16:08

Wach auf, Indianer!»

Ein leichtes Krabbeln auf meiner Wange, als würde eine Ameise darüber spazieren.

«Ist halb so wild», tröstet er mich. «Nur ein bisschen Nasenbluten.»

Das kann nur Leo sein. Wer sonst findet eine gebrochene Nase nicht weiter erwähnenswert? Aber da sind auch noch Finger, die mich streicheln; sie passen nicht zur Stimme. Leo würde mich in den Arm boxen. Bestenfalls auf den Rücken klopfen.

«Es hört nicht auf zu bluten», sagt eine andere Stimme. «Hast du noch ein Taschentuch?»

Der Boden unter meinem Rücken ist hart und kalt. Mein Kopf liegt auf etwas Weichem. Ich spüre die Wärme darunter. Ich möchte mein Gesicht darin vergraben, mich zurück in die Schwärze ziehen lassen.

«Hier.»

«Gib mir noch etwas Wasser.»

«Die Flasche ist leer.»

Eine Bewegung. Etwas berührt mein Gesicht. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich es schön oder schmerzhaft finde.

«Chris!» Leos Stimme hat einen dringlichen Tonfall angenommen. «Mach die Augen auf!»

Ich will nicht. Mir gefällt die Dunkelheit. Die Hände, die Wärme, die Fürsorge. In diesem Zustand könnte ich eine ganze Weile verharren. Ich muss schon wieder an eine Geschichte denken. Es ist die Geschichte des Jungen, der nie erwachsen werden wollte. Er spielte gern im Wald, fand das so toll, dass er das Erwachsenwerden verdrängte. Wenn seine Freunde diskutierten, was sie später machen wollten, wandte er sich immer ab. Er hatte null Bock, sich darüber Gedanken zu machen.

Irgendwann wurde sein Vater so wütend, dass er dem Jungen verbot, den ganzen Tag zu spielen. «Ab jetzt wirst du Verantwortung übernehmen!», befahl er und beschloss, den Jungen zu seinem Onkel zu schicken. Dort sollte er alles lernen, was ein Mann wissen muss. Der Junge fühlte sich so elend, dass die kleinen Leute ihn holten. Das sind Wesen, die genau gleich aussehen wie Menschen, aber nur etwa einen Meter gross sind. Es gibt viele Mythen über sie, aber nur wenige Personen haben die kleinen Leute je gesehen. «Junge, du musst nicht erwachsen werden», zwitscherten sie. «Du kannst bei uns bleiben!»

Bis heute lebt der Junge bei den kleinen Leuten, spielt den ganzen Tag und freut sich darüber, dass er ein Kind bleiben darf. Manchmal findet man sogar Spuren von ihm. Wenn man beim Angeln zum Beispiel glaubt, man habe einen riesigen Fisch am Haken, und es ist nur ein Ast, dann war es der Junge, der sich einen Scherz erlaubt hat. Er sorgt dafür, dass die Erwachsenen etwas zu lachen haben. Das ist die Aufgabe der kleinen Leute: Sie halten die Herzen der Menschen jung.

«Chris! Wach auf!» Nics Stimme.

Obwohl ich auch bei den kleinen Leuten bleiben möchte, reisse ich die Augen auf. Es ist schwierig, sich Nicoles Willen zu widersetzen.

«Er ist zu sich gekommen!» Julie beugt sich über mein Gesicht.

Sie ist verkehrt. Ich schaue direkt in ihre Nasenlöcher. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass sie hinter mir sitzt. Ihre Beine sind das Warme, das ich unter meinem Kopf spüre. Über mir erkenne ich Leo und Nic. Ihre Umrisse sind verschwommen. Das Licht einer Strassenlaterne scheint mir direkt ins Gesicht und löst einen stechenden Schmerz aus. Rasch schliesse ich die Augen wieder.

«Chris! Bleib wach!» Wieder Nic. «Was hat der Russe gesagt? Wo ist Lily?»

Nur ein Wort bleibt hängen: Lily. Ich zwinge meine Lider nach oben. Es ist, als zöge ich eine Bürste über meine Augäpfel. Lily zählt auf mich. Ich darf nicht abdriften. Ich bin kein Kind mehr.

Wo ist der Russe? Die Erinnerungen stürzen über mich herein. Ich bewege meine Hand Richtung Hosentasche. Gleichzeitig versuche ich aufzusitzen. Beides misslingt. Ich zapple zwar wie ein Fisch an Land, doch ich schaffe es nicht, eine andere Position einzunehmen. Meine Hand landet auf etwas Hartem. Meine Finger ertasten kalten Asphalt, keinen Jeansstoff.

