Ich steuere auf den Ausgang zu, suche die Strasse nach dem Russen ab. Leo wartet bestimmt auf eine Rückmeldung. Er weiss nicht, ob ich die Kohle beisammen habe oder nicht.
Was soll ich tun, wenn der Russe Lily nicht dabei hat? Ihm das Geld trotzdem geben? Darauf beharren, dass er mich zuerst zu ihr bringt? Meine Finger umklammern das Handy in meiner Tasche, doch ich traue mich nicht, es hervorzuziehen. Wenn der Russe zuschaut, glaubt er womöglich, ich rufe Verstärkung.
Ich kann nur hoffen, dass er genauso erschöpft ist wie ich. Wenn er Lily loswerden will, begnügt er sich vielleicht mit den acht Lappen. Das ist eine ziemlich schwache Idee, aber etwas Besseres kommt mir nicht in den Sinn. Dass ich kein Schlägertyp bin, weiss er. Sonst wäre er nicht allein zur Geldübergabe gekommen. Vielleicht hat er aber auch Komplizen, die versteckt warten.
Zwei Polizisten gehen an mir vorbei. Mein Herz setzt einen Schlag aus, dann meldet sich meine Vernunft. Sie fahnden kaum nach mir, nur weil ich mich einer Kontrolle entzogen habe. Vielleicht waren sie beim Juweliergeschäft, das überfallen wurde. Zum Glück ist mein Vater nicht mehr dort. Immerhin etwas Beruhigendes. Dass er auf dem Heimweg ist, blende ich aus.
«Dreh dich nicht um!», zischt eine Stimme hinter mir.
Der Russe.
Ich erstarre. Angestrengt lausche ich auf Babygeräusche. Ich höre nur Gesprächsfetzen und das Gebläse der warmen Luft beim Warenhauseingang. Hat er Lily wieder nicht dabei? Vielleicht schläft sie nur. Wie soll ich reagieren? Nun bereue ich es, dass ich Leo nicht angerufen habe.
«Gib mir die Kohle», befiehlt er. «Ganz langsam. Schön geradeaus schauen!»
Ich ziehe das Geld aus der Tasche und halte es hinter meinen Rücken. Kalte Finger streifen meine Handfläche, dann sind die 115.40 Franken weg.
«Wo ist meine Schwester?», frage ich.
Vor mir dreht ein Mann den Kopf in meine Richtung. Für ihn sieht es aus, als rede ich mit mir selbst.
«Wo ist sie?», wiederhole ich lauter. Als ich immer noch keine Antwort bekomme, drehe ich mich um.
Da ist niemand.
Ich drehe mich zwei Mal um die eigene Achse. Nichts.
Eine neue Welle der Verzweiflung baut sich auf. Bevor sie über mich hereinbricht, erblicke ich eine vertraute Daunenjacke. Leo.
Er jagt die Strasse hinunter, dicht gefolgt von Nicole. So, wie die beiden rennen, zweifle ich keine Sekunde daran, dass sie den Russen einholen werden. Ihnen zu folgen, hat keinen Zweck. Genauso gut könnte ich versuchen, mir Flügel wachsen zu lassen.
«Chris!», keucht Julie auf einmal neben mir. «Was ist passiert? Hat dir Regina das Geld gegeben?»
Ich nicke.
«Wo ist Lily?»
Ich zucke mit den Schultern.
«Er hat es dir nicht gesagt? Obwohl du deine Schulden bezahlt hast?»
«Acht», stammle ich.
«Was?»
«Lappen. Acht Lappen. Keinen Zins.»
Nun löse ich den Zopf. Wie ein Vorhang fällt mir das Haar ins Gesicht. Julie zerrt ihr Handy aus der Handtasche und tippt eine Nachricht.
«Leo muss wissen, was los ist», erklärt sie atemlos. «Damit er sich den Russen vorknöpfen kann. Wir hatten keine Ahnung, wie es bei dir lief. Mach dir keine Sorgen! Leo bringt ihn zum Reden!»
