Er ist da!», zischt Leo.
«Wer?»
«Der Russe!»
Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. «Lily?»
«Sehe ich nicht. Komm her! Ich brauche Verstärkung.» Er nennt mir die Adresse.
«Mir fehlen immer noch fünf Lappen!»
«Egal! Wir schnappen uns Lily und hauen ab!»
Nic presst sich gegen mich, damit sie mithören kann. Leo erteilt mir Anweisungen. Er will, dass ich mich heranschleiche, damit mich der Russe nicht kommen sieht. Er beschreibt mir den Weg durch die Siedlung. Ich versuche, mir alles zu merken. Nic lenkt mich ziemlich ab. Ihre Wange ist nur einen Zentimeter von meiner entfernt. Ich kann den Erdbeergeruch ihres Lipglosses riechen. Mein Kopf spaltet sich in zwei Teile. Die Angst um Lily verkriecht sich in die eine Hälfte, während sich die andere fragt, wie weit Nic und Leo schon gegangen sind.
Nic zerrt an meinem Ellenbogen und deutet auf ein Tram, das sich der Haltestelle hinter dem Kiosk nähert. Mein Kopf fügt sich wieder zu einem Ganzen zusammen. Wir spurten quer über die Traminsel, besser gesagt, sie spurtet, und ich versuche, Schritt zu halten. Sie bleibt auf dem Trittbrett stehen, bis ich komme.
Erst als wir losfahren, überlege ich, wie wir das mit Lily anstellen sollen. Was, wenn der Russe doch nicht allein ist? Vielleicht hat er sogar eine Waffe. Noch schlimmer: Vielleicht hat Leo eine Waffe! Eine Zeit lang hatte er immer ein Klappmesser bei sich, weil er verprügelt worden war. Nic hat es ihm abgenommen, aber heute würde er vermutlich nicht mehr auf sie hören. Nicht nach der Ohrfeige.
Nic macht wieder ihre Fingerübungen. Daran merkt man, dass sie nervös ist. Ich biete ihr meine Kopfhörer an, doch sie will nicht Musik hören.
«Hat Leo wirklich geglaubt, Lu würde mir etwas antun?», fragt sie.
Ich nicke.
Sie starrt aus dem Fenster. «Weisst du, mein Dad hat andauernd über Lu geschrieben. Sie wollen gemeinsam etwas aufbauen, wenn er wieder draussen ist.»
«Wie lange sitzt er noch?»
«Zwei Jahre.» Ihre Stimme wird leise. «Ich weiss nicht, was Mark ohne Lu macht. Sie haben immer zusammen Tischtennis gespielt.» Plötzlich sieht sie mich an. «Sorry! Ich rede hier über meine Sorgen, dabei steckst du total in der Klemme. Und Lily …»
«Schon gut.»
Sie verstummt, und wir starren beide aus dem Fenster. Als sie den Kopf an die Scheibe lehnt, erinnert sie mich an einen Schwan. Früher habe ich vor Schwänen Angst gehabt. Mich hat mal einer gebissen, als ich ihm Brot fütterte. Es kam so überraschend, dass ich nicht reagieren konnte. Statt das Brot loszulassen, hielt ich es weiter fest.
Wenigstens kommen Nicoles Angriffe nicht überraschend. Sie spielt einem nichts vor. Ich glaube, Leo wäre es manchmal lieber, sie wäre nicht so direkt. Aber Zurückhaltung ist nicht ihr Ding. Bei den Cherokee ist Harmonie total wichtig. Das Wohl der Gemeinschaft geht über das Wohl des Einzelnen. Leo behauptet, bei den Albanern sei das auch so. Deshalb ist die Familie so wichtig. Ich schätze, Indianer und Albaner haben einiges gemeinsam. Nur gehören bei uns Frauen auch zur Gemeinschaft.
«Hat Leo etwas über New York gesagt?», reisst mich Nic aus meinen Gedanken.
«New York?»
«Wenn ich ein Stipendium gewinne, beginne ich im Frühling mit der Schule.» Nic faltet die Hände und drückt sie durch. «Meinst du, er wird auf mich warten?»
«Warten?»
«Bis ich zurückkomme.»
«Wie lange?»
«Vier Jahre.»
Ich versuche, meine Überraschung zu verbergen. Ich habe gedacht, eine Tanzausbildung sei eine kurze Sache. Irgendwann kann man die Schritte doch, oder?
«Wenn er einen Schweizer Pass hätte, könnte er mich ohne Visum besuchen. Ich glaube, er hat überhaupt keinen Pass.» Nic sieht mich an. «Bist du eigentlich Doppelbürger? Dein Vater ist doch Amerikaner.»
