Tristan

I rgendwo krachte eine ohrenbetäubende Explosion, gefolgt vom unverwechselbaren Juchzen und Lachen aus Nico de Varonas Kehle.

Ihm macht das Spaß, dachte Tristan angewidert. Als sie Nico sich selbst überlassen hatten, mit Schusswunde und allem, wirkten seine Bewegungen so entspannt und sorglos, als würde er tanzen, während er zwischen den Gewehrschüssen hindurchschlüpfte. Als würde die Erdanziehung höchstselbst eine Ausnahme für ihn machen, was vermutlich auch zutraf. Tristan war bisher niemandem mit dem breiten Fachgebiet Physiomagie begegnet; seiner Ansicht nach besaß kein Medäer so begrenzte Fähigkeiten wie ein Physiker. Große Kräfte bezogen sich üblicherweise auf einzelne physikalische Phänomene: Levitation. Wärme. Kraft. Geschwindigkeit. Tristan hatte nicht geahnt, dass eine einzige Person all diese Fähigkeiten und womöglich noch mehr in sich vereinen konnte. Physische Magie war so anstrengend, dass Nico mittlerweile völlig erschöpft sein müsste, war er aber nicht.

Nein, er lachte. Er genoss das Ganze, während Tristan einfach nur übel wurde.

Aus Tristans Perspektive kam ihm die leichtere Aufgabe zu; er musste nur die Außengrenzen sichern, oder wie man das nannte. Falls irgendwo geschossen wurde, hatte er bei sich gedacht, dann auf Nico, den Tristan von vornherein nicht sonderlich gemocht hatte. Er kannte Typen wie ihn – laut, großkotzig und viel heiße Luft, wie bei den meisten Mitgliedern in der Gang seines Vaters, die aus Hexen und Hexern bestand. Sie alle besaßen einen Hang zur Gewalt, den sie notdürftig mit einer sklavischen Begeisterung für Rugby übertünchten, und genauso hatte Tristan auch Nico eingeschätzt. Jung und ungestüm und mit Feuereifer für Kämpfe, die er nicht gewinnen konnte.

Offenbar hatte Tristan sich geirrt. Nico gewann nicht nur, er schaffte das sogar mit einer Schusswunde an der Schulter seiner dominanten Hand.

Noch viel besorgniserregender: Er war damit nicht der Einzige.

Widerwillig hatte Tristan zugestimmt, sich Libby anzuschließen. Libby war für ihn bisher nichts als ein fleischgewordenes Ärgernis gewesen, das mit all seinen Unsicherheiten vermutlich nicht einen einzigen Tag überlebt hätte. Einzig seine Ritterlichkeit (oder etwas Ähnliches) hatte Tristan davon abgehalten, stattdessen mit Callum und Parisa loszuziehen, die nach links abgebogen waren, weil Letztere irgendetwas in den Gedankengängen des Hauses entdeckt hatte. Na gut, hatte Tristan gedacht, irgendwer muss ja auf die kleine nervige Göre aufpassen, denn wie soll sie überleben, wenn niemand ihren Fragenschwall beantwortet?

Doch dann, wie sollte es auch anders sein, hatte ihn in einem der unzähligen Gänge dieses Monstrums von Herrenhaus ein bewaffnetes Rudel mutmaßlicher Spione überrascht, und jetzt war er sehr viel dringender auf die Hilfe besagter nerviger Göre angewiesen, als ihm lieb war.

»In Deckung«, blaffte Libby, als wieder ein Gewehrschuss knallte, diesmal von irgendwo hinter ihnen. Immerhin eine erfrischende Abwechslung zu ihrem üblichen verängstigten Gemurmel. Wenn dieser ganze Überfall irgendetwas Positives mit sich brachte, dann die Erkenntnis, dass Libby Rhodes wesentlich kompetenter war, als sie aussah.

Allmählich bereute Tristan, sich mit keinem der drei Physiomagier angefreundet zu haben. An sich wäre Nico die beste Wahl, er schien ein echtes Energiekraftwerk zu sein. Eine so hoch entwickelte Magie wie seine hatte Tristan noch nie gesehen, und als Investmentanalyst war ihm schon so einiges untergekommen. Er war Medäern begegnet, die behaupteten, ganze Fabriken mit dem Äquivalent von Nuklearenergie versorgen zu können – und selbst die hatten weder die rohe Kraft noch die präzise Beherrschung von Nico an den Tag gelegt. Langsam dämmerte Tristan, dass er Libby und Nico wegen ihres zarten Alters und der fehlenden Erfahrung eventuell unterschätzt hatte. Dass sie nicht so unreif waren, wie sie wirkten. Jetzt wünschte er, er hätte nicht so eine scharfe Grenze zwischen sich und den anderen gezogen, denn die ließ sich mit Sicherheit nicht mehr so leicht ausradieren.