Ich fühle mich wie ein Block Eis. Kaum hat Julie die Nachricht abgeschickt, stehen Leo und Nic vor mir. Leos Augen sehen aus, als loderten Flammen darin. Jeder Muskel seines Körpers ist gespannt. Die Energie, die ihn umgibt, erdrückt mich. Nic strahlt tiefe Konzentration aus, wie ein Karatekämpfer, der vorhat, ein zehn Zentimeter dickes Holzbrett zu halbieren. Zusammen wirken sie unbesiegbar. Aber warum sind sie ohne den Russen zurückgekommen?
«Der kleine Scheisser wurde abgeholt!», flucht Leo.
«Abgeholt?», wiederholt Julie. «Von wem?»
«Keine Ahnung», erklärt Nic. «Da war einfach ein Wagen. Könnte sein Vater gewesen sein.»
«Du meinst, die ganze Familie steckt mit drin?»
«Quatsch», sagt Leo.
«Vielleicht hat er einfach etwas vor heute Abend», erklärt Nic.
«Aber … wo ist Lily? Er kann sie doch nicht mitnehmen? Was würden seine Eltern sagen?» Julies Stimme ist schrill. Rote Flecken bilden sich auf ihren Wangen.
Leo rauft sich die Haare. «So bescheuert kann er nicht sein! Ich kapier das einfach nicht!»
«Er wird sich melden.» Nic klingt überzeugt. «Er wird telefonisch durchgeben, wo wir sie finden können.»
Erst jetzt sieht Leo die Nachricht von Julie. Ein ungläubiger Ausdruck tritt auf sein Gesicht. Langsam dreht er den Kopf in meine Richtung. «Du hast ihm die Kohle nicht gegeben?»
«Doch», nuschle ich. «115.40. Das macht total 800.»
Leo flucht laut.
«Ich finde das fair», verteidigt Julie mich. «Mehr hat er nicht verdient!»
«Hier geht es nicht um fair oder nicht!», zischt Leo. «Der Russe will 960, und wenn er die Kohle nicht …»
Mein Handy klingelt. Alle verstummen.
Das Eis in mir schmilzt so weit, dass ich meine Hand bewegen kann. Ich nehme den Anruf entgegen, bringe aber keinen Ton heraus. Das ist auch nicht nötig, denn der Russe will nicht hören, was ich zu sagen habe.
«Verdammte Sau! Es fehlen 160 Franken! Wenn du glaubst, dass du mich verarschen kannst, vergiss es! Deine Schwester siehst du nie mehr! Soll ich dir beschreiben, wie sie jetzt aussieht?»
Seine Worte sind wie Feuer. Das Eis in mir löst sich auf.
«Ich geb dir mein Handy!», schreie ich verzweifelt. «Das Gras! Du kannst das ganze Gras haben! Und das Handy dazu!»
«Ich will die Kohle! Lange macht es die Kleine nicht mehr. Sie ist vom Schreien schon ganz heiser.» Er lacht wie ein Irrer. «Bald wird sie verdursten. Sie fühlt sich schon jetzt total heiss an. Ihr Kopf glüht. Gekotzt hat sie auch. Und sie stinkt wie ein Schwein.»
Ich schlottere. Nic nimmt mir das Handy weg und feuert wie ein Maschinengewehr Worte los. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Meine Zähne schlagen aufeinander. Das Geräusch hallt in meinem Schädel. Alles wackelt. Mein Blickfeld verengt sich. Ich bin in einem Tunnel. Nur, dass ich nirgends einen Ausgang sehe. Dort, wo Licht sein sollte, ist es schwarz.