Ich schüttle den Kopf. «Mam hält nicht viel von den Amis.»
«Warst du schon mal in den USA?»
«New York.»
Früher erzählte mein Vater oft vom Reservat. Er versprach, mir alles zu zeigen, wenn ich alt genug sei. Die Stadt Cherokee liegt am Fuss der Smoky Mountains, einem Nationalpark. Obwohl ich Wandern öde finde, würde ich mir das gerne ansehen. Meine Grossmutter wohnt etwas ausserhalb von Cherokee. Vielleicht gehe ich sie einmal allein besuchen.
«Ich habe Angst, dass er mich vergisst», sagt Nic leise. «Und am Schluss doch eine Albanerin heiratet.»
Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Als sie Leo kennenlernte, riet ich ihr, die Finger von ihm zu lassen. In der Regel mische ich mich nicht in Sachen ein, die mich nichts angehen. Aber schon damals tat sie mir leid. Sie gab sich zwar zickig, aber eigentlich war sie einsam. Warum hätte sie sonst zu mir kommen sollen, um zu zocken? Mädchen haben Besseres zu tun.
Sie seufzt und lehnt den Kopf gegen meine Schulter. Das ist neu. Während das Tram langsam von Haltestelle zu Haltestelle rattert, überlege ich, ob mir das gefällt oder nicht. Offenbar kommt es ihr nicht in den Sinn, dass mich das anturnen könnte. Ich bin wie ein Bruder für sie. Hoffentlich erwartet sie nicht zu viel. Dass ich als Bruder wenig tauge, kann Lily bezeugen.
Unterwegs will Nic meine Eindrücke von New York hören. Viel zu erzählen gibt es nicht. Mam hat mich vor allem in Kleidergeschäfte und Museen geschleppt.
Wir sind fast am Ziel. Meine Nerven sind gespannt wie Gitarrensaiten. Ich tröste mich damit, dass bald alles vorbei sein wird. Irgendwie werden wir Lily zurückkriegen. Leo wird sich etwas einfallen lassen. Nur eines beunruhigt mich: Er weiss nicht, dass Nic mitkommt. Wenn er sie sieht, wird er sich an die Ohrfeige erinnern. Das ist, als würde man sich direkt vor einen Stier stellen und mit einem roten Tuch winken.
«Ähm, Nic?»
«Ja?»
«Ich schätze, du könntest dich bei Leo entschuldigen.»
Ihr Kinn schiesst in die Höhe. «Wenn du die Ohrfeige meinst – er hat sie verdient!»
«Easy.»
«Und überhaupt, was geht dich das an?»
«Bin einfach gegen Gewalt», murmle ich, weil die Erklärung mit Lily zu kompliziert ist. Ganz unerwartet lande ich einen Volltreffer.
Nic schaut beschämt zu Boden. Schweigend warten wir, bis das Tram hält. Als die Tür aufgeht, springt Nic hinaus und übernimmt das Kommando. Sie zeigt auf einen Weg, der an einer Hecke entlangführt. Genau so hat Leo den Schleichweg beschrieben.
«Hier lang», sagt Nic und deutet auf eine Fahrverbotstafel. «Dort vorne müssen wir nach links!»
Ich muss mich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten. Das Pochen in meiner Nase passt sich meinem Herzschlag an. Ich lasse im Kopf einen Song ablaufen, um nicht an den Russen zu denken. Den linken Fuss setze ich beim ersten und dritten Schlag nur leicht auf, den zweiten und vierten Schlag betone ich mit dem rechten Fuss. Tic, tac, tic, tac. Der Reggaepuls. Yeah.
«Chris! Mach schon!», ruft Nic.
Sie ist bei einem Velounterstand angekommen. Ich stelle den Song im Kopf ab und schaue mich um. Die Siedlung ist topmodern. Zwischen den roten Häuserblocks befinden sich wuchtige Betonquader. In den Fensterfronten spiegelt sich der graue Himmel.
Nicole dehnt ihre Beinmuskeln, bis ich sie eingeholt habe. Mit einer Kopfbewegung deutet sie auf ein Gebäude vor uns. «Das ist Nummer 32. Direkt dahinter wohnt der Russe.»
«Leo hat gesagt, er warte bei der Garageneinfahrt.»