Ich muss wissen, ob das Geld noch da ist. Verzweifelt bewege ich die Lippen, doch das Gebrabbel ergibt nicht einmal in meinen Ohren einen Sinn. Zu meiner grossen Überraschung versteht mich Julie. Ich spüre ihre Hand an meiner Hüfte. Sie schiebt sie in meine Hosentasche.

«Leer», stellt sie fest.

Ich stöhne.

«Das Geld ist weg?», fragt Nic ungläubig.

Leo stösst eine ganze Reihe Flüche aus. Einige davon habe ich noch nie gehört. Seine Faust knallt gegen den Laternenpfahl, kurz darauf höre ich ein Krachen, als sein Fuss etwas Hartes trifft. Ich wünsche mir, es wäre der Russe.

Langsam rapple ich mich auf. Das Gebäude gegenüber schwankt bedrohlich. Ich registriere, dass in einzelnen Fenstern Licht brennt, und frage mich, warum. Das ist doch ein Bürogebäude. Samstags arbeitet dort niemand. Nicht, dass es wichtig wäre. Mein Hirn sucht einfach Halt.

«Wir müssen zur Polizei», jammert Julie. «Wer weiss, was er mit Lily …»

«Halt die Klappe!», fährt Leo sie an.

Julie beginnt zu weinen. Zugleich streichelt sie meinen Arm. Langsam wird es mir unangenehm. Ich versuche, auf Händen und Knien wegzurobben.

«Hört auf!», befiehlt Nic mit kühler Stimme. «Das hilft Chris nicht. Und ein Streit ebenso wenig!» Sie wirft Leo einen strengen Blick zu und wendet sich an mich. «Kannst du dich daran erinnern, was genau passiert ist?»

Ich schildere es ihr, so gut ich kann.

«Jede Wette, der Russe zählt in diesem Moment das Geld», sagt Nic. «Danach wird er sich melden! Erstens, weil du ihm noch etwas schuldest, zweitens, weil er Lily loswerden will. Was soll er mit einem Baby? Das ist Kidnapping! Dafür kommt er in den Knast!»

«Heim», murmle ich. Minderjährige kommen nicht in den Knast.

Nic verdreht die Augen. «Mach dir lieber Gedanken darüber, wo wir die fehlenden 275 Franken auftreiben. Darauf wird er nicht verzichten.»

Ich erwähne nicht, dass es 275.40 Franken sind.

«Meinst du wirklich, er ruft noch einmal an?», fragt Julie. «Vielleicht hat er die Nase voll.»

Meine Hand fährt automatisch zu meiner Nase. Sie sieht inzwischen bestimmt wie eine Aubergine aus.

«Nic hat Recht», meldet sich Leo zu Wort. «Dem Russen geht es um die Kohle. Er weiss, dass Chris völlig fertig ist. Das wird er ausnützen.»

Wie um Nics Theorie zu bestätigen, klingelt mein Handy. Zum Glück bin ich schon auf den Knien, sonst wäre ich erneut in Ohnmacht gefallen. Mit klappernden Zähnen ziehe ich das Telefon aus der Tasche. Nic kauert neben mir, damit sie mithören kann.

«Es fehlen fast dreihundert!», schreit der Russe so laut, dass auch Leo und Julie ihn verstehen.

«Übertreib mal nicht», murmle ich.

Nic blitzt mich wütend an. Leo grinst.

«Ich will mein Geld!», tobt der Russe. «Sofort!»

Hilfesuchend blicke ich zu Nic. Sie legt den Zeigefinger an die Lippen, also schweige ich. Hoffentlich weiss sie, was sie tut.

«Das ist deine allerletzte Chance, kapiert? Wenn du es noch einmal vermasselst, siehst du deine Schwester nie wieder!»

Nic presst die Hand auf meinen Mund.

«Mmh», antworte ich.

«17 Uhr! Gleicher Ort! Und wehe, du legst mich noch einmal rein!»

Ich versuche, Nics Hand wegzuschieben. Keine Chance. Sie glaubt, ich würde das Falsche sagen. Aber darum geht es mir nicht. Ich kriege durch die Nase keine Luft.

«Ich mein es ernst! 275.50 Franken! Um 17 Uhr!»

