16:24

Flint.»

«Ähm, hallo.»

«Chris? Bist du das?»

«Mmh.»

«Alles in Ordnung?» Reginas Stimme klingt skeptisch. «Chris? Geht’s dir gut?»

«Hast du Zeit?», frage ich.

«Ich bin gerade unterwegs», erklärt sie. «Aber heute Abend bin ich zu Hause. Brauchst du etwas? Möchtest du reden?»

«Nö. Nur eine Frage.»

«Komm doch vorbei. Dein Vater bringt Lily gegen sechs. Du kannst mit ihm fahren. Ich brauch dann einfach einen Moment. Lily ist meistens ziemlich müde, wenn sie den ganzen Tag weg war.»

Mein Herz flattert seltsam. Als wäre ein verzweifeltes Tier in meiner Brust gefangen. Vielleicht ist es kein Tier, sondern ein böser Geist. Ich stelle mir vor, wie er es sich bequem gemacht hat und mit den Fingern gegen meine Herzkammer trommelt. Möglicherweise hat er sogar ein Schlagzeug mitgenommen. Das würde nicht nur das Pochen, sondern auch die Schmerzen erklären. Herzschmerz, denke ich. Ich hielt das immer nur für ein Wortspiel.

Ich atme tief ein und versuche es nochmals. «Jetzt», sage ich und füge noch ein «Bitte» hinzu, weil Regina auf so was steht.

«Du willst jetzt mit mir reden?», fragt sie.

«Mmh.»

Sie zögert einen Moment. «Schiess los.»

Nic, die wieder ihren Kopf gegen den meinen gepresst hat, um mithören zu können, schüttelt den Kopf. Sie zeigt auf ihre Augen.

«Was?», frage ich.

Regina meint, ich rede mit ihr. «Ich hör dir zu.»

«Nein, ich … ähm.»

Ich kann nicht gleichzeitig mit Regina reden und mich mit Nic in Zeichensprache verständigen. So etwas Ähnliches habe ich früher zwar geübt, aber es hat nichts gebracht. Mam hatte mich zu einer Therapeutin geschickt, weil ich so ein Bewegungstrottel war. Dort musste ich mit dem linken Fuss stampfen und mit der rechten Hand Kreise in die Luft zeichnen. Als ich den Dreh endlich raus hatte, sollte ich dazu noch reden. Mein Mund war wie ein Schalter: Kaum öffnete ich ihn, erstarrte alles andere.

«Nicht am Telefon», zischt Nic.

Endlich begreife ich. «Können wir uns treffen?», frage ich Regina.

«Ich bin in der Stadt», erklärt sie.

Ich atme auf. Zu ihr nach Hause und zurück hätte ich es nie rechtzeitig geschafft. «Ich auch.»

«Wo?»

«City.»

«In der Nähe der Bahnhofstrasse?»

«Mmh.»

«Perfekt! Ich stehe an der Kasse und muss nur noch zahlen. Wollen wir uns in, sagen wir, zehn Minuten treffen?»

Sie nennt das Warenhaus, vor dem ich auf den Russen gewartet habe. Ich stöhne leise. Sogar Nic weicht vor Entsetzen zurück. Leo will wissen, was los ist, doch Nic bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und hält fünf Finger hoch.

«Fünf», sage ich.

«Gut, in fünf Minuten.» Regina gibt sich Mühe, nicht genervt zu klingen.

Jetzt streckt Nic den Daumen in die Höhe. Ich drücke auf «Aus» und lehne mich erschöpft gegen ein Schaufenster. Teddybären spielen auf künstlichem Schnee. Obwohl ich nicht daran denken will, stelle ich mir vor, wie der Russe Lily im Kinderwagen an Regina vorbeischiebt. Würde sie ihren Augen trauen? Vielleicht würde sie denken, sie träume. Mir ging das so, als ich einmal die Schule schwänzte und mein Vater plötzlich vor mir stand. Er hätte an einem Kongress oder so sein sollen, jedenfalls weit weg. Deshalb glaubte ich, er wäre gar nicht er. Was natürlich nicht stimmte, wie ich dann ziemlich rasch herausfand.

Julie wischt mit einem Taschentuch in meinem Gesicht herum. Als sie auch noch eine Haarbürste hervorzieht, weiche ich zurück.

«So kannst du nicht zu Regina!», motzt sie. «Du siehst aus, als wärst du in einen Tornado geraten.»

«Julie hat Recht», stimmt Nic ein. «Das lenkt Regina nur unnötig ab.»

Grummelnd greife ich nach der Bürste. Julie gibt sie mir widerwillig. Sie zuckt zusammen, als ich mir zwei-, drei Mal grob durchs Haar fahre und es zu einem Zopf flechte. Gerade jetzt wäre ich froh um den Vorhang.