Diese befindet sich hinter dem Gebäude. Als wir darauf zusteuern, halte ich nach Leo und Julie Ausschau. Viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, gibt es hier nicht. Die Siedlung erinnert mich an eine Landschaft im Game «Call of Duty». Sie ist genauso kahl. Nirgends wächst auch nur ein Grasbüschel. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen.
Neben der Einfahrt führt eine Treppe hinunter zur Tiefgarage. Plötzlich taucht eine pinkfarbene Haarsträhne auf und verschwindet gleich wieder. Kurz darauf kommen Julie und Leo hervor. Leo öffnet den Mund, um etwas zu sagen, da sieht er Nic. Seine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, und er bläht die Nasenflügel, ganz der Stier.
Ich weiss, es hat keinen Zweck, mich einzumischen. Resigniert suche ich nach meinen Zigaretten, bis mir wieder in den Sinn kommt, dass ich keine mehr habe. Shit.
Nic macht einen Schritt auf Leo zu und bleibt vor ihm stehen. Der Wind weht ihr das Haar ins Gesicht, aber sie bewegt sich nicht. Wie eine Marmorstatue steht sie da. Ich kenne niemanden, der das so gut kann wie sie. Das kommt vermutlich vom Ballett. Ich weiss nicht, ob sie Leo einzuschüchtern versucht, wenn ja, gelingt es ihr nicht. Ich sehe ihm an, dass er innerlich kocht. Es ist, als sei die Luft um ihn herum lebendig. Ich muss an Schimmelpilz denken. In der Berufsschule habe ich gelernt, dass der graue Flaum nicht so schlimm ist. Wirklich giftig sind die Sporen des Pilzes, aber die sieht man nicht. Trotzdem leben sie. Wie unsichtbare, gefährliche Ungeheuer.
Auch Julie spürt Leos Wut. Sie weicht zurück und wirft mir einen unsicheren Blick zu.
Die längste Zeit starren sich Leo und Nic einfach an. Vor Anspannung wird mir fast übel. Gleichzeitig fällt mir auf, wie gut sie zueinander passen. Trotz der Unterschiede sind sie auf eine seltsame Art gleich. Sie sind wie zwei Magnete. Im Moment stehen sie einfach verkehrt herum. Deshalb stossen sie sich ab. Aber wenn sich einer der beiden um 180 Grad drehen würde, kämen sie nicht mehr voneinander los. Die Frage ist nur: Wer macht den ersten Schritt?
Es ist Nicole. Ich bilde mir ein, dass das mein Verdienst ist, weil ich ihr ins Gewissen geredet habe.
«Es tut mir leid», sagt sie geradeheraus. Kein Nuscheln, kein beschämter Blick, kein Erröten.
Leo entspannt sich ein wenig, wartet aber noch ab. Ich will ihm sagen, dass er jetzt dran wäre. Ein Flugzeug fliegt über uns hinweg und durchbricht die angespannte Stille. Als es sich entfernt, streckt Nic die Hand aus. Leo nimmt sie nicht. Dafür zieht er Nic in seine Arme und beugt sich vor, um sie zu küssen. Nicht sehr liebevoll, meiner Meinung nach, aber Nic lässt es durchgehen. Das gehört wohl auch dazu, wenn man einen Macho zum Freund hat. Warum das Mädchen mögen, ist mir ein Rätsel.
Ich merke, dass ich immer noch Hunger habe und ziemlich müde bin. Und dass ich Lily vermisse.
Noch gestern hätte ich das für unmöglich gehalten. Nein, nicht für unmöglich, es wäre mir einfach nicht in den Sinn gekommen. Man kann keine Meinung über etwas haben, an das man gar nie denkt.
Plötzlich bin ich ungeduldig. «Wo ist der Russe?»
Leo reisst sich von Nics Lippen los. «Zu Hause. Wir haben ihn durchs Wohnzimmerfenster gesehen. Das Problem ist, dass es hier nirgends Deckung gibt. Ihn zu beobachten, ist verdammt schwierig. Wir müssen …»
«Lily?», frage ich aufgeregt.
Leo schüttelt den Kopf. «Nur der Russe.»
Ich schnappe nach Luft.
«Easy», beruhigt mich Leo. «Von aussen sieht man nicht gut in die Wohnung hinein. Die Scheibe spiegelt alles. Lily ist sicher in einem anderen Zimmer.»
«Und wie kommen wir rein?»
Leo erzählt uns, wie er sich das vorstellt. Julie soll klingeln, weil sie harmlos aussieht. Sobald der Russe öffnet, stürmen Leo und ich hinein und holen uns Lily. Nic behält die Terrasse im Auge, falls der Russe abhauen will.