Das Ganze rief unangenehme Erinnerungen an seinen Vater wach, einen Hexer mit mittelmäßiger Begabung für Physiomagie. Er hatte Tristan immer als Enttäuschung betrachtet. Anfangs hatte Tristan kaum irgendwelche Anzeichen von Magie gezeigt und war als Teenager nur knapp als Medäer klassifiziert worden. Nicht sonderlich überraschend, schließlich hatten sie sich jahrelang darum gesorgt, ob er überhaupt ein Hexer wäre.

Hatte er sich deswegen für diese Sache entschieden? Atlas Blakely brauchte Tristan nur zu erzählen, was für ein seltener Spezialfall er war, und schon dachte er: Na klar, ich trete alles in die Tonne, was ich mir über die Jahre mühsam aufgebaut habe, nur um meinem Vater, mit dem ich mich verkracht habe, meine Bereitschaft zu tollkühnen Taten zu beweisen?

»Kennst du irgendwelche Kampfzauber?« Libby keuchte und warf Tristan einen höchst unbefriedigten Blick zu. Wahrscheinlich völlig zu Recht.

»Ich bin … nicht so gut mit stofflichen Entitäten«, brachte er gerade noch hervor und duckte sich unter der nächsten Kugel weg.

Diese Männer schienen zu einer anderen Gruppe zu gehören als die Typen, die sich Nico gerade unten in der Eingangshalle vorknöpfte. Aber sie waren definitiv ebenso großzügig mit Automatikwaffen ausgestattet. Tristan wusste nicht sonderlich viel über das Zusammenspiel von Magie und Technik bei der Kriegsführung, da James Wessex jegliche Geschäfte mit Waffentechnologie selbst in die Hand nahm, aber vermutlich waren das da unten Nichtmagier, die magiegestützte Zielfernrohre verwendeten.

»Ja, schon gut«, erwiderte Libby ungeduldig, »aber bist du …?«

Sie verstummte, bevor ihr sonst irgendwie nützlich herausrutschte.

Was, wie Adrian Caine unermüdlich betont hatte, Tristan niemals gewesen war.

»Komm einfach mit«, sagte sie genervt und zog ihn mit sich. »Bleib dicht hinter mir.«

Dies, befand Tristan, war eine ziemlich ärgerliche Wendung der Ereignisse. Erstens hatte er nicht rasend viel Erfahrung damit, unter Beschuss zu stehen. Das hier sollte ein Forschungsstipendium sein, verflucht noch mal; er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Aufenthalt im Alexandrinischen Archiv beinhaltete, sich hinter dem nächstbesten Prunksessel verkriechen zu müssen.

Er hätte bei Wessex Corp bleiben können und sein ganzes Leben keine einzige Kugel vorbeipfeifen gehört. Er hätte Atlas Blakely einfach auffordern können, sich sein Angebot sonst wohin zu stecken, und wäre stattdessen mit seiner Verlobten ans Meer gefahren; just in diesem Augenblick hätte er wilden, animalischen Sex haben und am nächsten Morgen bei einem fachgerecht gemixten Bloody Mary mit seinem milliardenschweren Schwiegervater die Zukunft des Unternehmens besprechen können. Spielte es eine Rolle, dass Eden eine unermüdliche Fremdgängerin war und James ein kapitalistischer Tyrann, wenn Tristan dafür nie wieder einen Finger krumm machen musste – abgesehen vom feuchtfröhlichen Badmintonspiel in familiärer Runde, bei dem Tristan sich ein gezwungenes Lachen abrang, wenn die neuesten unbeholfenen Possen des Proletariats durchgehechelt wurden?

In der jetzigen Situation schwer zu entscheiden.

Wenigstens hatte Libby inzwischen alles Zaudern zugunsten ihres nackten Überlebens über Bord geworfen und übernahm aktiv die Verteidigung. Wer immer diese Einbrecher waren, sie trugen vom Scheitel bis zur Sohle Schwarz, bewegten sich mit akrobatischer Gelenkigkeit durch den scheußlichen Salon und huschten wie Phantome zwischen den nachsichtig lächelnden Porträts aristokratisch kostümierter weißer Männer hin und her. Der Raum war so voller Magie, dass Tristan außer dicht sickerndem Nebel kaum etwas erkannte.

Libby fuhr herum und zielte ins Leere; ein Kraftausbruch, der im Nichts verpuffte.

