Weil ich die ganze Zeit an die Cola denke, merke ich, dass ich schon lange pinkeln müsste. Seit dem Morgen war ich nicht mehr auf dem Klo. Gut, ich habe auch nicht gerade viel getrunken. Meine körperlichen Bedürfnisse standen heute nicht zuoberst auf meiner Prioritätenliste. Irgendwann verstummten sie dann einfach. Aber jetzt, da ich an der Wärme sitze, meldet sich mein Körper zurück. Am lautesten schreit der Durst, die volle Blase und der leere Magen teilen sich Platz zwei. Dafür ist meine Nase etwas leiser. Und müde bin ich eigentlich gar nicht mehr.
«Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat», sagt Regina, während sie mir das Glas Cola hinstellt. «Ich wusste nicht, ob du Eis wolltest. Soll ich noch einige Würfel holen?»
«Nö», antworte ich. «Danke.»
Sie setzt sich und lächelt. «Also, schiess los.»
Zuerst brauche ich einen Schluck Cola. Doch bevor ich den Strohhalm zum Mund führen kann, kündigt mein Handy eine Mitteilung an. Lesen oder nicht? Wenn es eine schlechte Nachricht ist, lenkt es mich ab. Doch vielleicht ist sie wichtig. Möglicherweise haben Leo, Julie und Nic den Russen mit Lily gesehen. Sich den Kinderwagen geschnappt. Den Entführer k.o. geschlagen. Ich stelle mir vor, wie die drei in diesem Moment mit Lily davonrasen, mitten durchs Gewühl. Wie Lily jauchzt, weil der Wind sie im Gesicht kitzelt. Mein Magen schlägt Purzelbäume.
«Sorry», murmle ich und ziehe mein Handy aus der Tasche.
Eine Mitteilung von meinem Vater.
Mein Daumen fährt automatisch zur Taste «zeigen», obwohl ich nicht wissen will, was er geschrieben hat.
«Fahre los.»
Ich starre auf die zwei Worte. Von seinem Büro aus braucht er etwa eine Viertelstunde nach Hause. Auch wenn er im Stau steckenbleibt, wird er vor mir dort sein.
«Chris?», fragt Regina sanft.
Ich muss denken. Wenn mein Vater vor mir zu Hause ist, merkt er, dass wir den ganzen Tag nicht da waren. Schliesslich ist er Bulle. Er ist es sich gewohnt, Spuren auszuwerten. Es wird ihm auffallen, dass im Abfall keine schmutzigen Windeln liegen oder dass nirgends Brei oder sonstiges Geschmier klebt. Was wird er sich denken? Ich muss mir etwas einfallen lassen. Und zwar schnell.
Das Problem ist, dass Schnelligkeit noch nie meine Stärke war. Ich weiss nicht recht, wie ich den Gang meiner Gedanken beschleunigen kann. Wenn ich es versuche, prallen sie aufeinander und ergeben keinen Sinn mehr. Es ist, als würde ich ein Bild in Blau und Gelb malen. Wenn ich den Pinsel in beide Farben tauche, so habe ich plötzlich Grün, nicht mehr Blau und Gelb. Ich muss zuerst Blau auftragen, dann den Pinsel auswaschen und erst danach Gelb hinzufügen. Genauso mache ich es normalerweise beim Denken.
Ich starre auf die Kohlensäurebläschen in meiner Cola. Sie erinnern mich an Leo, weil sie so rasch auftauchen. Was würde er an meiner Stelle tun?
«Chris? Ist dir schlecht?», fragt Regina.
Plötzlich kommt mir eine Idee. Sie ist einfach da. Ich muss mein Telefon auf den Tisch legen, um die Nachricht zu beantworten. Meine Hände sind so feucht, dass es mir sonst herunterfallen könnte.
«Hunger», tippe ich.
Ich zähle auf sein schlechtes Gewissen.
Kurz darauf kommt seine Antwort: «Chinese oder Pizza?»
Volltreffer! Ich überlege, was länger dauert. Mir kommt ein thailändisches Take-away in den Sinn. Dort muss man ziemlich lange warten. Ausserdem liegt es nicht gerade am Weg.
«Thai», antworte ich.
