Lily muss im Warenhaus sein!», keucht Julie. «Deshalb kam der Russe immer wieder dorthin zurück. Denk mal nach: Er kann den Kinderwagen problemlos irgendwo stehen lassen. Für kurze Zeit zumindest. Das fällt überhaupt nicht auf! Erst recht nicht, wenn er sich in der Spielwarenabteilung oder bei den Babykleidern befindet. Jeder denkt doch, Lily gehöre einer der Frauen, die dort einkaufen!»
Ich bleibe so abrupt stehen, dass Leo mit mir zusammenstösst. Mir kommt ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn Regina sie sieht?
«Pass auf, Mann!», schreit Leo.
Ich glaube, wir sind alle mit den Nerven fertig.
«Regina», presse ich hervor.
Julie nimmt meine Hand und zieht mich mit. «Vergiss Regina! Daran können wir nichts ändern.»
«Was ist, wenn sie Lily sieht?», frage ich.
«Wir wissen gar nicht, ob Lily wirklich dort ist!» Nicoles Worte sind wie eine kalte Dusche.
Julie wirft ihr einen giftigen Blick zu. «Wenn Regina Lily sieht, sagst du ihr, dein Vater sei gerade dabei, ihr ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen. Deshalb würdest du kurz auf Lily aufpassen. Dann bittest du Regina, schnell zu verduften, weil das Geschenk eine Überraschung sei. Und deinem Vater solle sie nicht verraten, dass sie dich gesehen habe, denn sonst sei er enttäuscht.»
«Aber mein Vater kauft keine Weihnachtsgeschenke», entgegne ich verdattert.
«Manchmal muss man eben lügen!»
Dass ich das je von Julie hören würde, hätte ich nie gedacht. Überhaupt, wie kann sie so viele Schritte vorausdenken? Ich hätte schon längst vergessen, was ich ursprünglich sagen wollte. Leo behauptet, denken sei wie programmieren. Man müsse nur immer «wenn A, dann B» wissen. «Oder C, wenn B» falsch sei. «Oder D». Und so weiter. Bei jedem Schritt gebe es jeweils zwei Möglichkeiten: «B oder nicht B». «C oder nicht C». So könne man ein ganzes Gedankengerüst aufbauen. Warum das jemand macht, ist mir ein Rätsel.
Wir sind am Eingang des Warenhauses angekommen. Es strömen immer noch viele Menschen an uns vorbei. Einige sehen ziemlich müde aus. Ein Junge quengelt, obwohl er einen Dinosaurier in den Armen hält, der neu aussieht. Mir fällt ein, dass es einen zweiten Ausgang gibt, der in eine Seitenstrasse führt.
Julie nickt. «Stimmt! Der Ausgang beim Bretzelstand. Teilen wir uns auf? Wir gehen hier rein, Leo und Nic auf der anderen Seite. Wir durchkämmen das Erdgeschoss und treffen uns bei der Rolltreppe.»
«Glaubst du, der Russe wird zurückkommen?», fragt Nic mich.
«Der Laden schliesst bald», antwortet Julie an meiner Stelle. «Das weiss der Russe bestimmt auch. Er kann Lily nicht über Nacht hier lassen!»
«Wenn sie überhaupt im Warenhaus ist», ergänzt Nic.
Julie blickt sie genervt an.
«Weiss der Russe, dass dein Alter Bulle ist?», fragt Leo.
Ich zucke mit den Schultern. «Warum?»
«Könnte doch sein, dass das zu seinem Plan gehört. Er lässt Lily absichtlich hier, weil er weiss, dass man die Bullen rufen wird. Dein Alter taucht auf, nimmt sie mit, und du bekommst gewaltigen Ärger.»
Dass der Russe so schlau ist, finde ich nicht fair. Etwas hat Leo aber vergessen: Mein Vater rückt nur aus, wenn es Tote gibt. Nicht, wenn man ein Kind findet. Ausser, Lily ist tot.
«Chris!», quietscht Julie. «Was hast du?»