«Was, wenn er nicht allein ist?», frage ich.
Leo knackt mit den Knöcheln. «Das Risiko müssen wir eingehen.»
Seine Augen leuchten, als freue er sich auf die Aktion. Dass er dabei eins aufs Dach kriegen könnte, stört ihn nicht. Schläge steckt Leo weg wie ich enttäuschte Blicke. Vielleicht gewöhnt man sich an alles.
Nic verdirbt Leo kopfschüttelnd die Freude. «Zu heikel.»
Leo holt schon Luft, aber sie spricht rasch weiter. «Was, wenn Lily doch nicht in der Wohnung ist? Dann weiss der Russe, dass Chris das Geld nicht hat. Er könnte Lily etwas antun! Wir müssen zuerst herausfinden, wo sie ist.»
«Und wie stellst du dir das vor?», spottet Leo. «Klingeln und fragen?»
Nics Kinn schiesst in die Höhe. «Kein Grund, deswegen gleich einzuschnappen!»
«Ich könnte alleine hineingehen», schlägt Julie vor. «Sobald ich Lily sehe, gebe ich euch ein Zeichen!»
«Vergiss es!», fährt Leo sie an.
Nic legt ihm die Hand auf den Arm. «Das ist eine super Idee! Wenn Julie …»
«Gjyle geht nicht allein hinein! Das lass ich nicht zu!»
Manchmal vergesse ich, dass Julie in echt Gjyle heisst. Weil das niemand aussprechen kann, nennt sie sich Julie. Meist macht Leo mit, aber wenn er aufgeregt ist, kommt nur noch Albanisch aus seinem Mund. Und jetzt ist er auf hundertachtzig. Er trägt die Verantwortung für seine Schwester. Wenn ihr etwas zustösst, muss er den Kopf hinhalten. Doch hier geht es nicht nur um seine Schwester, sondern auch um meine. Und Lily kann sich nicht so gut wehren wie Julie. Deshalb bin ich für den Plan.
«Hey, Kumpel», beruhige ich Leo. «Was kann schon passieren? Wir sind ja da.»
Julie nickt energisch. «Ich bleib nur ganz kurz in der Wohnung!»
Leo spannt die Muskeln an und knirscht mit den Zähnen. Ich werde nur schon vom Zusehen nervös.
«Nicole könnte mit reinkommen», meint Julie. «Zu zweit geschieht uns bestimmt nichts.»
Leo bleibt stehen. Immerhin überlegt er es sich. Ich werfe ihm den verzweifeltsten Blick zu, den ich drauf habe. Er ist nicht mal gespielt.
«Bitte!», fleht Julie.
«Also ich finde die Idee super!» Nicole stützt die Hände in die Seiten.
Wenn sie sich jetzt nur nicht aufspielt. Leo muss das Gefühl haben, es sei sein Plan. Dann macht er mit. Deshalb bitte ich ihn, die Sache einfach mal durchzudenken.
«Könnten Julie und Nic unter einem Vorwand klingeln?», frage ich ihn. «Hast du eine Idee, wie sie reinkämen?»
Leo grübelt. Seine Kiefermuskeln entspannen sich. Auch sein Atem geht wieder normal. Konzentriert schaut er zu Boden. Julie hält die Luft an.
«Sie könnten so tun, als wollten sie jemanden in der Siedlung besuchen», beginnt er langsam. «Nur finden sie die Person nicht.»
Ich mache ein Geräusch, das ermutigend klingen soll. Wegen meiner Nase erinnert es mich eher an ein Grunzen.
«Sie nennen einen Namen, der nicht existiert.» Leo dreht sich zu Julie hin. «Glaubst du, du kannst den Russen dazu bringen, dir zu helfen? Wenn du einen Zettel mit einer falschen Adresse hervorholst, schaut er den Namen vielleicht im Internet nach.»
«Klar! Das schaff ich locker!»
Leo wendet sich an Nic. «Während der Russe am PC sitzt, siehst du dich in der Wohnung um.» Plötzlich merkt er, was er da sagt. «Aber vorsichtig!»
«Ich könnte fragen, ob ich das Klo benützen dürfe», schlägt Nic vor.
Julie nickt.
Leo erklärt, dass wir im Treppenhaus warten würden. Wenn Julie und Nic wieder herauskämen, sollten sie in der Tür stehen bleiben und laut wiederholen, in welchem Zimmer sich Lily befinde.
«Dann stürmen wir die Wohnung!», schliesst Leo.
«Guter Plan», lobe ich ihn.