Wusste ich es doch, dass er auf jedem einzelnen Rappen beharren würde, der kleine Scheisser. Aber es sind nur vierzig Rappen, nicht fünfzig; das würde ich ihm am liebsten an den Kopf werfen. Nic lässt nicht locker, mein Sauerstoffmangel wird akut. Zum Glück merkt Julie, was los ist. Sie gibt Nic ein Zeichen. Die Hand verschwindet. Ich schnappe nach Luft. Der Russe hat bereits aufgelegt.

«17 Uhr?», wiederholt Nic.

Ich nicke. Eigentlich müsste ich erleichtert sein. Ich habe 45 zusätzliche Minuten gewonnen. Aber es gibt niemanden, den ich noch um Geld bitten könnte. Betteln ist auch keine Alternative, so, wie die Shopper an uns vorbeieilen. Keiner bleibt stehen, um zu fragen, ob ich Hilfe brauche. Die meisten drehen den Kopf weg oder tun so, als sähen sie uns nicht. Einige wechseln sogar die Strassenseite.

Auf der Jugendanwaltschaft hat mir der Sozialarbeiter eingetrichtert, ich solle Hilfe holen, wenn ich in der Klemme stecke. Er behauptete, dafür seien Eltern, Lehrer und Beratungsstellen da. In der Realität sieht es aber anders aus. Mam hat mich ohne einen Rappen weggeschickt. Was mein Vater machen wird, wenn er von der Sache erfährt, will ich mir gar nicht ausmalen. Mich an einen Lehrer zu wenden, käme mir nicht im Traum in den Sinn.

Mein Blick fällt auf etwas Glänzendes. Es ist ein Zehner. Ich strecke die Hand aus, um ihn aufzuheben. Der Russe hat doch richtig gezählt.

Leo, Nic und Julie sind seltsam still. Leo lässt die Schultern hängen, eine Haltung, die so ungewöhnlich bei ihm ist, dass ich sie sogleich nachahmen muss. Zwischen Nics Augenbrauen hat sich eine tiefe Furche gebildet.

Julie spricht aus, was mir durch den Kopf geht: «Alle sagen immer, sie seien für einen da. Aber wo sind sie, wenn es drauf ankommt? Gibt es echt niemanden mehr, der uns Geld leihen würde?»

«Doch», sagt Nic. «Aber nicht, ohne zu wissen, wofür.»

«Aber darum geht es ja! Immer wird uns erzählt, wie wichtig Vertrauen ist. Wenn man jemandem vertraut, braucht man keine Erklärung.» Julie wendet sich an mich. «Chris, kennst du niemanden, der helfen würde? Einfach so? Ohne Fragen?»

Beim Stichwort «helfen» taucht ein Gesicht vor mir auf. Ich sass auf dem Boden und versuchte, meinen Schuh zu binden. Ich muss bereits etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, trotzdem schaffte ich es nicht. Vermutlich war ein Knopf im Schuhbändel. Je verbissener ich es versuchte, desto schlimmer wurde es. Schliesslich gab ich auf. Damit niemand merkte, dass ich mich von einem einfachen Schuhbändel hatte ins Bockshorn jagen lassen, kam ich auf die Idee, den Schuh zu verstecken. Ich erinnere mich noch gut an die Hoffnung, die in mir aufstieg. Ich glaubte tatsächlich, so sei ich fein raus.

Dann drang mir ein Sommerduft in die Nase. Eine Mischung aus Rosen, Sonne und Petersilie. Ich spürte jemanden in meinem Rücken. Ich wusste, wer es war, doch ich drehte mich nicht zu ihr um. Das Opossum in mir dachte, wenn ich sie nicht sehe, sieht sie mich auch nicht. Eine schmale Hand berührte mein Haar. «Komm, ich helfe dir», sagte sie. «Gib mir den Schuh.» Ohne einen Kommentar darüber zu verlieren, dass ich so etwas in meinem Alter alleine schaffen müsste, löste sie den Knopf im Bändel und zog mir den Schuh an.

Es war Regina.

Mein Vater hatte sie kurz nach der Trennung von Mam kennengelernt. Schon bald war sie immer dabei, wenn ich die Sonntage bei ihm verbrachte. Obwohl ich sie mochte, war ich in ihrer Gegenwart meistens nervös. Ich hatte das Gefühl, sie erwarte etwas von mir, aber ich wusste nicht, was. Fast wie mein Vater. Nur, dass ich bei ihm wusste, was er erwartete. Ich konnte seine Wünsche einfach nicht erfüllen.

