13:11

Julie und Nic knien auf dem Boden. Beide tragen immer noch ihre Jacken, lange können sie also noch nicht hier sein. Sie beugen sich über einen niedrigen Glastisch. Ich sehe honigfarbenes und blondes Haar, das ineinander fliesst. Julie stützt sich mit den Ellenbogen ab, Nic hat etwas in der Hand. Hinter ihnen steht ein Chinese in einem engen T-Shirt.

Dann passiert ganz vieles auf einmal.

Nicole schnieft. Lu neigt den Kopf leicht zur Seite. Sein Blick ruht auf Nicole, so sanft, als versuche er, sie in Watte zu packen.

Leo geht tief in die Knie, wie eine Feder, die zusammengedrückt wird. Er starrt auf Lu. Auch er hat das Schniefen gehört, obwohl es nur den Bruchteil einer Sekunde nach dem Knall der Tür ertönte. Wahrscheinlich machte sich das Schniefen im gleichen Moment auf den Weg, in dem Leo Anlauf holte. Er glaubt, sie habe Angst.

Ich weiss genau, was jetzt geschehen wird. Am liebsten würde ich die Augen zukneifen, um nicht mit ansehen zu müssen, wie Leo sich verbrennt. Aber er ist zu schnell. Julie kann nicht einmal kreischen, bevor er springt. Ein ohrenbetäubendes Krachen erfüllt den Raum, als er sich mit dem Fuss vom Glastisch abstösst und dabei die Platte zerbricht. Der Hersteller hat nicht damit gerechnet, dass sie einen Shipi tragen muss, der sich auf einer Rettungsmission glaubt.

«Hey! Was soll das?» Lu geht in Kampfstellung.

Im Gegensatz zu mir versteht er offensichtlich etwas davon. Nic und Julie stieben auseinander. Jetzt sehe ich, dass sie irgendetwas auf einem Handy angeschaut haben. Nics Augen sind feucht, doch als sie begreift, dass Leo auf Lu losgeht, wirbelt sie herum.

«Leo!», ruft sie. «Spinnst du?» Sie packt ihn am Ärmel und versucht, ihn festzuhalten.

Lu stösst einen unheimlichen Laut aus, fast wie der Held in einem Kung-Fu-Film. Dabei hebt er die Hand zu einem Karateschlag.

Leos Fuss steckt im Glastisch fest. Lus Schlag wird ihn mit voller Wucht treffen. Ich frage mich, ob Leo es überleben wird. Nics Gedanken gehen offenbar in die gleiche Richtung. Aber statt wie ein Totempfahl dazustehen, wirft sie sich zwischen Lu und Leo und befiehlt beiden aufzuhören. Lu erstarrt mitten in der Bewegung. Realisiert, dass Nic den Irren in seinem Glastisch kennt. Langsam lässt er die Hand sinken. Ich bin so beeindruckt von Nics Geistesgegenwart, dass ich den Mund kaum zukriege.

Aber dann tut Nicole etwas, das sie besser gelassen hätte. Sie dreht sich zu Leo um und schmiert ihm eine. Wie eine Mutter, die ihr Kind bestraft. Während Leo zu fassen versucht, dass ein Mädchen ihn geschlagen hat, noch dazu sein Mädchen, streicht Julie ihm über den Arm und redet ununterbrochen auf Albanisch auf ihn ein. Leo sieht Nic an, dabei werden seine Augen immer düsterer. Mir fällt auf, wie die Muskeln in seinem Kiefer arbeiten.

Weil ich nicht weiss, was ich sonst tun soll, wende ich mich an Lu. «Kannst du mir Geld leihen?», platze ich heraus.

Lu bemerkt mich erst jetzt. «Was?»

Hat er ein Problem mit der deutschen Sprache oder mit meiner Frage? Ich will sie wiederholen, da geht Nic auf mich los.

«Seid ihr beide bescheuert oder was?» Sie gestikuliert wild. «Ich fass es nicht! Leo stürmt wie Rambo herein, und du hast die Manieren eines Mammuts!»

«Easy», murmle ich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Leo immer noch schnaubt. Der Mammut-Vergleich hätte besser zu ihm gepasst als zu mir, aber ich korrigiere Nic nicht.

«Wie wäre es mit Klingeln?», wettert sie weiter. «Oder mit einer normalen Vorstellungsrunde? Lu hat ziemlich viel riskiert, um Bilder von meinem Dad rauszuschmuggeln, und da kommt ihr beide und wollt ihn fertigmachen!»

