief mir etwas zu, das ich nicht verstand. Ein vertrautes Klappern liess mich aufhorchen. Er befestigte seine Handschellen am Gürtel! Was das bedeutete, wusste ich ganz genau: Die Einsatzzentrale hatte angerufen und ihn aufgeboten. Ich stöhnte laut. Lily sah mich verwundert an und begann zu plappern. Rasch setzte ich mich auf. Lily rollte von meinem Bauch und landete auf der zerknüllten Decke. Ich liess sie dort liegen und sprang aus dem Bett. Mein rechter Fuss landete in einer leeren Pizzaschachtel. Ich kickte sie zur Seite und eilte aus dem Zimmer.
Zu spät. Mein Vater war weg. Auf dem Küchentisch fand ich eine Nachricht: «Bin in einigen Stunden zurück. Keine Windeln mehr.» Eine abgegriffene Zwanzigernote lag neben einer leeren Windelpackung. Ich starrte auf die Notiz, die mir mein erstes freies Wochenende seit Ewigkeiten versaute. Als Kochlehrling musste ich oft samstags und sonntags arbeiten. Dieses Wochenende hatte ich eine ganze Menge los.
Im Schlafzimmer heulte Lily. Ihre Stimme hatte auf mich dieselbe Wirkung wie Fingernägel auf einer Wandtafel. Ich hielt mir die Ohren zu, aber es nützte nichts. Seufzend stand ich auf. Lily lag mit dem Gesicht nach unten und versuchte, sich zu drehen. Ich setzte sie auf und schob ihr ein Kissen in den Rücken. Sie kippte immer wieder zur Seite. Erst als ich aus meinen Schulbüchern und einem verstaubten Lautsprecher zwei Stützen gebaut hatte, blieb sie sitzen. Ich schloss die Fenster und löschte das Licht. Dann schaltete ich den Fernseher ein. Sofort wurde Lily still.
Ich kroch ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Endlich Ruhe. Aber schon nach wenigen Minuten begann Lily, komische Geräusche von sich zu geben. Sie klang wie ein ferngesteuertes Auto, dem die Batterie ausgeht. Sie heulte ein bisschen auf, wurde still, knatterte laut und verstummte endgültig. Da wehte ein furchtbarer Geruch zu mir herüber. Nicht einmal die Decke über dem Kopf schützte mich davor. Ich versuchte, mir einzureden, dass es nur Luft sei. Babys furzen doch auch, oder? Als sich der Gestank nicht verflüchtigte, öffnete ich vorsichtig die Windeln. Mir wurde beinahe übel. Lily sass voll in der Scheisse. Sie grinste wie für einen Werbespot und trommelte auf dem Lautsprecher herum. Staubflusen tanzten in der Luft. Plötzlich musste sie niesen. Eine weitere Duftwolke wehte in meine Richtung.
Ich hatte Lilys Windeln noch nie selber gewechselt, aber bei meinem Vater sah das ganz leicht aus. Er setzte Lily meistens in die Badewanne, zog ihr die Sachen aus und hielt sie unter den Wasserhahn. Mir kam in den Sinn, dass die Windeln ausgegangen waren. Ich könnte so tun, als wäre nichts. Ich würde erklären, ich hätte den Gestank nicht bemerkt. Aber dann müsste ich die nächsten Stunden neben Lily ausharren. Mir war jetzt schon ziemlich flau im Magen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als einkaufen zu gehen. Ächzend fischte ich ein Paar Jeans aus einem Kleiderhaufen am Boden, holte einen Energydrink aus dem Kühlschrank und schob mir die Zwanzigernote in die Hosentasche. Ich sah nicht ein, warum ich überhaupt auf Lily aufpassen sollte. Schliesslich habe ich sie nicht gemacht.
Kurz überlegte ich, alleine zum Supermarkt zu laufen. Lily mitzunehmen, war umständlich. Was aber, wenn mein Vater inzwischen zurückkehrte? Er wäre stinksauer. Ich spürte seine Wut, als stünde er direkt vor mir. Viele fürchten sich vor ihm. Er ist breit wie eine Tiefkühltruhe und manchmal genauso kalt. Aber das macht mir nichts aus. Es sind seine Augen, die mir Angst einjagen. Er braucht mich nur anzusehen, und schon fühle ich mich wie ein aufgespiesster Schmetterling.
Ich klemmte mir Lily unter den Arm, packte mit der freien Hand den Kinderwagen und schleppte beide die Treppe hinunter. Mein Magen knurrte.
Draussen in der Kälte erholte sich meine Nase wieder. Nebel hüllte das Quartier ein, so dass die Umrisse der Gebäude verschwammen. Das gab mir ein gutes Gefühl, fast, als wäre ich auch in eine Decke eingehüllt. Ein Velofahrer tauchte aus dem Nebel auf und sauste an mir vorbei. Ich schaltete meine Musik ein und atmete tief durch. Mit Reggae in den Ohren waren verschissene Windeln nur noch halb so schlimm.
Das Nichts ist immer noch da. Keine Ahnung, wie lange ich schon hier stehe und darauf starre. In einer Hand halte ich die Packung Windeln, die ich gekauft habe, mit der anderen streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht. Egal, wie oft ich blinzle, Lily bleibt weg.
«Söll i ga, söll i bliibe, z zweite oder ällei?», singt Phenomden. Woher weiss er, was mir durch den Kopf geht? Wie kommen die Kopfhörer überhaupt wieder auf meine Ohren?
