Chris!» Nics Stimme ist inzwischen schrill.
«Hä?»
«Wo bist du? Was war mit Carla?»
«Ähm …»
«Wie viel hat sie dir gepumpt?»
Mein Blick klebt noch am Mercedes, der immer kleiner wird. Bereits beginnt es zu dämmern. Einzelne Lichter brennen in den Gebäuden. Das Stadtviertel sieht aus wie ein Schachbrett, das zum Leben erwacht. Früher habe ich gerne Schach gespielt. Aber nach meinen eigenen Regeln. Ich wollte die Bewegungsfreiheit der Figuren nicht einschränken. Ich fand es toll, wenn sie überallhin durften. Manchmal verliessen sie sogar das Spielfeld. Besonders gefallen hat mir der Turm.
«Sag endlich etwas!», schreit Nic.
Ich zucke zusammen. «Nö.»
«Was soll das heissen?»
«Hat nicht geklappt.»
«Sie hat dir nichts geliehen?»
«Nö.»
Endlich senkt Nic die Stimme. «Das tut mir leid, ich dachte … ich war mir so sicher. Normalerweise ist sie nicht so. Vielleicht hat sie dich doch nicht erkannt.»
Ich sage nichts.
«Hast du etwas von Leo gehört? Julie und ich sind bereits beim Warenhaus. Julie hat übrigens die Windeln mitgebracht, die du bei Ramadanis vergessen hast.»
Jetzt macht sie es schon wieder. Worauf soll ich antworten? Zum Glück rauscht es in diesem Moment. Rasch breche ich die Verbindung ab. Nic wird glauben, der Empfang sei gestört. Ich muss mich jetzt darauf konzentrieren, an die Bahnhofstrasse zu kommen. Wenn ich den Russen warten lasse, wird er sauer. Ein Blick aufs Display zeigt mir, dass ich genau acht Minuten Zeit habe. Um eine Strecke zurückzulegen, für die ich normalerweise eine halbe Stunde brauche. Das schafft nur Leo. Verzweifelt blicke ich mich um. Kein Bus in Sicht. Dafür fährt ein Taxi vorbei. Lohnt es sich, einen Teil des Geldes dafür auszugeben? Ich weiss nicht, wie lange die Fahrt an die Bahnhofstrasse dauert. Besser, ich gehe das Risiko nicht ein.
Schicksalsergeben setze ich mich in Bewegung. Meine Beine fassen es nicht, dass sie schon wieder stressen müssen. Während ich die Strasse entlangrenne, strecke ich den Daumen raus. Vielleicht nimmt mich jemand mit. Weil das Pflaster auf meiner Nase nicht gerade vertrauenserweckend wirkt, reisse ich es weg. Mein Kopf explodiert. Erst jetzt realisiere ich, dass Mam mit dem Pflaster das Nasenbein stabilisiert hat. Deshalb war es so dick und reichte mir bis zu den Wangen. Vermutlich habe ich gerade den Knochen verschoben.
Fast blind vor Schmerzen renne ich weiter. Zum Glück steht mir nichts im Weg. Fussgänger hat es auch kaum, erst als ich ins Rotlichtmilieu gelange, kommt Gegenverkehr auf. Ich frage mich, wo die vielen Leute hinwollen. Alle sind in Bewegung. Es hat wieder zu nieseln begonnen. Die Wassertropfen fühlen sich gut an auf meinem Gesicht.
Noch immer jogge ich mit hochgehaltenem Daumen. Es sieht eher nach Beten als nach Autostop aus. Vielleicht ist beten jetzt gar keine schlechte Idee. Ohne Hilfe von oben schaffe ich es nicht rechtzeitig zum Treffen.
Neben mir verlangsamt ein Wagen. Es hat genützt! Jemand nimmt mich mit! Als ich den Kopf drehe, blicke ich direkt in die Augen eines Streifenpolizisten. Rasch ziehe ich den Arm zurück, aber es ist zu spät. Der Beifahrer sagt seinem Kollegen etwas, gleichzeitig greift er nach der Türfalle. Ich sehe mich durch seine Augen: gehetzt, verzweifelt, mit gebrochener Nase, schmutzigen Kleidern und Haaren, die nass und wirr im Gesicht kleben. Die Bullen denken bestimmt, ich hätte soeben jemanden überfallen und dabei einen Schlag ins Gesicht abgekriegt.