Julie packt mich am Arm. Sie zieht mich runter. Ich begreife, dass ich mich hinkauern soll, damit ich nicht umkippe. Sie drückt mir den Kopf zwischen die Knie. Ich starre auf meine Füsse. Sie kommen mir riesig vor. Sie erinnern mich an die Geschichte des ungeschickten Vogels. Auch er hatte riesige Füsse. So gross, dass er dauernd darüber stolperte. Alle lachten ihn deswegen aus, denn kein anderer Vogel hatte so grosse Füsse. Nur die Heuschrecke hielt zu ihm. Sie versuchte, den Vogel zu trösten. «Eines Tages wirst du froh sein um deine grossen Füsse», versprach sie.
An einem sonnigen Morgen beschloss ein Bauer, das Gras auf seinem Feld zu mähen, um dort Mais zu pflanzen. Was er nicht wusste: Genau in diesem Feld hatte eine Vogelmutter ihr Nest gebaut. Der Bauer sah es zwischen den hohen Grashalmen nicht. Als die Vogelmutter merkte, was der Bauer vor hatte, flippte sie aus. Sie versuchte, das Nest wegzutragen, aber es war ihr zu schwer. Da kam der Vogel mit den grossen Füssen, flog zum Nest, nahm ein Ei heraus und legte es auf seinen Fuss. Jedes Ei holte er so, bis alle in Sicherheit waren.
Lily sitzt im Nest fest. Die Sense schwebt über ihr.
Ich habe zwar grosse Füsse, jedoch keine Ahnung, wie ich sie retten kann.
Julie kniet vor mir. Sie legt mir die Hände an den Kopf. Sie sind warm. Meine zappelnden Gedanken beruhigen sich etwas. Klare Bilder entstehen in meinem Kopf. Ich sehe Lily nach der Geburt. Verschrumpelt wie eine Dörrpflaume, die Hände zu Fäusten geballt. Als hätte sie gewusst, dass ein Kampf auf sie wartete. Zwei Wochen lang war sie in einem Brutkasten, weil sie zu früh auf die Welt gekommen war.
Eigentlich hatte ich sie gar nicht im Spital besuchen wollen. Nicht, dass ich etwas gegen sie hatte. Sie interessierte mich einfach nicht. Doch mein Vater beharrte darauf. Das war untypisch für ihn. Vermutlich tat er es wegen Regina. Schon während der Schwangerschaft hatte Regina das Gefühl, es müsse für mich etwas Besonderes sein, einen Bruder oder eine Schwester zu bekommen. Weiss nicht, wieso. Es war von Anfang an klar, dass Lily bei Regina wohnen würde. Was kümmerte es mich, dass wir gemeinsame Gene hatten?
Deshalb erstaunt es mich jetzt, dass mir Lily wichtig ist. Dahinter steckt nicht nur ein schlechtes Gewissen. Wir gehören zusammen. Ich ertrage es nicht, dass es ihr schlecht geht. Sie hat niemandem etwas zuleide getan. Die Worte des Russen hallen mir noch im Kopf wider. Hat er Lily wirklich nichts zu trinken gegeben? Das ist nicht nur gemein, es kann auch echt gefährlich sein. Ich glaube, Babys trocknen schneller aus als Erwachsene.
«Geht’s?», fragt Julie besorgt.
War ich wieder abgetaucht? Nic und Leo diskutieren heftig. Noch immer eilen Shopper an uns vorbei. Mir wird bewusst, dass uns jeder vom Eingang des Warenhauses aus sehen kann. Ich denke an Regina, die oben im Restaurant sitzt. Was, wenn sie mich hier entdeckt? Ich rapple mich auf und zeige um die Ecke, dorthin, wo wir uns vor dem ersten Treffen beraten haben. Es kommt mir vor, als sei es ewig her.
Julie begreift und folgt mir. Sie sagt etwas zu Leo und Nic, die verstummen. Erst als wir vom Eingang aus nicht mehr zu sehen sind, reden sie weiter.
«Wir müssen zur Polizei!», sagt Leo.
«Und wie erklären wir den Bullen, dass wir den ganzen Tag zugewartet haben?», fragt Nic.