»Verfehlt«, sagte er, ein gebrummter Akt der Besserwisserei, den er sich tunlichst verkniffen hätte, steckten sie nicht in einer absolut lebensbedrohlichen Lage.

Sie funkelte ihn wütend an. »Ich hab ihn nicht verfehlt!«

»Doch, und wie«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Um fast zwei Meter.«

»Aber er liegt am Boden, er …«

Himmel noch mal, war sie blind? Er hätte sich an Nico halten sollen. »Wovon redest du? Schön, du hast vielleicht eine Lampe zerdeppert, aber das war bloß Edwardische …«

»Ich habe überhaupt keine …« Libby blinzelte. »Willst du etwa behaupten, da war gar nichts?«

»Natürlich war da nichts«, knurrte er missmutig, »da ist …«

Großer Gott – wie konnte er nur so blöd sein?

»Das ist eine Illusion«, begriff er, sauer auf sich selbst, dass er nicht längst geschaltet hatte. Ohne weitere Zeit zu verschwenden, packte er Libby an den Schultern und drehte sie herum. »Da vorn, siehst du das? Genau vor uns.«

Sie feuerte wieder. Diesmal brachte sie eine Kugelsalve zur Explosion, indem sie sie mitten im Lauf aufhielt und detonieren ließ. Den Schützen fegte es von den Füßen, Splitter fetzten durch die Luft, und eine vorübergehende Rauchwolke vernebelte die Sicht. Libby besaß eine enorme Sprengkraft, was Tristan ungemein erleichterte, doch mit der sollte sie vermutlich lieber haushalten. Wahrscheinlich kostete sie das die gleiche Menge an Energie, die Nico mit seinen Aktionen im Erdgeschoss verpulverte; sie sollte sie also lieber nicht unbedacht verfeuern, solange sie nicht wussten, wie viele Gegner noch auftauchten.

»Wie sieht der Raum für dich aus?«, fragte er an ihrem Ohr und bemühte sich um Konzentration, während sich der Rauch verzog. Abgesehen von flimmernden Sturzfluten aus Magie erkannte er nicht viel.

»Ich weiß nicht … Es sind Dutzende, wenn nicht noch mehr.« Sie verzog das Gesicht, kämpfte sichtlich mit ihrer Frustration. Für jemanden mit Kontrollzwängen von Libbys Kaliber war die Vorstellung, von Illusionen umgeben zu sein, bestimmt besonders beklemmend. »Es wimmelt nur so von ihnen.«

»Es sind nur noch drei übrig«, sagte Tristan, »aber verschwende bloß nicht deine Energie. Lass mich versuchen, den Medäer zu finden, der die Illusionen wirkt.«

Libby biss die Zähne zusammen. »Beeil dich!«

Also gut. Er hob den Kopf und blickte sich um, versuchte zu entscheiden, wer von den dreien hier zauberte – falls der betreffende Medäer überhaupt im Raum war. Er sah keinerlei Anzeichen für frisch produzierte Magie, entdeckte dafür jedoch eine Kugel – eine echte; Libby konnte sie anscheinend nicht vom Trugbild unterscheiden. Gerade noch rechtzeitig zog er einen primitiven Schutzschild hoch, der sich beim Einschlag wieder in Luft auflöste. Libby zuckte erschrocken zusammen.

»Der Medäer ist nicht hier«, sagte Tristan. Eine verdammt beunruhigende Erkenntnis. »Lass uns die drei hier loswerden und weitersuchen.«

»Ziele mit mir«, sagte sie, ohne zu zögern. »Drei kann ich ausschalten.«

Daran zweifelte Tristan keine Sekunde.

Er ergriff ihren linken Arm und lenkte ihn auf einen Schützen, der gerade wieder eine Salve abschickte. Abermals wandte sich Libbys Explosion gegen den Angreifer selbst. Allerdings wartete Tristan nicht ab, um das Ergebnis zu begutachten. Die anderen zwei standen nämlich nicht still, ganz im Gegenteil. Also zog er Libby an seine Brust und zielte mit ihrem Arm erst auf den einen, der auf sie zu rannte, und dann sofort, was etwas schwieriger war, auf den anderen, der gerade aus dem Zimmer schlüpfte.

»Da lang ist er«, sagte er, zog Libby auf die Beine und rannte dem fliehenden Schützen hinterher. »Irgendwo dort muss auch der Medäer sitzen. Kannst du …«

Um sie herum krümmte sich die Atmosphäre, und eine dünne, luftdichte Blase schloss sich mit einem leisen Ploppen um sie.