«W-was ist, wenn …» Ich will es nicht aussprechen. Sonst wird es real. Gedanken kann man ignorieren. Worte nicht. Mit meinem Vater war das genauso. Es war okay, dass er mich immer wieder vergass. Ich legte mir einfach zurecht, er habe zu viel um die Ohren. Sogar, als er für drei Jahre verschwand, malte ich mir aus, dass er eine wichtige Mission zu erfüllen habe. Doch eines Tages war eine Freundin von Mam zu Besuch. Ich lauschte dem Gespräch, ohne dass Mam es merkte. Was mir am meisten blieb, war ihr letzter Satz: «Er ist beziehungsunfähig. Nicht einmal seinen Sohn liebt er.»
Klar wusste ich das. Welcher Vater vergisst Geburtstage? Hört auf, seinem Sohn Geschichten zu erzählen? Verspricht, am Sonntag mit ihm ins Hallenbad zu gehen und taucht einfach nicht auf? Mir war immer klar, dass mein Vater mich nicht besonders toll fand. Aber trotzdem war es etwas anderes, das zu hören.
Ich schiebe mich durchs Gewühl zum Eingang. Die meisten Menschen gehen in die entgegengesetzte Richtung. Nur wenige stürzen sich so kurz vor Ladenschluss noch ins Getümmel. Jemand drückt mir einen Flyer in die Hand. Ich blicke kurz darauf, sehe das Wort «Gott» und lasse ihn fallen. Parfümgeschwängerte Luft schlägt mir entgegen.
Julie und ich gehen durch ein Labyrinth von Gängen. Eine Verkäuferin will ihr einen neuen Duft andrehen, in der Hand hält sie ein Fläschchen. Nach der Parfümabteilung folgen die Socken. Frauenbeine ragen empor, tragen verschieden lange Strümpfe.
Zwischen den Sportsocken und der Kasse entdecken wir einen Kinderwagen. Julie steuert darauf zu. Ein Kind schläft mit einem Nuggi im Mund. Julie sieht mich fragend an. Mir wird plötzlich klar, dass sie gar nicht weiss, wie Lily aussieht. Nur Leo hat Lily einmal gesehen, als er bei mir war. Allerdings waren wir am Zocken. Keine Ahnung, ob er sich ihr Gesicht gemerkt hat. Ich schüttle den Kopf.
Bei den Handschuhen und Hüten ist sie ebenfalls nicht. Das habe ich auch nicht erwartet. Aber wir gehen auf Nummer sicher. Gleich hinter den Regenschirmen befindet sich die Rolltreppe. Nic und Leo warten schon.
«Hey», sage ich zu Leo. «Erkennst du Lily überhaupt?»
«Klar, Mann. Sie sieht genau so aus wie du.»
Ich weiss nicht recht, was ich von seiner Antwort halten soll.
Auf der Rolltreppe haben wir einen guten Überblick. Während wir nach oben fahren, vergewissere ich mich, dass wir keinen Kinderwagen übersehen haben. Auch Leo lässt seinen Blick über das Erdgeschoss schweifen.
Im ersten Stock teilen wir uns wieder auf. Hier hat es vor allem Herrenkleider. Die Kunden sind zum grössten Teil Frauen. Vor den Anzügen steht eine schmale Gestalt mit dunkelblonden Haaren. Sie fährt über den Stoff und sieht sich das Preisschild an. Kurz stockt mein Atem. Von der Statur her könnte es Regina sein. Nur die Frisur stimmt nicht ganz. Ausserdem würde Regina kaum Anzüge anschauen. Mein Vater trägt zwar ab und zu ein Jackett, aber immer mit Jeans. Als sich die Frau abwendet, sehe ich, dass sie eine Brille trägt.
Wieder treffen wir uns bei der Rolltreppe, bevor wir den nächsten Stock in Angriff nehmen.
«Sag mal, wie sieht eigentlich der Kinderwagen aus?», fragt Nic.
Ich schliesse kurz die Augen, um mich besser zu erinnern. Krümel, denke ich. Auf der Sitzfläche liegen Krümel. Und Tannenzapfenstücke. Wenn Regina den Wagen schiebt, ist er sauber. Dann baumelt ein Nuggi an einer Kette herunter. Mein Vater nimmt ihn immer als Erstes weg, wenn er mit Lily allein ist. Er hält nicht viel davon, ihr den Mund zu stopfen. Er sagt, wenn Lily brüllen will, darf sie das. Regina behauptet, Saugen sei bei Babys ein Reflex. Die brauchen das. Ich glaube, sie hat Angst, man würde sie für eine schlechte Mutter halten, wenn Lily weint.