Ich versuche zu überlegen, doch mein Gehirn macht nicht mit. Ich schwebe zwischen Wirklichkeit und Traum. Ein Teil von mir will nicht begreifen, was meine Augen sehen. Vielleicht versteckt sich Lily irgendwo. Sie mag es, wenn Sachen verschwinden und wieder auftauchen. Manchmal verbirgt sich mein Vater hinter einer Zeitung. Dann reisst Lily die Augen auf, doch bevor sie losheulen kann, guckt er hervor und verzieht das Gesicht zu einer witzigen Grimasse. Lily ist jedesmal total überrascht. Ich auch. Nicht, weil er wieder da ist, sondern weil ich gar nicht gewusst habe, dass mein Vater den Clown spielen kann.
Ganz ist mein Gehirn wohl doch nicht ausgeschaltet, denn mir ist klar, dass Lily nicht alleine verschwunden ist. Sie kann nicht einmal gehen. Also hat sie jemand anderswo parkiert. Vielleicht hat sie zu sehr gestunken. Ich drehe mich im Kreis und suche den Laden mit den Augen ab. Es wimmelt von Menschen.
Lily ist nicht unter ihnen.
Meine Finger greifen nach dem Zigarettenpäckchen in meiner Gesässtasche. Bevor ich nach draussen gehe, schaue ich bei den Toiletten nach. Ausser einer Kopiermaschine ist dort nichts. Es hat zu regnen begonnen. Der Himmel sieht aus wie ein Betondach. Ich stecke mir eine Zigarette zwischen die Lippen.
Kein einziger Kinderwagen steht unter dem Vordach. Rufen würde nichts nützen. Lily kann nicht antworten, sie begreift nicht einmal, dass sie Lily heisst. Lily June, genau genommen, aber niemand sagt ihr so. Mein Vater nennt sie Junebug, was auf Deutsch Junikäfer heisst. Ein Junikäfer ist eigentlich ein Schädling, der sich an Menschen festhakt, weil er sie für Bäume hält.
Ich nehme einen tiefen Zug von meiner Zigarette. Das Nikotin besänftigt meine flatternden Nerven. Doch dann meldet sich mein schlechtes Gewissen. Ich denke an amputierte Raucherbeine und zugeteerte Lungen. Kommt davon, wenn man eine Ärztin zur Mutter hat. Eigentlich ist sie Psychiaterin, aber vorher hat sie Medizin studiert. Mam erklärt mir immer wieder, dass Tabak nicht beruhigt. Er putsche sogar auf, sagt sie. Aber weil ein Raucher nikotinabhängig ist, reagiert er mit Entzugserscheinungen, wenn er zu lange nicht qualmt. Man wird zum Beispiel unruhig. Das Ganze ist eigentlich ziemlich schräg. Tabak bringt die Unruhe zum Verschwinden, die ohne Rauchen gar nicht erst da wäre. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das kapiert habe. Trotzdem schaffe ich es nicht aufzuhören.
Jetzt sind meine Nerven aber nicht nur wegen des Nikotinmangels ziemlich angespannt. Lilys Verschwinden macht mich viel nervöser. Wer klaut schon ein Baby? Noch dazu ein stinkendes?
Ich beschliesse, eine Runde um das Gebäude zu drehen. Als mir der Regen in den Kragen tropft, kommt mir in den Sinn, dass ich Lily keine Mütze übergestülpt habe. Ich beschleunige meine Schritte, spähe hinter einen Container, zwischen zwei parkierte Autos, öffne die Tür eines Wareneingangs.
«Ha si gsuecht, und ich ha si nöd gfunde», singt Phenomden. Langsam wird mir der Typ unheimlich.
Als ich wieder beim Ladeneingang ankomme, gehe ich nochmals hinein. Irgendwie hoffe ich immer noch, dass ich Lily einfach übersehen habe. Aber das Nichts starrt mich genauso vorwurfsvoll an wie zuvor. Allmählich dämmert mir, dass ich nicht träume.
Lily ist verschwunden.
Meine Knie werden weich. Plötzlich stürzen Bilder auf mich ein: Schlagzeilen über vermisste Kinder; rot-weisses Absperrband, wenn eine Leiche gefunden wird. Fotos von verhafteten Kidnappern mit schwarzen Balken über den Augen. Alles um mich herum dreht sich. Ich lehne mich gegen die Wand, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Jemand packt mich am Arm.
Es ist ein Security-Angestellter, der mich rausbefördert. Er hält mich für einen Junkie. Als er mich loslässt, stolpere ich und stosse mit dem Knie an einen Betonpfeiler. Der Schmerz jagt mir das Bein hoch. Humpelnd entferne ich mich vom Ladeneingang, unsicher, wo ich hin soll. Die Welt erscheint mir plötzlich riesig, Lily darin zu finden, unmöglich.
Die Kirchenuhr schlägt Viertel vor zehn. Sie hört nicht auf, als kündige sie den Weltuntergang an. Ich fühle mich wie in einem billigen Horrorstreifen, bis mir klar wird, dass es mein Handy ist, das läutet, nicht mehr die Kirchenglocken. Das Display zeigt einen unbekannten Teilnehmer an.
«Chris Cavalli?», fragt eine tiefe Stimme.
Ich murmle zustimmend.
«Ich habe deine Schwester!»
«Lily?», krächze ich, als hätte ich mehrere Schwestern.
«Wenn du sie lebend wieder haben willst, hör mir genau zu.»