«Weisst du noch, was du sie fragen musst?» Leo wartet nicht auf eine Antwort. «Du brauchst 275 Franken! Kapiert? 2-7-5.»

«40», murmle ich. «275.40. Kapiert.»

«Du schaffst das, Indianer! Bald ist alles vorbei!» Leo boxt mich in den Arm.

Ich schlurfe zum Eingang des Warenhauses. Ich staune, dass mir meine Beine gehorchen. Wenn alles vorbei ist, werde ich sie belohnen. Mindestens 24 Stunden dürfen sie dann Pause machen. Ich werde einfach im Bett liegen bleiben. Neben mir werde ich Essen auftürmen, so viel ich kriegen kann. Vielleicht lasse ich sogar den Pizzakurier kommen. Mir kommt das Konzert morgen Abend in den Sinn. Es erscheint mir unendlich weit weg. Ich setze die Kopfhörer auf. Zum Glück sind sie bei meinem Sturz nicht kaputtgegangen.

Phenomden singt immer noch über gestresste Menschen. «Si sind plötzli alt und frustriert in ihrem alter, hey. Ich wett das nöd, darum mues i mi fern halte.»

Fernhalten finde ich immer eine gute Idee. Dazu ist mein Vorhang da. Aber jetzt ist mein Gesicht ungewöhnlich exponiert. Mein Haar fühlt sich im Zopf gefangen. Ich bin es nicht gewohnt, dass mir das Licht direkt in die Augen scheint. Es ist viel zu hell. Ich nehme Bewegungen seitlich von mir wahr, die mir sonst entgehen.

«Stundelang im dschungel, will i mängisch gar nüme checke, was all lüüt wänd, nei.» Der Sound lässt mich für einen kurzen Moment Angst und Schmerzen vergessen. Das ist das Tolle an der Musik. Egal, wie beschissen es mir geht, die Welt um mich herum verschwindet. Doch jetzt funktioniert es nur einige Takte lang. Zum ersten Mal ist die Realität stärker als der Sound. Ich versuche, mich dagegen zu wehren, aber es klappt nicht. Ein Teil von mir will nicht wegdriften. Lily zählt auf mich. Ich trage für sie die Verantwortung. Fertig Opossum.

Ich schalte die Musik aus. Die Geräusche des Samstagnachmittags überfluten mich. Der Brei aus Summen, Klacken, Dröhnen und Rauschen ist zäh und penetrant.

«Chris!», ruft Regina. Sie kommt mir mit eiligen Schritten entgegen. In beiden Händen trägt sie Einkaufstaschen.

«Hey», begrüsse ich sie.

Sie lässt die Taschen mitten im Gewühl fallen. «Was ist denn mit dir passiert? Mein Gott, das sieht schlimm aus!»

Meine Hand schiesst zu meiner Nase. Ich versuche, sie zu verdecken. «Nichts. Nur ein kleiner … Unfall.»

«Das muss höllisch weh tun!» Ihre blauen Augen sind voller Mitleid.

«Easy», beruhige ich sie.

«Wolltest du mich deshalb treffen? Hast du mit jemandem Ärger?»

Mir ist nicht wohl hier am Eingang. Ich rechne die ganze Zeit damit, dass der Russe auftaucht. Weit weg will ich aber auch nicht, in zwanzig Minuten muss ich wieder hier sein. Regina fasst mein Schweigen als Zustimmung auf.

«Lass uns etwas trinken gehen», schlägt sie vor. «Dann erzählst du mir, was passiert ist.»

«Nein!», entfährt es mir. «Ich will … hier bleiben.»

Sie runzelt die Stirn. «Es gibt im Warenhaus ein Restaurant. Ganz oben. Wollen wir dorthin? Das ist nicht weit.»

Damit bin ich einverstanden. Hauptsache, ich entferne mich nicht vom Warenhaus. Wir tauchen ins Gedränge ein und steuern auf die Rolltreppe zu. Als wir an der Bijouterieabteilung vorbeigehen, kommt mir plötzlich der Überfall auf den Juwelierladen in den Sinn. Ob mein Vater noch am Tatort ist? Gleich um die Ecke? Die Vorstellung macht mich so nervös, dass ich stolpere.

Zwischen den Shoppern verschwindet Regina fast. Zum Glück bin ich grösser als die meisten, so behalte ich den Überblick. Die Hektik, die parfümgeschwängerte Luft und die plötzliche Wärme treiben mir den Schweiss aus den Poren. Fremde Körper pressen sich gegen meinen, Hände streifen mich. Erst auf der Rolltreppe ist es vergleichsweise ruhig. Regina steht eine Stufe über mir. Jetzt sind wir gleich gross. Sie schaut mir direkt in die Augen. Sie ist so nah, dass ich ihre Sommersprossen zählen könnte. Mir kommt es vor, als hätte jemand ihre Nase mit Paprika gewürzt.