«Er hat ein Dach», sage ich, weil ich nicht weiss, ob der Russe den Schnuller entfernt hat oder nicht.
Nic seufzt übertrieben. «Geht es etwas genauer?»
Ich überlege.
«Farbe?», will sie wissen.
«Ähm … dunkel.»
«Drei Räder oder vier?»
Denkt sie tatsächlich, ich habe die Räder gezählt?
«Egal, suchen wir weiter!», treibt Julie uns an.
Im nächsten Stock befindet sich die Damenabteilung. Julie muss sich zusammenreissen, um die Kleider zu ignorieren. Leo hingegen kann seinen Blick nicht von den BHs losreissen. Unter normalen Umständen hätte ich sie mir vielleicht auch etwas genauer angesehen. Ein Blick auf mein Handy zeigt mir aber, dass das Warenhaus in einer Viertelstunde schliesst. Ich eile durch die Lingerieabteilung. In diesem Stock befinden sich auch die Toiletten. Wir teilen uns auf. Leo und ich drehen eine Runde durchs Männerklo. Obwohl die Zeit knapp ist, stelle ich mich ans Pissoir. Ich muss schon so lange pinkeln, dass es jetzt einfach nicht mehr warten kann. Danach trinke ich gierig Wasser vom Hahnen. Es ist warm, aber das ist mir egal. Leben kehrt in meinen Körper zurück.
Vor der Tür warten Julie und Nic schon ungeduldig. Im nächsten Stock ist die Kinderabteilung untergebracht. Jetzt wird es ernst. Wenn der Russe Lily im Warenhaus deponiert hat, dann dort. Mein Mund wird trocken, trotz des Wassers, das ich soeben getrunken habe.
«Wie gross ist Lily?», fragt Nic.
«Etwa so lang wie ein Tennisschläger», schätze ich. «Gestreckt. Aber sie streckt sich nur, wenn sie Hunger hat.» Das dürfte jetzt der Fall sein.
Die ersten Kinderwagen stechen mir bereits ins Auge, als ich nach oben fahre. Sie stehen an der Kasse, behängt mit Taschen. Zu jedem gehört eine Frau. Ein einziger Vater ist mit seinem Kind unterwegs. Er reicht dem Knirps ein Stofftier. Die Kinderwagen sehen alle verblüffend ähnlich aus.
Nic zeigt auf die Warteschlange. «Welcher Kinderwagen gleicht Lilys?»
«Hä?», frage ich, unsicher, ob sie sich einen Scherz erlaubt.
Nic schnalzt mit der Zunge und wiederholt die Frage.
«Alle», antworte ich.
Auch Leo sieht keinen Unterschied. Nic schüttelt den Kopf und steuert auf die Spielsachen zu. Ganze Regale sind mit Legos gefüllt. Leo bleibt vor einem Lego-Ferrari stehen. Als Nic ihn zurechtweist, geht er rasch weiter. Julie zieht es zu den Barbies. Zwei kleine Mädchen bewundern die glitzernden Kleider. Einen Kinderwagen entdecke ich nicht.
Ich gehe weiter zu den Puppen. Sie sehen total echt aus. Der Russe hätte Lily einfach dazwischen setzen können. Eine weint sogar. Das würde mich stressen. Zu meinem sechsten Geburtstag hat mir Mam eine Puppe geschenkt, die man füttern konnte. Peinlich! Sie war der Meinung, bei der Erziehung müsse man Stereotypen vermeiden. Das erklärte sie mir jedenfalls. Ich kapierte damals nicht, was sie damit meinte. Es ging darum, dass Mädchen mit Autos und Jungen mit Puppen spielen sollten. Die anderen Jungs im Kindergarten bekamen Playmobil-Figuren und ferngesteuerte Autos. Einer sogar eine Wasserpistole, die wie echt aussah.