Ich sehe einen schmalen Durchgang, der in einen Hinterhof führt. Versuche, mich zu erinnern, ob es auf der anderen Seite einen Ausgang gibt. Manchmal nehme ich nach der Arbeit diesen Weg, wenn ich nicht direkt nach Hause fahre. Ich habe bestimmt schon dutzende Male in den Hinterhof geschaut, aber nie darauf geachtet. Eine andere Wahl habe ich ohnehin nicht, also biege ich ab und schlüpfe unter einem Schild hindurch. Ich packe einen Container auf Rädern und schleudere ihn nach hinten. Ohne zu schauen, ob er den Bullen trifft, renne ich weiter. Ich höre, wie eine Autotür zuknallt und jemand «Halt» ruft. Das muss der zweite Bulle sein. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Ich weiss nicht, woher die plötzliche Energie kommt. Als ich sehe, dass tatsächlich ein Durchgang aus dem Hof hinausführt, rase ich darauf zu. Dabei stosse ich mit zwei Typen zusammen. Einer trägt eine schwarze Lederjacke und Punkerstiefel. Sein Haar steht wie ein violetter Fächer von seinem Kopf ab. Normalerweise sind Punks friedlich, aber dieser macht eine Bewegung, als wolle er mich packen. Doch dann schaut er zum Hof. Sieht dort den Bullen, der mir folgt. Obwohl er nicht weiss, warum ich auf der Flucht bin, blockiert er den Ausgang des Hofs, nachdem ich weggerannt bin. Aus Solidarität vielleicht. Ich sehe nur noch, wie der Bulle ihn zur Seite schiebt, höre eine Reihe Fluchworte, dann bin ich auch schon um die nächste Ecke verschwunden.
Ich wähle verschlungene Wege, renne hinter einen Velounterstand und quer über einen Spielplatz; in eine Einbahnstrasse hinein und unter einer Tafel durch. Bei einer Schule klettere ich über den Zaun und verlasse das Areal auf der anderen Seite. Meine Füsse fliegen über den Asphalt. Noch nie bin ich so schnell gerannt. Ich spüre weder Hunger noch Müdigkeit, sogar meine Nase ist taub. Zum ersten Mal begreife ich, warum Leo Sport mag. Es ist wie ein Rausch. Als ich bei einem Rotlicht stehen bleiben muss, wippe ich mit dem Fuss ungeduldig auf und ab. Leo wird es mir nicht glauben, wenn ich es ihm erzähle. Ich muss daran denken, wie er heute Morgen losgerannt ist. Ist es wirklich erst einige Stunden her? Kann ein Tag länger dauern als andere?
Die Ampel wird grün, und schon hauen meine Beine wieder ab. Weil ich so darauf konzentriert bin, ihnen zu folgen, übersehe ich einen Velofahrer, der trotz Rotlicht – für ihn, nicht für mich – vor mir durchfahren will. Als mein Knie in sein Vorderrad kracht, begreife ich zuerst nicht, was sich mir in den Weg gestellt hat. Erst als er schimpfend zu Boden geht, nehme ich ihn wahr. Neben mir lässt ein alter Mann seinem Ärger über Velofahrer freien Lauf. Es tut gut, dass mal jemand anders einen Zusammenschiss kassiert.
Ich kümmere mich nicht um den Gestürzten und renne weiter. Schliesslich bin ich nicht schuld an seinem Unfall. Ich spüre einen Luftzug am Knie, blicke nach unten. Ein Loch klafft in meiner Hose und gibt die Sicht frei auf eine Schramme, die verdächtig rot aussieht.
Je näher ich der City komme, desto mehr Leute drängen sich auf dem engen Trottoir. Ich kann kaum noch ausweichen. Doch ich verlangsame mein Tempo nicht. Mein Körper hat nichts mehr mit mir zu tun. Ich schaue nicht einmal zurück, um zu sehen, ob der Bulle noch hinter mir her ist.
Vor mir taucht die erste Einkaufsstrasse auf. Viele Läden sind bereits mit Weihnachtsdekos geschmückt. Die Lichter verwirren mich. Überall ziehen Farben an mir vorbei.
Als mein Handy wieder klingelt, bin ich schon fast an der Bahnhofstrasse. Ich hechte in ein Kleidergeschäft hinein. Rasch werfe ich einen Blick aufs Display. Leo. Er will bestimmt wissen, wo ich stecke. Bevor mich eine Verkäuferin ansprechen kann, verlasse ich das Geschäft. Davor hat sich eine Menschentraube gebildet. Lauter in Mäntel und Jacken gehüllte Rücken. Alle Leute starren auf etwas, das ich nicht sehen kann. Als ich auf die Gaffer zujogge, teilt sich die Menge. Ich komme mir vor wie ein Marathonläufer, der von den Zuschauern angefeuert wird. Fehlt nur noch, dass mir jemand eine Wasserflasche hinstreckt.
Aus dem Augenwinkel sehe ich rot-weisses Polizeiab- sperrband. Normalerweise würde ich stehenbleiben, um zu erfahren, was los ist. Im Moment ist es mir aber ziemlich egal. Ich habe meine eigenen Probleme. Ich bin bereits in der Bahnhofstrasse, als das Glockenspiel des Juweliers die volle Stunde ankündigt.
Es ist 16 Uhr.
Ich lege einen gewaltigen Endspurt hin, schlittere um eine Ecke und mache eine Vollbremsung vor dem Warenhaus.