Sie bringt da zwei Sachen durcheinander, aber immerhin weiss ich jetzt, was das Schniefen ausgelöst hat. Nic hängt an ihrem Dad. Dass er im Knast sitzt, ist Scheisse. Aber das kann niemand ändern, Lily hingegen muss gerettet werden.

Leo ist jetzt damit beschäftigt, seinen Fuss zu befreien.

Weil das Leben weiterzugehen scheint, frage ich Lu noch einmal wegen des Geldes.

«Wenn hier jemand Geld herausrücken sollte, dann wohl ihr zwei!», sagt Lu verärgert, auf den kaputten Glastisch deutend.

Nic legt ihm die Hand auf den Arm. «Leo ist bestimmt versichert. Es tut mir leid, das ist ein grosses Missverständnis. Leo hat nur Angst um uns gehabt.»

Lu atmet tief ein und senkt den Blick. In seinem Gesicht zuckt es, als ringe er um Kontrolle. Gleichzeitig geht etwas anderes ab, das ich nicht verstehe. Lu bewegt die Lippen, aber es kommt kein Ton heraus. Ich glaube, er spricht mit sich selbst.

«Warum?», fragt Lu endlich.

Erst jetzt sehe ich mich richtig um. Neben der roten Lampe brennen zwei Kerzen im Raum. Ein Gestell aus Bambus ist mit kleinen Buddha-Figuren gefüllt, dazwischen steht eine Vase mit Trockenblumen. Das Zimmer wirkt wie eine Gummizelle ohne Gummi. Ich habe das Gefühl, hier kann einem nichts Schlimmes passieren.

Nic sieht herausfordernd zu Leo. Als er Lus Frage nicht beantwortet, presst sie die Lippen zusammen wie Mam.

«Warum hast du vor mir Angst?», wiederholt Lu. «Weil ich im Gefängnis war?»

Leo brummt etwas, aber Lu lässt sich nicht mehr provozieren. Ruhig verschwindet er in der Küche und kommt kurz darauf mit fünf Porzellantassen zurück. Als er den kaputten Tisch sieht, zögert er. Er deutet mit dem Kinn auf eine zusammengerollte Matte in der Ecke und bittet Nic, sie auszubreiten. Lily ist jetzt wichtiger, aber bei den Chinesen ist es vermutlich wie bei den Indianern: Es gibt Sachen, die kann man nicht abkürzen.

Während Lu in der Küche Tee aufgiesst, verteilt Nic die Tassen. Leo weigert sich, eine zu nehmen. Mit einem übertriebenen Seufzer stellt Nic die Tasse vor ihn hin. Leo dreht sich um und durchquert das Zimmer, um so weit wie möglich von Nic entfernt zu sein. Mit steifem Rücken steht er neben dem Bambusgestell und starrt auf einen Buddha. Ich weiss nicht, wie ich mich verhalten soll. Meine Grossmutter hat mir einmal erklärt, ein Freund urteile nicht, sondern stehe einem zur Seite, bis die Einsamkeit oder die Sorgen verschwänden. Sie hat mich auch gefragt, ob ich jemanden hätte, den ich als Freund bezeichnen würde. Da erzählte ich ihr von Leo.

Deshalb schiebe ich jetzt die Hände in die Hosentaschen und stelle mich neben ihn. So zeige ich ihm, dass ich zu ihm halten werde, egal, was kommt. Gemeinsam betrachten wir den Buddha. Langsam entspannt sich Leo. Als ich mit dem Finger den dicken Bauch der goldenen Figur anstupse, lächelt mein Freund sogar ein wenig. Inzwischen ist Lu mit einer Kanne Tee aus der Küche gekommen. Nic befiehlt uns, uns zu setzen. Leo ignoriert sie einfach. Ich auch. Zum Glück begreift Lu, dass Leo noch einen Moment Zeit braucht. Er beginnt, von Nics Dad zu erzählen. Ich erfahre, dass Mark einige Brocken Chinesisch kann, den Kartoffelstock aus der Gefängnisküche nicht mag und seine Mitgefangenen in Börsenfragen berät. Lu erklärt, dass jetzt viele Insassen ihren mickrigen Lohn in Wertschriften investierten, weil sie glaubten, bis zu ihrer Entlassung reich zu werden. Hoffentlich klappt es, sonst hat Mark ein Problem.