«Ok.»
Erleichtert atme ich auf. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe. Als mein Display in den Stand-by-Modus wechselt, zeigt die Uhr 16.56. Bevor meine Gedanken kollidieren, platze ich mit der Wahrheit heraus.
«Ich brauche Kohle.»
«Wie bitte?», fragt Regina.
«Geld», erkläre ich.
«Ich weiss, was Kohle ist. Aber wofür? Und wie viel? Wolltest du mich deshalb unbedingt sprechen? Steckst du in Schwierigkeiten?»
Das mit den vielen Fragen aufs Mal ist wohl eine Frauensache.
«275.40 Franken.»
Regina starrt mich mit offenem Mund an. Das habe ich falsch angepackt. Ich hätte mir einen Einstieg ausdenken sollen. Zu spät.
Sie schüttelt den Kopf. «Wenn du Probleme hast, helfe ich dir gern. Aber ich glaube nicht, dass Geld die Lösung ist.»
«Bitte», flehe ich.
Ich stelle mir Julies Hundeblick vor und setze ihn auf. Schade, dass meine Augen so schmal sind. Das hat nicht die gleiche Wirkung. Vermutlich sehe ich eher wie ein Pitbull aus.
Trotzdem ist Regina erstaunt. Vielleicht hat sie mich noch nie «bitte» sagen hören. Auf einmal werden ihre Augen auch schmal. «Deshalb bist du also zusammengeschlagen worden.» Sie presst die Lippen zusammen. «Du hast Schulden.»
Ich nicke. In diesem Moment hätte ich allem zugestimmt. Doch nun beginnt sie, mir eine Predigt über Schulden zu halten. Das kann ewig dauern. Vor Gericht spricht sie manchmal über eine Stunde. Ohne Pause. Eine Welle der Verzweiflung baut sich in mir auf. Mir schiessen die Tränen in die Augen.
Das haut sie um. Mich auch. Da weine ich seit Jahren nicht mehr, und dann gleich zwei Mal an einem Tag. Es ist mir total peinlich. Ich fahre mir mit dem Ärmel übers Gesicht. Am liebsten würde ich meine Haare aus dem Zopf lösen, aber ich beherrsche mich. Als ich aufblicke, sehe ich, wie Regina ihr Portemonnaie hervorholt.
«Ich gebe dir das Geld unter einer Bedingung.» Sie sieht mir in die Augen. «Ich will, dass du eine Budgetberatungsstelle aufsuchst.»
Ich nicke.
«Mit mir zusammen», ergänzt sie.
Dumm ist sie nicht. Ich stimme der Bedingung zu. Auf einmal kommen meine Gedanken ganz schnell. Sie sind jetzt geölt.
«Bitte sag meinem Vater nichts!», flehe ich. «Auch von diesem Treffen nicht!»
Sie ist einverstanden. «Aber nur, wenn du dich an die Abmachung hältst. Ich werde Montag gleich einen Termin vereinbaren.»
«Okay.»
Sie zieht einen Hunderter heraus und legt ihn auf den Tisch. Eine Sorgenfalte bildet sich auf ihrer Stirn. Ich traue mich kaum zu atmen. Zwischen zwei Quittungen findet sie eine Zehnernote.
Langsam schüttelt sie den Kopf. «Das ist alles, was ich dabei habe.»
Ich starre auf die 110 Franken, während Regina im Münzfach nachschaut. Sie legt ein Fünffrankenstück dazu. 115 Franken. Das macht total 799.60 Franken.
«Es gibt ganz in der Nähe einen Bancomaten», sagt Regina. «Lass uns …»
«Hast du noch 30 Rappen?», unterbreche ich.
Als mir Regina verwirrt 30 Rappen zuschiebt, lege ich den vergessenen Zehner dazu. 800 Franken. Das muss einfach reichen. So viel hat mir der Russe geliehen. Das mit dem Zins finde ich sowieso nicht fair.
Mein Handy zeigt 16.59 Uhr.
Ich stehe auf und stecke das Geld ein.
«Willst du schon gehen?», fragt Regina. «Was ist mit der Cola?»
Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick auf das Glas, doch meine Beine tragen mich bereits zur Rolltreppe.