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Ist es wirklich erst zwei Stunden her, seit Lily gekidnappt wurde? Mir kommt es vor, als irrte ich schon mein halbes Leben durch die Stadt. Ich habe immer noch nichts gegessen, aber mein Magen hat längst aufgehört zu knurren.

Ob der Russe weiss, dass er Lily füttern muss? Kennt er sich mit Kindern aus? Wenn sie Hunger hat, brüllt sie wie am Spiess. Sie macht sogar dem Baulärm vor unserer Haustür Konkurrenz. Seit die Leitungen dort ersetzt werden, geht der Krach jeden Morgen um sieben los. Lily beginnt meist schon früher. Beim Schreien verfärbt sich ihr Gesicht dunkelrot, und der Schnittlauch auf ihrem Kopf zittert, als stehe er unter Strom. Kaum schiebt man ihr den Löffel in den Mund, hört sie auf. So, als hätte jemand den Stecker ausgezogen.

Was, wenn der Russe keinen Brei hat? Keine Bananen? So wie ich Lily kenne, wird sie weitermotzen. Vielleicht wird es dem Russen zu viel, und er gibt sie zurück. Oder er bringt sie sonst irgendwie zum Schweigen. Stopft ihr zum Beispiel den Mund. Ich habe schon von Eltern gehört, die ihr eigenes Kind getötet haben, nur weil es nicht aufgehört hat zu schreien. Mein Magen macht einen Salto.

Als Regina mir damals gesagt hat, sie sei schwanger, liess mich das kalt. Für mich änderte sich wenig. Lily würde bei Regina wohnen, ich hätte mein Zimmer immer noch für mich. Dass mein Vater noch weniger Zeit haben würde, gefiel mir sogar, weil ich dadurch öfters sturmfrei hätte. Als Lily dann zur Welt kam, kam sie mir gar nicht wie ein Mensch vor. Eher wie ein Hefeteig. Der lebt auch, aber man merkt nicht viel davon, ausser, dass er aufgeht.

Jetzt merke ich, dass sie mir nicht egal ist. Sie ist meine Schwester. Wenn der Russe ihr auch nur ein Haar krümmt, wird er etwas erleben.

Mam wohnt in einem dreistöckigen Block mit Seesicht. Die Mauern sind ganz weiss wie in einem dieser Prospekte für Griechenland-Ferien. Sie behauptet zwar immer, sie müsse unten durch, weil sie so wenig Alimente bekomme. Über Geld haben meine Eltern schon gestritten, als sie noch verheiratet waren. Mam ist sauer, weil mein Vater sein Studium abgebrochen hat, um Polizist zu werden. Sie reibt ihm immer wieder unter die Nase, wie unser Leben hätte aussehen können, wenn er einen anständigen Lohn heimgebracht hätte. Was sie mit anständig meint, sagt sie nie. Ihr neuer Freund, Klaus, fährt einen Porsche. Ich schätze, das ist anständig genug. Dafür hat er eine Halbglatze. Mir gefallen die schwarzen Haare meines Vaters besser.

«Weiss sie, dass wir kommen?», fragt Julie.

«Nö.»

«Du hast nicht angerufen?» Sie schaut mich schief an. «Warum nicht?»

Weil Mam mich abwimmeln würde, denke ich. Seit sie Klaus kennengelernt hat und das Sofa neu beziehen liess, ist sie anders. Was ich treibe, ist ihr ziemlich egal, Hauptsache, ich mache keinen Ärger. Als ich bei ihr wohnte, musste ich bereits um zehn Uhr zu Hause sein, sogar am Wochenende. Sie behauptete, ich sei zu jung, um mich in der Stadt herumzutreiben. Damals war ich fünfzehn. Jede Woche schleppte sie mich ins Theater oder, noch schlimmer, in die Oper. Seit ich bei meinem Vater lebe, stellt sie keine Regeln mehr auf. Dafür gibt sie ihm die Schuld, wenn ich etwas verbocke.

«Soll ich draussen warten?», fragt Julie.

Ich schüttle den Kopf. Vor Julie wird sich Mam zusammenreissen.

«Meine Eltern würden Familienangelegenheiten unter sich regeln wollen», sagt Julie in einem skeptischen Tonfall.

Ich zucke mit den Schultern.

«Sagst du es ihr wegen Lily?», bohrt Julie weiter.

«Nö.» Mam würde eine Krise schieben. Nicht, weil ich Mist gebaut habe, sondern weil ich Lily hüten muss. Dass mein Vater und Regina ein Baby haben, findet sie das Hinterletzte. Sie behauptet, er sei psychotisch und könne deshalb keine Beziehung zu einem Kind aufbauen. Keine Ahnung, was genau sie damit meint, aber sie braucht das Wort häufig. Sie findet alle Menschen krank. Das kommt wohl davon, dass sie Psychiaterin ist. Mein Vater traut dafür niemandem. Eine Polizistenkrankheit.

Ich merke, dass ich schon ziemlich lange da stehe und das Schild neben der Klingel anstarre. Julie sieht mich schon richtig schräg an. Ich raffe all meinen Mut zusammen und läute.