»Danke«, sagte er.

»Kein Problem«, sagte sie keuchend.

Tristan entdeckte ein paar schwache Spuren von Magie und folgte ihnen bis zur hauseigenen Kapelle. Das erste Bleiglasfenster zeigte das Symbol des Wissens, eine bernsteinfarbene Flamme. Sie glühte gespenstisch im Widerschein der Funken an Libbys Händen.

Den Illusionisten machte er ausfindig, noch bevor sie die Kapelle ganz betreten hatten. Der Tarnzauber war ganz offensichtlich teuer. Er überdeckte den Großteil des Raumes und reichte bis in die vordersten Türeingänge hinein. Tristan hielt Libby zurück, wollte den Medäer erst beobachten. Vielleicht arbeitete er mit jemandem zusammen.

Danach sah es tatsächlich aus, auch wenn Tristan nicht beurteilen konnte, ob sich dieser Jemand hier im Haus oder irgendwo in der Ferne befand. Der Medäer tippte eifrig auf einem Laptop herum, der kein bisschen magisch aussah. Womöglich programmierte er die Überwachungskameras um, um etwas zu sehen. So oder so verschaffte es ihnen ein paar Sekunden Zeit. Müsste er nicht gleichzeitig seine Illusionen im Griff behalten, hätte der Illusionist ihre Anwesenheit längst bemerkt.

»Los«, flüsterte Tristan Libby zu, »solange er nicht herguckt.«

Sie zögerte. Genau die falsche Reaktion. »Soll ich ihn töten, oder …?«

Genau in dem Moment hob der Medäer den Kopf und sah Tristan direkt in die Augen.

»Jetzt!«, rief Tristan und klang verzweifelter als gehofft.

Und Libby, Scheiße sei Dank, riss genau rechtzeitig die Hand hoch und wehrte ab, was auch immer da auf sie zuraste. Der Medäer machte große Augen, offenbar überrascht, dass er der Unterlegene sein könnte, während Libby auf ihn zutrat und die Energie seines eigenen Angriffs über ihn hinwegrollen ließ.

Kampflos gab ihr Gegner allerdings nicht auf; er unternahm einen weiteren Versuch, und diesmal hatte Libbys Antwort die Macht eines Blitzeinschlags. Mit einer Art Peitschenhieb, der sich um seine Handgelenke wickelte, setzte sie ihn außer Gefecht. Tristan hörte einen Schmerzensschrei, dann ein Murmeln; irgendeine grobe Unflätigkeit, vermutete Tristan, wobei sein Chinesisch etwas eingerostet war.

»Wer hat dich hergeschickt?«, wollte Libby wissen, aber der Medäer rappelte sich schon wieder auf. Tristan, der bereits befürchtet hatte, der Kerl könnte zu seiner Verteidigung noch mehr Illusionen heraufbeschwören, sprang nach vorn, packte wieder Libbys Arm und riss ihn hoch.

»Welchen?«, fragte Libby erschrocken. »Er hat sich verdoppelt.«

»Den da, am hinteren Fenster …«

»Er vervielfältigt sich!«

»Halt einfach still, ich hab ihn …«

Als Tristan diesmal Libbys Handfläche auf den fliehenden Medäer ausrichtete, erhaschte sein Blick etwas; ein Stückchen Magie, das von weitem nicht zu erkennen gewesen war. Eine kleine glitzernde Kette, zart wie ein Schmuckstück, die mit einem Ruck zerriss.

Genau in dem Moment wandte der Medäer mit angstvoll geweiteten Augen den Kopf. Das war ein Verbindungszauber. Gewesen.

»Er hatte einen Partner. Den hat er jetzt nicht mehr«, übersetzte Tristan in Libbys Ohr.

Sie erstarrte. »Heißt das …?«

»Das heißt, töte ihn, bevor er abhauen kann!«

Er spürte den Feuerstoß unter seinen Fingern, wie er durch ihre Handgelenke aus ihr hinausschoss. Er spürte die ganze Kraft, die durch ihre Venen pumpte, und verfiel in stumme Ehrfurcht angesichts solch scharfer Munition in seiner allernächsten Nähe. Libby war eine menschliche Bombe; sie konnte den ganzen Raum in Einzelteile zerlegen, konnte selbst die Luft in winzige, ununterscheidbare Atome spalten. Wäre Adrian Caine je Libby Rhodes über den Weg gelaufen, hätte er sie um jeden Preis kaufen wollen; er hätte ihr den größten Anteil geboten, ihr die höchsten Privilegien seines kleinen Hexenkults zu Füßen gelegt. So war er, Tristans Vater – Geschlecht, Alter, Herkunft, Klasse, alles ganz egal. Optik zählte erst recht nicht. Nutzen hatte die höchste Priorität. Und Zerstörung war Adrian Caines Gott.