Julie bombardiert Lu mit Fragen. Schweigen findet sie genauso anstrengend wie ich reden. Sie will alles über den Gefängnisalltag wissen, vor allem, wie die Anstaltskleidung aussieht und aus welchem Stoff sie genäht ist. Julie will später Modedesignerin werden. Vielleicht überlegt sie sich, eine Schweizer Version des Knast-Looks zu entwerfen. Die tiefsitzenden Hosen der Hip-Hopper gehen schliesslich auch auf Gefängniskluft zurück. In den USA dürfen Häftlinge nämlich keine Gürtel tragen.

Irgendwann ist Leo so weit, dass er sich dazusetzen kann.

Nachdem Lu einige Schlucke Tee getrunken hat, stellt er seine Tasse hin. «Also, worum geht es hier? Wer braucht Geld?», fragt er.

«Ich», melde ich mich.

«Und warum?»

Lu scheint zwar in Ordnung zu sein, aber trotzdem ist mir nicht wohl bei der Vorstellung, ihm alles zu erzählen. Ich sehe immer wieder seine Zuckungen vor mir. Nic will an meiner Stelle eine Erklärung abgeben, da gibt Lu ihr ein Zeichen.

«Schon gut», sagt er. «Ich respektiere Privatsphäre. Sag mir nur eines: Bist du in etwas Illegales involviert?»

«Nicht direkt», murmle ich.

Er wartet.

«Ich brauche das Geld, um jemandem zu helfen», erkläre ich.

Lu nickt. «Okay. Wie viel?»

«680 Franken.»

Lu zuckt wieder, aber diesmal wohl vor Schreck über den hohen Betrag. Rasch füge ich hinzu, dass er das Geld nächste Woche wiederbekomme. Nic nickt energisch.

«Also gut», sagt Lu. «Ich leih dir den Betrag.»

Mir fällt ein Stein vom Herzen. Hätte Red Bull einen Werbespot mit mir drehen wollen, ich bin sicher, dass ich in diesem Moment eine Flugnummer abziehen könnte. Meine Erleichterung ist so gross, dass ich zuerst gar nicht begreife, was Lu als Nächstes sagt. Ich sehe nur Lily in Gedanken und schwöre mir, dass ich als Erstes Bananen kaufen werde, wenn sie wieder frei ist. Wir werden ein richtiges Bananenfest veranstalten.

«… sagen wir um 10 Uhr?», fragt Lu.

«Was?»

«Treffen wir uns Montagvormittag?», wiederholt Lu. «Um …»

«Das ist zu spät!», unterbreche ich. «Ich brauche das Geld jetzt!»

Lu schaut von mir zu Nic. «Ich … heute ist Samstag.»

Ist Lu etwa Jude? In der achten Klasse ging ein Jude mit uns zur Schule. Samstags durfte er den Lichtschalter nicht bedienen, von einem Bancomaten ganz zu schweigen. Seine Mutter kochte bereits am Vortag das Essen, so dass sich die Familie nur noch an den Tisch setzen musste. Stühle zurückschieben ist erlaubt.

«Jemand ist dringend auf unsere Hilfe angewiesen», erklärt Nic, die auch nicht begreift, was es mit dem Samstag auf sich hat.

«Samstags haben alle Banken geschlossen», sagt Lu.

«Die Bancomaten funktionieren», helfe ich ihm. Vielleicht war er so lange im Gefängnis, dass er vergessen hat, wie es draussen zu und her geht.

Lu senkt den Blick. Irgendetwas verheimlicht er.

Leo steht auf und deutet steif auf die Scherben. «Sorry. Ich werde die Glasplatte ersetzen. Danke für den Tee.» Er schaut uns an. «Gehen wir?»

Ich verstehe die Dringlichkeit in seiner Stimme nicht. Plötzlich will er nur noch weg. Er ist schon an der Tür, als er merkt, dass Nic sitzen geblieben ist. Julie hat sich halb erhoben, und ich bin zwar aufgestanden, von Red-Bull-Flügeln spüre ich aber nichts mehr.

«Los!», drängt Leo.

Er klingt seltsam. Hat er etwa Angst? Das ist so aussergewöhnlich, dass ich erst recht stehen bleibe. Er schielt immer wieder zur Tür.