Ich schmiss die Puppe in eine Ecke. Eines Tages war mir langweilig, da holte ich sie hervor. Ich wollte wissen, wie viel sie essen konnte. Ich erinnere mich genau daran, wie ich zum Kühlschrank ging und Jogurt, Käse und Milch holte. Das Jogurt passte problemlos durch die Öffnung zwischen ihren Lippen. Den Käse musste ich zermanschen. Er verstopfte das Loch, so dass die Milch nicht mehr reinging. Sie floss in die Haare und dann auf den Teppich. Zu meinem siebten Geburtstag bekam ich einen Fussball.
Wir sind beim Babyzubehör angekommen. Immer noch keine Lily. Eine Stimme aus dem Lautsprecher kündigt an, dass der Laden in zehn Minuten zumache, und bittet die Kunden, sich an die Kasse zu begeben. Julie und ich schauen uns an. Ihre Augen sehen so aus, wie ich mich fühle: verzweifelt. Kann es sein, dass wir uns getäuscht haben? Ist Lily doch nicht im Warenhaus? Ich habe mich an diese Hoffnung geklammert wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Wenn sie nicht hier ist, gehe ich unter.
Hinter mir vernehme ich ein leises Wimmern. Ich drehe mich um. Zwischen Windelpackungen und Schlafanzügen steht ein Kinderwagen, den ich übersehen habe. Ich kann nur das Verdeck erkennen, doch darunter bewegt sich etwas. Ich stürzte darauf zu. So viele Gefühle brechen über mich herein, dass ich sie nicht auseinanderhalten kann. Ich erreiche den Kinderwagen gleichzeitig mit einer schwangeren Frau.
Fassungslos beobachte ich, wie sie sich vornüberbeugt und besänftigende Geräusche macht. Das Kind im Wagen strampelt, es kommt eine Hand zum Vorschein, dann ein Lockenkopf. Die Mutter zaubert eine Babyflasche hervor und reicht sie dem Kind im Wagen.
Ich möchte auch wimmern. Mich hinlegen und warten, bis mir jemand Nahrung zwischen die Lippen schiebt. Mich zudeckt und sagt, es werde alles gut. Doch da kann ich lange warten. Von klein auf hat mir mein Vater gesagt, ich solle mich nie auf andere verlassen. Ich müsse meine Probleme selber lösen. Allerdings hat er mir keinen Tipp gegeben, wie ich das anstellen solle. Mit einem Sohn, der den IQ von Kartoffelstock hat, hat er wohl nicht gerechnet.
Automatisch greife ich in meine Jackentasche. Keine Zigis. Auch das hatte ich bereits vergessen.
«Alles wird gut, Chris. Er wird ihr nichts antun. Er ist hinter dir her, nicht hinter Lily.» Julies Stimme kommt von weit her.
«Kopf hoch, Indianer!», sagt Leo. «Du hast dein Bestes gegeben. Man kann nicht jeden Fight gewinnen. Wir gehen jetzt zur Polizei. So schlimm wird es schon nicht werden.»
«Es gibt noch einen Stock», sagt Nic. «Lass uns weitersuchen. Wir haben noch fünf Minuten.»
«Oben ist nur das Restaurant», wendet Julie ein. «Chris war schon dort. Er hätte Lily gesehen.»
«Nicht unbedingt. Er hat sich auf Regina konzentriert.» Sie dreht sich zu mir. «Hast du auf Kinderwagen geachtet?»
Ich schliesse die Augen und versuche, mich daran zu erinnern, wie ich mit Regina nach oben gefahren bin.
Da war etwas. Mein Gehirn produziert reihenweise Bilder. Ich komme mir vor wie eines dieser Bücher, die aus vielen Seiten mit fast identischen Zeichnungen bestehen. Wenn man sie ganz schnell durchblättert, entsteht ein Film.
«Chris! Erinnerst du dich an etwas?» Julie hängt sich an meinen Arm.
«Lass ihn!», motzt Leo. «So kann er nicht denken.»
Kreischen. Farben. Kugeln. Schild. Weihnachten. In der Vorweihnachtszeit werden auch Babys gehütet.
«Der Kinderhütedienst!», keuche ich.