«Es ist schön, dich zu sehen», sagt sie.

Kleine Lachfalten bilden sich an ihren Augenwinkeln. Mich packt das schlechte Gewissen. Lily bedeutet ihr alles. Ich senke den Blick. Er fällt auf die Einkaufstaschen. Darin sehe ich Kinderkleider und Spielsachen.

Wir sind in der Herrenabteilung angekommen. Dem Menschenstrom folgend, verlassen wir die Rolltreppe, machen einen Bogen um einen Weihnachtsbaum und reihen uns wieder ein.

«Was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?», fragt Regina.

Mein schlechtes Gewissen meldet sich erneut. «Nichts», murmle ich.

«Gar nichts? Nicht einmal einen Gutschein? Für ein Konzert zum Beispiel?»

«Nö.»

Sie sieht enttäuscht aus. Ich will ihr erklären, dass ich kein Geschenk verdient hätte, aber dann würde sie fragen, warum. Weil ich das Gefühl habe, ich müsste etwas sagen, frage ich, was sie sich wünsche.

Sie lächelt. «Auch nichts. Ich habe mehr, als ich mir je erträumt habe.» Ihre Augen leuchten. «Wie geht es Lily? Hast du sie heute gesehen?»

Die Worte treffen mich wie ein Faustschlag. Zum Glück kommen wir endlich im obersten Stock an. Ich höre das Geklapper von Geschirr aus dem Restaurant. Mit hängendem Kopf folge ich Regina. Wir kommen an einem Kinderhütedienst vorbei. Hinter der Glasscheibe sehe ich ein Meer von farbigen Plastikkugeln. Lautes Kreischen dringt zu mir. Ein Schild kündigt an, dass in der Vorweihnachtszeit auch Babys gehütet werden. Heute Morgen hätte ich die Vorstellung, Lily irgendwo abzugeben, toll gefunden. Jetzt stresst sie mich. Wenn alles gut ausgeht, werde ich Lily nie mehr aus den Augen lassen.

Regina schaut sich nach einem Tisch um. Am Fenster werden zwei Plätze frei. Noch bevor die jetzigen Gäste ihre Jacken angezogen haben, stellt Regina ihre Taschen auf die Stühle, damit niemand die Plätze wegschnappen kann. Ich warte, bis der Durchgang frei wird, und lasse mich dann auf den Stuhl fallen.

«Was möchtest du trinken?», fragt Regina.

«Cola.»

Schon beim Gedanken daran läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Erst als Regina aufsteht, wird mir klar, dass Selbstbedienung ist. Nervös schaue ich auf mein Handy. In zwölf Minuten muss ich unten am Eingang sein. Mit 275.40 Franken.

Ich lasse Regina nicht aus den Augen. Langsam schlendert sie an den Säften vorbei zur Teeausgabe. Sie nimmt eine Tasse, dreht sie in der Hand und stellt sie wieder zurück. Dann geht sie zum Saftbuffet zurück, wo sie nach einem Glas mit farbigem Strohhalm greift und den Inhalt prüft. Irgendetwas passt ihr daran nicht. Sie entscheidet sich für ein anderes Glas. Als sie es in der Hand hat, merkt sie, dass sie kein Tablett mitgenommen hat. Sie geht zum Eingang zurück. Ich wische meine feuchten Handflächen an meinen Jeans ab.

Nun schreitet sie mit dem Tablett zur Getränkeausgabe. Dort bleibt sie stehen und sucht nach etwas. Hinter ihr kommt ein Angestellter mit einem Harass voller Gläser. Sie wartet, bis er die Gläser eingereiht hat, erst dann nimmt sie eines und stellt es unter den Colahahn. Bevor sie zur Kasse geht, nimmt sie aus einem Behälter einen Zitronenschnitz und versucht, ihn auf den Rand des Glases zu stecken. Offenbar spritzt es, denn jetzt sucht sie eine Serviette.

Mein Handy zeigt 16.51 Uhr.

Drei Leute stehen vor Regina an der Kasse. Eine alte Frau bezahlt ein Tortenstück. Sie schafft es fast nicht, das Kleingeld aus dem Portemonnaie zu klauben. Endlich lässt sie einige Münzen aufs Tablett fallen und beginnt, sie zu zählen. Statt ihr zu helfen, mustert die Kassiererin ihre Fingernägel.