Regina kaufte Spielsachen für mich, damit mir bei ihr zu Hause nicht langweilig wurde. An den Bastelbogen mit einer Burg erinnere ich mich besonders gut. Ich musste alle Türme, Pfeiler, Mauern und sogar die Zugbrücke ausschneiden und zusammenkleben. Erst dann konnte man damit spielen. Schon beim ersten Turm machte ich einen Fehler. Ich schnitt die Klappe weg, die ich zum Kleben gebraucht hätte. Regina war überrascht. Sie hielt mich wahrscheinlich für schlauer. Ich liess die Burg links liegen und behauptete, sie gefalle mir nicht. Von da an kaufte mir Regina fertige Sachen.

Als ich in der sechsten Klasse war, trennte sie sich von meinem Vater. Mam sagt, Regina habe ihn rausgeschmissen, weil sie sein wahres Wesen erkannt habe. Sie meint damit die anderen Frauen. Die gab es schon immer. Nach der Trennung von Regina verschwand mein Vater für drei Jahre. Zuerst ging er ins Reservat, dann zum FBI. Warum er doch wieder in die Schweiz kam, weiss ich nicht. Während dieser Zeit sah ich Regina nie.

Ich war überrascht, als sie plötzlich wieder zusammen waren. Regina war noch genau gleich, einfach ein bisschen älter und ein wenig dünner. Noch immer versuchte sie, mich zu verstehen. Ich weiss nicht, was es da zu verstehen gibt. Besonders kompliziert bin ich nicht. Trotzdem ist es, als hielten wir zwei ausgeschaltete Handys ans Ohr und versuchten, miteinander zu telefonieren.

Aber sie ist immer da, wenn ich sie brauche. Als ich wegen der Einbrüche verhaftet wurde, holte sie mich aus dem Polizeigefängnis raus. Später las sie meinen Lehrvertrag durch, weil ich den ganzen juristischen Kram nicht verstand. Sogar als Nic Hilfe brauchte, nahm sich Regina Zeit, weil Nic meine Freundin ist. Sie fand heraus, in welchem Knast Nics Vater sass und erklärte ihr, wie sie es anstellen musste, damit sie ihn besuchen konnte. Ohne Nic bei ihrer Mutter zu verpetzen.

«Es gibt jemanden, der mir helfen kann», sage ich langsam.

Julies Augen werden weit vor Hoffnung. «Wer?»

«Regina», antworte ich.

«Regina?», wiederholt Leo fassungslos.

«Lilys Mutter?», stösst Nic aus. «Bist du total bescheuert?»

«Lass ihn doch ausreden!», wehrt sich Julie für mich. «Wie meinst du das, Chris? Du kannst ihr doch nicht erzählen, was passiert ist!»

«Muss ich nicht», erkläre ich. «Ich pump sie einfach an.»

«Und wenn sie dich nach Lily fragt?», will Nic wissen.

Trotz der ganzen Scheisse muss ich lächeln. «Warum sollte sie? Sie weiss nicht, dass mein Vater arbeitet. Sie denkt, er kümmere sich um Lily.»

Und er wird sich hüten, ihr die Wahrheit zu sagen, schätze ich. Die Hoffnung, die in mir aufkommt, gibt mir Energie. Ich stehe auf. Sofort ist der Schwindel zurück. Julie packt mich am Arm, damit ich kein zweites Mal umkippe.

«Das könnte funktionieren», sagt Nic langsam. «Wenn du sie bittest, die Sache vertraulich zu behandeln …»

«Hat sie als Anwältin nicht Schweigepflicht oder so?», fragt Leo.

«Sie ist nicht Anwältin», korrigiert Julie, «sondern Staatsanwältin. Das ist nicht das Gleiche.»

«Egal», sagt Nicole, auf einmal ganz aufgeregt. «Wenn Chris sie bittet, seinem Vater nichts zu erzählen, wird sie es bestimmt nicht tun. Sie war damals total nett zu mir. Ruf sie an!»

Das geht mir nun doch ein bisschen zu schnell.

«Chris! Wir dürfen keine Zeit verlieren!»

Ich schlucke. Eigentlich würde ich mir gerne überlegen, was ich sagen soll. Aber auch Leo beginnt, ungeduldig auf und ab zu wippen.

«Easy», beruhige ich die beiden.

Mit gemischten Gefühlen wähle ich Reginas Nummer. Ein nervöses Lachen bleibt mir in der Kehle stecken. Die Situation ist total schräg. Ich muss Regina fragen, ob sie mir das Lösegeld für ihre Tochter leiht. Während ich darauf warte, dass sie abnimmt, drehe ich den Zehner in der Hand, den der Russe übersehen hat.