Tristan wandte den Kopf ab, und doch brannte ihm die Hitze der Detonation auf den Wangen. Libby sank nach der Kraftanstrengung erschöpft in sich zusammen. Er schlang ihr den Arm um die Taille und brachte sie halb tragend, halb ziehend hinaus.

Er blieb erst stehen, als er Parisa sah, die mit bleichem Gesicht aus einem der unteren Korridore auf den Treppenabsatz trat. Callum war bei ihr.

»Da seid ihr ja«, sagte Parisa dumpf. Sie klang, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Was ist passiert?«, fragte Tristan und stellte Libby wieder auf die Füße. Sie wirkte noch ein bisschen wackelig auf den Beinen, nickte ihm jedoch zu und löste sich aus seinem Griff.

»Mir geht’s gut«, sagte Libby, blieb aber in Alarmbereitschaft, die Schultern angespannt.

»Gerade eben sind wir unten in eine andere Medäerin reingerannt«, sagte Callum. »Irgendein Spitzeldienst aus Peking. Spezialisiert auf Kämpfe.«

Tristan blinzelte. Das kam ihm bekannt vor. »Hatte die Medäerin einen Partner?«

»Ja, einen Illu…«

»Einen Illusionisten«, bestätigte Tristan und tauschte einen wissenden Blick mit Libby. »Den haben wir erwischt. Woher weißt du, dass das Spione waren?«

»Abgesehen vom Offensichtlichen? Sie hat es mir erzählt«, sagte Callum. »Nur sie und ihr Partner hatten magische Kräfte, alle anderen waren Nichtmagier.«

Die wahrscheinlich als Ablenkungsmanöver dienten, während nur einer der beiden Medäer den eigentlichen Einbruch vorgenommen hatte.

Libby bewegte testweise ihre Hände und warf wachsame Blicke um sich. »Und sie hat gesagt, sonst wäre niemand hier? Das kann ja auch eine Lüge gewesen sein.«

»War es nicht«, sagte Callum.

»Woher weißt du das?«, beharrte Libby. »Sie hätte einfach …«

»Weil ich ganz lieb gefragt habe«, sagte Callum.

Eine Lüge hätte Parisa bemerkt – vorausgesetzt die Medäerin benutzte keine mentalen Schutzschilde. Allerdings hatte Parisa noch kein Wort zu der ganzen Angelegenheit geäußert.

»Alles in Ordnung?«, fragte Tristan sie.

Mit einem Kopfschütteln kehrte sie in die Gegenwart zurück und sah ihn kurz verwirrt an. »Ja. Bestens.« Sie räusperte sich. »Soweit ich es beurteilen kann, ist das Haus jetzt leer.«

»War es nur eine einzige Gruppe?«

Parisa schüttelte den Kopf. »Die im Erdgeschoss, die Nico und Reina übernommen haben, gehörten zusammen. Dann die beiden Partner, die wir erledigt haben, und dann war noch jemand da, der auf eigene Faust gearbeitet hat.«

»Nicht ganz auf eigene Faust«, erklang eine Stimme neben ihnen.

Die vier fuhren herum und gingen instinktiv in Verteidigungsposition.

»Keine Sorge«, beruhigte sie ein lächelnder Atlas, mit Dalton in seinem Kielwasser. »Ich bin es nur.«

»Ist er es wirklich?«, flüsterte Libby Tristan zu, der einigermaßen beeindruckt war. Die Paranoia, der Perfektionismus oder was es nun war, stand ihr ganz gut zu Gesicht. Sie traute ihren eigenen Augen nicht mehr, und langfristig war das vermutlich besser so.

»Ja«, antwortete er, »wirklich.«

Sie nickte ernst und schwieg.

»Der Agent kam im Auftrag Ihres früheren Arbeitgebers, Mr. Caine«, sagte Atlas mit Blick zu Tristan. »Wir rechnen allerdings alle zehn Jahre mit Besuch von der Wessex Corp, das war also keine größere Überraschung.«

Tristan runzelte die Stirn. »Sie … rechnen mit ihnen?«

In dem Moment stürmte Nico euphorisch die Treppe herauf. Reina folgte ihm wie ein flüchtiger Schatten.