«Chris sollte vielleicht nicht direkt vor der Tür warten», wirft Nic ein. «Sondern nur du.»
«Warum?», frage ich.
Nic beisst sich auf die Unterlippe. «Vertrau mir.»
«Kapier ich nicht.»
«Weil Lily vielleicht nicht dort ist!», seufzt Nic.
«Hä?»
Nic unterdrückt ein Augenrollen. «Wenn Lily nicht dort ist und der Russe dich sieht … du weisst schon.»
Hätte ich doch nicht gefragt.
Es gibt noch ein Problem. Jemand muss die Terrasse im Auge behalten. Nic sieht Leo herausfordernd an. Wieder schüttelt er den Kopf.
«Ich bin schnell», sagt sie. «Wenn der Russe abhaut, hol ich ihn problemlos ein. Chris hat keine Chance.»
«Mann, ich lasse Gjyle nicht alleine hinein!»
«Was kann schon passieren?», bohrt Nic. «Im schlimmsten Fall rufen wir die Bullen!»
Ich schnappe nach Luft, doch sie wirft mir einen warnenden Blick zu und redet weiter auf Leo ein. Sie kann echt überzeugend sein, wenn sie will. Nach einigen Minuten weiss Leo gar nicht mehr, was er denken soll. Als sie ihn küsst, gibt er endlich nach.
Julie strahlt wie ein Scheinwerfer. Der Russe wird sich nichts dabei denken, wenn sie bei ihm klingelt. Julie traut man nichts Böses zu, obwohl sie ziemlich hinterlistig sein kann, wenn sie will. Sie ist ein bisschen wie der Samichlaus, der mich als Kind besucht hat. Mit fröhlichem Glockengebimmel kam er ins Wohnzimmer, nur um aufzuzählen, was ich alles falsch gemacht hatte.
«Alles klar?», fragt Leo.
Wir nicken.
Meine Handflächen sind feucht. Ich stelle mir vor, wie ich in wenigen Minuten mit Lily im Kinderwagen abhaue. Sie mag es zu rasen. Manchmal nimmt mein Vater sie auf seine Joggingrunde mit. Wenn sie zurückkommen, ist Lilys Gesicht rot vor Aufregung und braun von den Tannenzapfen, auf denen sie immer herumkaut. Regina weiss nichts davon. Bakterien hält sie für richtig gefährlich. Weil Lily zu früh auf die Welt kam, hat sie anscheinend nicht so viele Abwehrkräfte wie andere Kinder. Mein Vater behauptet, genau deswegen müsse sie im Dreck wühlen. Damit sie stark wird. Bei mir hat es funktioniert. Ich bin nie krank.
Nic gibt Leo einen letzten Kuss, bevor sie sich auf den Weg macht.
«Geh nicht zu nah ran!», sagt er.
«Klar.» Sie geht die Garageneinfahrt hinauf und verschwindet um die Ecke. Ein weiteres Flugzeug nähert sich und übertönt ihre Schritte.
«Hast du einen Schreiber?», fragt Julie.
Leo sieht sie verständnislos an.
«Für den Zettel! Mit dem falschen Namen.»
Leo schaut mich an.
«Sorry», murmle ich.
Wir starren uns an. Keiner sagt etwas. Der Wind bläst einige Blätter in die Garageneinfahrt. Das Problem mit Leo ist, dass er die Dinge manchmal nicht ganz durchdenkt. Er hat super Ideen, die er sofort umsetzt. Zu spät merkt er, dass er irgendeine Kleinigkeit übersehen hat. Deshalb ist er letzten Frühling fast ertrunken. Er wollte mitten auf dem See von einem Boot aufs andere springen. Dabei vergass er, dass er nicht schwimmen kann.
«Ich könnte die Adresse in mein Handy tippen», schlägt Julie vor. «Das macht sowieso mehr Sinn. Ich meine, wenn ich mir etwas notiere, dann mache ich das immer so.»
Leo schaut sie an. Er hat immer noch nicht kapiert, wie schlau Julie ist. Für ihn ist sie einfach seine kleine Schwester. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Lily irgendwann Dinge verstehen wird, die ich nicht begreife. Aber vermutlich wird es so sein. Lily weiss jetzt schon, wie sie alles bekommt, was sie will.
Julie wartet Leos Antwort nicht ab. Sie nimmt ihr Handy hervor und gibt eine Notiz ein. Ihr Telefon steckt in einer flauschigen, neongrünen Hülle. Ich frage mich, wie sie die Tasten findet.
«Bereit!», sagt sie nach wenigen Sekunden. «Es kann losgehen.»