Lu fällt das auch auf. Er faltet die Hände und seufzt. «Ich tu euch nichts», beruhigt er Leo. «Ich kann euch das Geld nicht geben, weil ich keine EC-Karte habe. Ich muss mich erst noch organisieren. Das ist alles. Eine Kreditkarte besitze ich sowieso nicht. Dafür muss die Bank einen Kunden für vertrauenswürdig halten.»

Bis jetzt hatte Lus Haut die Farbe von Zwieback. Auf einmal wird sie etwas dunkler, als würde man den Zwieback in Tee tauchen. Entweder ärgert er sich, oder die ganze Sache ist ihm peinlich. So oder so, er gibt uns gegenüber nicht gern zu, dass er kein Geld abheben kann.

«Wann sind Sie rausgekommen?», fragt Leo, dem Lus Wohlbefinden egal ist.

«Kürzlich.»

«Wie lange waren Sie drinnen?», bohrt Leo.

«Leo!», fährt Nic ihn an. «Das ist wirklich nicht wichtig! Was sollen die Fragen? Glaubst du im Ernst, Lu will uns etwas antun?»

Offenbar ist Leos Frage doch wichtig, denn Lu schweigt weiterhin. Die Luft ist so dick, dass ich mich fast daran verschlucke.

«Sieben Jahre», sagt Lu endlich. Er schaut Leo dabei direkt in die Augen.

Wer einen Polizisten zum Vater hat, weiss, was sieben Jahre bedeuten. Lu muss ziemlich Scheisse gebaut haben. Für Betrug, Diebstahl oder Einbrüche kriegt keiner eine so hohe Strafe. Plötzlich wird mir auch mulmig. In Gedanken höre ich Lus Kampfschrei.

Leo kommt zurück, packt Julie am Arm und zieht sie zur Tür. Ich schleiche ihnen nach. Nic bleibt mit einem trotzigen Ausdruck sitzen.

«Einen Moment», ruft Lu, als Leo die Tür aufreisst.

Er kramt aus seiner Hosentasche einige Scheine und Münzen hervor und streckt sie mir hin. Zuerst will ich sie nicht nehmen, aber Lu blickt mich an wie ein angeschossenes Reh. Ich quetsche ein «Danke» heraus, bevor ich mit eingezogenem Kopf die Wohnung verlasse.

Nic macht keinen Wank. Dass Leo trotzdem geht, ist kein gutes Zeichen. Julie ist hin- und hergerissen, aber schliesslich bleibt ihr keine Wahl. Leo packt sie an der Schulter und schiebt sie die Treppe hinunter.

Draussen zähle ich das Geld. Es sind 54.60 Franken.

Auf dem Weg zur Tramhaltestelle wechseln wir kein Wort. Nicht einmal Julie sagt etwas. Ihre Augen sind feucht, aber ich weiss nicht, ob sie Angst um Nic oder Mitleid mit Lu hat. Vielleicht macht sie sich auch Sorgen, weil es zwischen Nic und Leo aus zu sein scheint. Jetzt, da mein Adrenalinspiegel langsam wieder sinkt, beginnt meine Nase stärker zu schmerzen. Auch der Schlafmangel macht sich bemerkbar.

Obwohl Nic ihn unter der Gürtellinie getroffen hat, kann Leo noch denken. Während wir auf den Zweier warten, plant er den nächsten Schritt. «Chris, du gehst jetzt zum Hotel. Du hast die Küchenhilfen noch nicht angepumpt, oder?»

«Nö.»

«Julie und ich fahren zum Russen. Wenn er zu Hause ist, rufen wir dich an. Dann brauchen wir dich dort. Wenn nicht, suchen wir weiter nach ihm.»

«Und Nic?», piept Julie.

Leo tut, als hätte er den Namen noch nie gehört.

Ich steige eine Station früher aus und nehme eine Abkürzung durchs Rotlichtmilieu. Als ich einen Dealer beobachte, der seine Ware unter der Zunge versteckt, kommt mir eine Idee. Ich könnte einen Teil des Grases auf der Gasse verkaufen. Meine Kollegen wären zwar sauer, weil ich morgen Abend zu wenig dabeihätte, aber das ist mir jetzt egal. Ich kann mir sowieso nicht mehr vorstellen, warum mir das Kiffen je wichtig war. Bevor ich den Gedanken zu Ende denke, heult mein Handy auf. Ich bleibe wie versteinert stehen. Der Dealer blickt geschockt in meine Richtung.

Es gibt nur eine Telefonnummer, der ich den Klingelton «Polizeisirene» zugeteilt habe – das Handy meines Vaters.