»Hi«, sagte Nico in blutiger Verunstaltung. Sein dünnes weißes T-Shirt war an der Schulter dunkelrot verkrustet und seine Nase gebrochen, was ihm allerdings bisher nicht aufgefallen zu sein schien. Er schwirrte regelrecht vor Adrenalin und begrüßte Atlas mit einem übereifrigen Nicken. »Was ist los?«

»Nun, Mr. de Varona, ich habe die anderen gerade darüber informiert, welche Agenten Ihnen heute Abend gegenüberstanden«, antwortete Atlas und ließ Nicos Erscheinungsbild höflicherweise unkommentiert. »Sie und Miss Mori haben ein militärisches Einsatzkommando ausgeschaltet.«

»MI6?«, riet Nico.

»Und CIA «, bestätigte Atlas. »Angeführt von einem Medäer, der sich auf …«

»Wellen spezialisiert hat, ja«, ergänzte Nico, pure Energie versprühend. Er warf einen Seitenblick auf Libby. »Und wen hast du erlegt, Rhodes?«

Libby erstarrte an Tristans Seite. »Freu dich nicht so, Varona, das Ganze ist grauenvoll«, zischte sie.

Atlas antwortete an ihrer Stelle. »Mit der Hilfe von Mr. Caine hat Miss Rhodes einen weltweit gesuchten Illusionisten beseitigt.« Atlas nickte Tristan anerkennend zu. »Seine Partnerin, eine Nahkampfspezialistin, wurde von Mr. Nova ausgeschaltet. Beide Agenten befanden sich im permanenten Einsatz für eine Geheimdienstoperation aus Peking. Praktischerweise waren sie auch weltweit gesuchte Kriegsverbrecher, und wir informieren die Behörden mit Freuden darüber, dass sie sich nicht mehr mit ihnen zu befassen brauchen.«

»Ist uns irgendwer entwischt?«, fragte Libby, die sich offenbar nicht so leicht beruhigen ließ.

Reina kam Atlas’ Antwort zuvor. »Ja. Zwei sind entkommen.«

Die anderen fünf fuhren zu ihr herum, und sie zuckte mit den Schultern.

»Sie haben nicht gekriegt, was sie wollten«, sagte sie ruhig. »Die Verteidigungsmechanismen waren zu komplex.«

»Richtig«, sagte Atlas. »Miss Mori hat recht. Tatsächlich waren zwei Medäer vom Forum hier, die erfolglos versucht haben, die Schutzzauber des Bibliotheksarchivs zu durchbrechen.«

»Vom Forum?«, fragte Callum.

»Eine akademische Gesellschaft, die unserer nicht unähnlich ist«, erläuterte Atlas. »Sie handeln nach der Überzeugung, dass Wissen nicht sorgsam bewahrt, sondern ungebremst verbreitet werden sollte. Sie missverstehen die Prinzipien unserer Arbeit völlig und greifen regelmäßig unsere Archive an.«

»Wieso wissen Sie das alles überhaupt?«, fragte Tristan, den der unbekümmerte Tonfall des Kurators allmählich aufbrachte. »Das klingt, als wären wir wie auf dem Präsentierteller allem ausgeliefert gewesen, was Sie bereits haben kommen sehen.«

»Weil es ein Test war«, warf Callum ein.

»Kein Test.« Atlas schenkte ihm ein ungeduldiges Lächeln. »Streng genommen.«

»Dann nehmen Sie es mal weniger streng«, sagte Parisa scharf. »Schließlich sind wir gerade beinahe umgebracht worden.«

»Sie sind nicht beinahe umgebracht worden«, entgegnete Atlas. »Ja, Ihr Leben war in Gefahr. Aber wir haben Sie für die Alexandrinische Gesellschaft auserwählt, weil Sie alle bereits über die nötigen Werkzeuge zum Überleben verfügen. Das Risiko, dass jemand aus Ihrer Runde stirbt, lag im Bereich …«

»… des Möglichen.« Libby kniff die Lippen zusammen. »Zumindest statistisch«, fügte sie hinzu und neigte fast schon ehrerbietig den Kopf Richtung Atlas, wie Tristan angewidert beobachtete, »war es definitiv möglich.«

»Viele Dinge sind möglich«, räumte Atlas ein. »Allerdings habe ich auch nie behauptet, dass wir hier für Ihre Sicherheit garantieren. Im Gegenteil, ich habe deutlich betont, dass Ihnen gewisse Vorkenntnisse in den Bereichen Verteidigung und Gefahrenabwehr abverlangt werden.«

Niemand erwiderte etwas. Sie warteten wohl einfach ab, bis es sie weniger frustrierte, dass sie zwar nie eine schriftliche Verzichtserklärung auf bewaffnete Raubüberfälle abgegeben hatten, aber doch gern gewisse Standards gewahrt wüssten.