«Egal!», meint Leo. «Der Russe ist völlig übergeschnappt! Die ganze Sache ist eine Nummer zu gross für uns!»
«Leo hat Recht», stimmt Julie zu. «Wir wissen nicht, was der Russe als Nächstes tut. Er hat keine neue Zeit genannt, keinen Treffpunkt, überhaupt nichts. Er weiss nicht mehr weiter. Und das ist gefährlich!» Sie schaut mich mitleidig an. «Tut mir leid, Chris, aber ich glaube, es bleibt uns keine Wahl.»
Ich nicke. Dass ich wegen Dealens drankomme, macht mir auf einmal keine Angst mehr. Die Reaktion meines Vaters hingegen schon. Bei der Vorstellung wird mein Mund noch trockener, als er ohnehin schon ist. Wenn mein Vater richtig wütend ist, schweigt er. Aber so laut, dass es weh tut. Manchmal wäre es mir lieber, er würde schreien. Fast noch schlimmer ist die Vorstellung, dass mich Regina für immer hassen wird.
Mein Handy heult. «Yeah», nehme ich resigniert ab.
«Chris, ich …» Er zögert kurz. «Es dauert noch ein bisschen. Höchstens eine halbe Stunde. Geht’s mit dem Hunger?»
«Easy.»
Jetzt, sage ich mir. Ich muss es ihm sagen. Aber die Worte verlassen meinen Mund nicht. Wenn ich schon zur Polizei muss, dann lieber zu einem fremden Bullen. Julie nickt ermutigend, sie will, dass ich beichte. Als ich weiterhin schweige, streckt Leo die Hand nach dem Telefon aus. Rasch drücke ich auf «Aus».
«Chris!», schimpft Julie. «Du musst es erzählen!»
«Das ist ein Zeichen», rede ich mich heraus.
«Wofür?», will Nic wissen.
«Dass ich noch eine halbe Stunde Zeit habe.» Die Erklärung klingt selbst in meinen Ohren eigenartig. Aber zum ersten Mal haben die leeren Versprechungen meines Vaters auch etwas Gutes. Vermutlich wird er in einer halben Stunde wieder anrufen und sagen, dass es noch später wird. Das ist so was wie eine Gnadenfrist.
Ich betrachte meine grossen Füsse. Einmal habe ich Lily tatsächlich auf meinen Fuss gesetzt. Ich bewegte das Bein auf und ab, wie eine Wippe. Sie fand es super. Doch dann kippte sie und fiel hinunter. Nächstes Mal werde ich sie festhalten, schwöre ich mir.
«Wo hat er sie bloss versteckt?», frage ich laut.
Leo knackt mit den Fingerknöcheln. «Irgendwo! Ein kleines Kind passt doch überall rein.»
Julie kreischt entsetzt. «Leotrim! Du bist so was von makaber! Lass die blöden Sprüche!»
Ich sehe Leo an, dass er keine Witze reisst. Er meint es ernst. Ich stelle mir vor, wo der Russe Lily verstauen könnte. In einem Schrank zum Beispiel. Oder in einem Schliessfach. Einem Kühlschrank. Einem Abfalleimer. Meine Phantasie geht mit mir durch.
Nic schluckt leer.
Wir schauen uns entsetzt an. Niemand sagt etwas. In der Ferne höre ich eine Sirene. Mir wird langsam kalt. Die Schaufensterpuppen tragen Handschuhe und Wollmüt- zen mit Ohrenklappen.
Julie wirkt abwesend. Sie kaut auf einer Haarsträhne herum. Das Smiley an ihrem Ohr hat sich gedreht, so dass die Mundwinkel nach unten zeigen. Ich frage mich, wohin Lilys Mundwinkel jetzt zeigen. Julies Finger berühren ihr Ohr. Abwesend spielt sie mit dem Stecker. Sie merkt gar nicht, dass sie ihn wieder zurückdreht. Auf einmal schlägt sie sich an die Stirn.