»Es ist übliches Prozedere unserer Gesellschaft, alle zehn Jahre das Antrittsdatum unserer neuen Kandidaten gewissermaßen durchsickern zu lassen«, sprach Atlas in ihr Schweigen hinein. »Angriffsversuche sind zu diesem Zeitpunkt erwartbar, aber wir wissen nie genau, von wem oder in welcher Form die Angriffe kommen werden.«

»Der Großteil der Angriffe wurde von den bereits eingerichteten Schutzzaubern abgewehrt«, meldete sich Dalton zu Wort. »Der Auftakt zeigt uns regelmäßig, auf welchen Gebieten sich unsere Feinde womöglich weiterentwickelt haben.«

»Auftakt«, echote Nico. »Was ist das, so eine Art Spiel?« Er schien begeistert, dazu eingeladen worden zu sein.

»Eher gängige Praxis«, sagte Atlas. »Wir möchten sehen, wie gut unsere potenziellen Auserwählten zusammenarbeiten.«

»Also kurz gesagt: ein Test.« Callum klang nicht allzu erfreut.

»Eine Tradition«, berichtigte Atlas ihn mit wieder einem unbeweglichen Lächeln. »Und ehrlich gesagt, haben Sie sich alle ganz gut geschlagen. Dennoch bauen Sie nun, nachdem Sie sich gegenseitig im Einsatz erlebt haben, hoffentlich ein etwas gründlicheres Verteidigungssystem auf. Ein gutes Zusammenspiel ist sehr wichtig für unsere Form der Forschungsarbeit.« Er wandte sich mit hochgezogener Braue an Dalton. »Meinen Sie nicht, Mr. Ellery?«

»Wie gesagt, jede Kandidatenklasse stellt eine einzigartige Kombination von Fähigkeiten dar«, ergänzte Dalton ruhig. »Aus Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass Sie alle gleichermaßen als Teammitglied wie als Einzelperson ausgesucht wurden. Die Alexandrinische Gesellschaft baut darauf, dass Sie im weiteren Verlauf entsprechend agieren.«

»In der Tat«, schloss Atlas und wandte sich wieder der ganzen Gruppe zu. »Natürlich werden Sie sich um einige Details kümmern müssen, was bauliche oder magische Schäden angeht. Aber da das Haus nun geräumt ist und die Schutzzauber wieder arbeiten, schlage ich Ihnen vor, sich erst einmal ein wenig Ruhe zu gönnen und sich morgen weiter mit der Sicherheit des Hauses zu befassen. Gute Nacht.« Spröde nickte er ihnen noch einmal zu und verschwand, Dalton im Gefolge.

Parisa beobachtete Daltons Abgang mit großem, geradezu lebhaftem Interesse und runzelte die Stirn. Tristan wartete ab, bis die anderen sich in Bewegung setzten – Reina verschwand als Erste wortlos Richtung Bett, dann ging Callum, der noch einmal die Augen verdrehte, gefolgt von Nico und Libby, die sofort in eine gedämpfte Auseinandersetzung verfielen –, dann erst trat er auf Parisa zu. Sie wirkte aufgewühlt.

»Was ist los?«, fragte er.

Ihr Blick flackerte Richtung Callum, der bereits einige Schritte entfernt war.

»Nichts«, sagte sie. »Gar nichts.«

»Sieht nicht nach nichts aus.«

»Ach nein?«

Lediglich Callum wirkte völlig unberührt.

»Was ist passiert?«, fragte Tristan noch einmal.

»Nichts«, wiederholte Parisa. »Es war nur …« Sie verstummte, räusperte sich und setzte sich in Bewegung. »Es war nichts.«

»Ah ja, nichts«, sagte Tristan trocken. »Ist klar.«

Sie blieben an der Flurgabelung stehen, während die anderen bereits hinter ihren Türen verschwanden. Nico rief Libby noch irgendeine Abfälligkeit nach – etwas im Sinne von »Meine Fresse, Fowler wird’s überleben, verdammt« –, und dann waren nur noch Tristan und Parisa übrig.

Sie öffnete ihre Zimmertür, und er blieb zögerlich neben dem Türrahmen stehen.

»Ich hab überlegt«, sagte er und räusperte sich, »falls du Lust hast …«

»Momentan nicht«, sagte sie. »Letzte Nacht hat Spaß gemacht, aber wir sollten daraus lieber nichts Regelmäßiges machen, oder?«

Er erstarrte. »Das habe ich nicht gemeint.«

»Doch, hast du«, sagte Parisa. »Du wärst gerade fast verreckt, und jetzt willst du irgendwo deinen Schwanz reinschieben, bis du dich besser fühlst.« Tristan, der für dieses Sprachregister viel zu britisch war, wollte protestieren, doch sie redete weiter. »Das ist evolutionär bedingt. Wenn man dem Tod sehr nahe kommt, reagiert der Körper mit dem Impuls, sich fortzupflanzen.«

»So nahe war ich dem Tod gar nicht«, brummte Tristan.

»Nicht? Tja, schön für dich.« Parisas Gesichtsausdruck verhärtete sich, ihr Blick flog zu Callums Zimmertür.

Tristan hatte es zwar keine Sekunde bezweifelt, aber jetzt war es eindeutig: ›Nichts‹ war definitiv ›etwas‹ gewesen.

»Ich dachte, du magst ihn«, bemerkte er, und Parisa sah gereizt auf.

»Wer sagt, dass ich das nicht tue?«

»Ich meinte bloß …«

»Ich kenne ihn überhaupt nicht.«

Tristan überlegte, ob es sich lohnte, ein drittes Mal nachzufragen.

»Ganz offensichtlich ist ja irgendetwas vorgefallen«, stellte er fest. »Du musst mir nicht erzählen, was, ich will nur …«

»Nichts. Es ist nichts.« Sie sah ihn trotzig an. »Wie hat sich unser Fräulein Sonnenschein gemacht?«

»Libby? Ganz in Ordnung. Gut sogar.« Die Anerkennung hatte sie verdient. Ohne ihn hätte sie es vielleicht nur schwerlich geschafft, doch er hätte es ohne sie überhaupt nicht geschafft. »Sie ist gut.«

»Sie braucht ziemlich viel Aufmerksamkeit, oder?«

»Meinst du?«

Parisa schnaubte. »Du solltest mal eine Sekunde in ihrem Kopf zubringen.«

Tristan war sich sicher, dass er diesen Ort lieber weiträumig umging. »Freunde werden wir wohl kaum«, sagte er unbehaglich, »aber wenigstens ist sie nützlich.«

Da war es wieder. Nützlich.

Das eine Attribut, das er nicht für sich in Anspruch nehmen durfte.

»Diese ständige Selbstkritik ist totale Ressourcenverschwendung.« Parisa klang gelangweilt angesichts seiner gedanklichen Qualen. »Entweder glaubst du an deinen eigenen Wert, oder du lässt es sein, Ende der Geschichte. Und falls nicht«, fügte sie hinzu und öffnete endgültig ihre Zimmertür, »dann will ich keinesfalls riskieren, die hohe Meinung, die ich mir gestern Nacht eventuell zu Unrecht von dir gebildet habe, revidieren zu müssen.«

Tristan verdrehte die Augen. »Dann bin ich also zu gut? Ist das das Problem?«

»Das Problem ist, dass du dich nicht an mich binden sollst«, sagte Parisa. »Du kannst nicht einfach eine aufwendige Frau durch die nächste ersetzen, und noch viel wichtiger: Ich habe keine Zeit für deinen Vaterkomplex.«

»Danke für die sanfte Abfuhr«, sagte Tristan lakonisch.

»Oh, das war überhaupt keine Abfuhr. Wir werden sicher noch unseren Spaß miteinander haben, aber nicht zwei Nächte in Folge.« Parisa zuckte mit den Schultern. »Das sendet ein völlig falsches Signal.«

»Nämlich welches?«

»Dass ich dich nicht bei der erstbesten Gelegenheit loswerden würde«, sagte sie, schlüpfte in ihr Zimmer und schloss die Tür.

Großartig, dachte Tristan. Parisa war selbst dann schön, wenn sie gemeine Dinge sagte – besonders dann. Zudem war sie noch mal beträchtlich schöner als Eden, was einiges über Schönheit aussagte, und auch über Grausamkeit.

Er hatte wirklich ein Händchen für Frauen, die sich selbst an erste Stelle setzten. Als wäre er ein Spürhund für emotionale Unfälle. Immer wieder schaffte er es, die eine Person im Raum ausfindig zu machen, die ihn mit dem Wink des kleinen Fingers auf drei Zentimeter zusammenschrumpfen ließ. Er wünschte, diese dreiste Selbstgewissheit wäre weniger anziehend, doch leider hinterließ Ehrgeiz bei ihm einen unwiderstehlich süßen Nachgeschmack – wie auch Parisa selbst. Vielleicht hatte sie recht; vielleicht hatte er wirklich einen Vaterkomplex.