Reina

F ür Reina hatte es sich bereits doppelt und dreifach ausgezahlt, sich der Alexandrinischen Gesellschaft anzuschließen. Als sich der Sommer seinem Ende zuneigte und ihr gemeinsames Jahr erst zu einem Viertel verstrichen war, hatte sie schon wahre Reichtümer angehäuft. Zugegeben, sie hatte nur wenig hinter sich gelassen, so dass ihr Einsatz eher minimal gewesen war. So kam sie voll auf ihre Kosten. Die Materialien, die sie bei der Geheimgesellschaft fand, erfüllten ihre sehnlichsten Wünsche. Das Archiv beinhaltete exakt das, was sie sich von der Bibliothek von Alexandria erhofft hatte – und dabei hatte sie bisher nur grundlegendsten Zugang zu antiken wissenschaftlichen und magischen Untersuchungen. Nach knapp drei Monaten Recherche zu den physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Kraft und Raum hatte Reina bereits das Zauberbuch der Circe und die verschollenen Werke von sowohl Demokrit als auch Anaximander ausleihen können. Nicht auszudenken, was ihr nach einem kompletten Jahr zur Verfügung stand, oder gar nach zweien.

Also spielte sie hauptsächlich deswegen weiter bei Atlas Blakelys Spielchen mit, um ihren Zugang zu den Wissensschätzen nicht zu verlieren . Dies waren die antiken Schriften zu Animismus, Naturalismus und Kosmologie. Aber was würde sie noch von den Medäern des Mittelalters erfahren, die nur im Verborgenen etwas zur Bibliothek hatten beitragen können? Oder von den Medäern der Aufklärung? Würde Reina die Werke von Isaac Newton und Morgan le Fay in Händen halten? Zu diesem Zeitpunkt unmöglich zu wissen. Folglich musste Reina weiterkommen. Unbedingt.

Sie verbrachte mehr Freizeit im Lesesaal als irgendjemand sonst aus ihrer Kandidatenklasse und testete oft die Grenzen dessen, welche Texte ihr zugestanden wurden, unabhängig von ihrem aktuellen Forschungsthema. So bekam sie etwas besser als die anderen mit, wer sonst noch bei den Alexandrinern ein und aus ging.Obwohl die initiierten Mitglieder nie mit den Kandidaten kommunizierten, sah Reina sie häufig auf dem Weg zum Archiv oder von ihren Besprechungen aus Atlas’ Büro kommen. Mit welchen Kuratortätigkeiten Atlas, abgesehen vom Archiv, noch beschäftigt war, blieb unklar, da Reina und die fünf anderen nicht in die Aktivitäten des initiierten Zirkels eingeweiht wurden. Aber ganz offensichtlich leistete er gute Arbeit. Alle, die durch die Türen des Herrenhauses traten, mussten seine Einwilligung einholen, ohne Rücksicht auf ihren Sonderstatus in der Außenwelt, und dennoch wirkte in seiner Gegenwart nie jemand verärgert oder unruhig.

Mit einem Mitglied der Geheimgesellschaft hatte Reina dann doch eine zufällige Begegnung: Aiya Sato, die im Vorstand eines mächtigen Tokyoter Tech-Konzerns saß. Aiya war die jüngste weibliche Selfmade-Milliardärin in der nichtmagischen Marktwirtschaft und zugleich eine gefeierte Medäerin. Sie stand mit beiden Beinen fest in jeder der zwei Welten.

»Oh, Sie müssen Miss Mori sein«, sagte Aiya. Sie standen nebeneinander im oberen Stockwerk des Lesesaals und warteten auf ihre jeweiligen Bücherwünsche aus dem Archiv. Aiya, eine nimmermüde Netzwerkerin, begann das Gespräch in ihrem gemeinsamen Heimatdialekt. »Erzählen Sie, wie lief der Auftakt?«

Reina nannte ein paar Einzelheiten, für lange Unterhaltungen hatte sie nicht viel übrig. Aiya dagegen zeigte sich sehr gesprächig.

»Mit Atlas am Ruder ist bestimmt alles anders«, sagte sie.

An der Stelle hakte Reina ein. »Liegt Ihre Initiation schon lange zurück?« Das schien unmöglich. Aiya sah sehr jung aus, kaum älter als dreißig.

»Nein, nicht sehr lange. Tatsächlich war mein Jahrgang der letzte.«

»Sie waren in Dalton Ellerys Kandidatenklasse?«

Aiya blinzelte überrascht. »Sie kennen Dalton?«

»Er arbeitet als Forscher hier im Haus.«

»Ich hätte gedacht, dass Dalton als Allererstes weiterzieht.« Aiya runzelte die Stirn. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, was er hier noch treibt.«

»Ist es nicht üblich, dass einige Mitglieder hierbleiben?« Auf so eine Position hatte Reina es nämlich abgesehen: die privilegierte Auserwählte, die bleiben und ihrer eigenen Recherche nachgehen durfte. Der sogenannte Lehrplan für das erste Jahr ihrer Kandidatur war angenehm großzügig angelegt (die breiten Kategorien von Raum, Zeit, Denken und so weiter), so dass ihnen der Großteil der Zeit zur freien Verfügung stand und ihre privaten Studien nicht behinderte. Und anscheinend wurden sie im zweiten Jahr – sofern sie initiiert wurden – noch weniger angeleitet. Die Kostprobe ihrer akademischen Freiheiten war jetzt schon erlesen. Noch einmal neun Jahre ungestört studieren, bis die nächste Kandidatenklasse kam? Pure Glückseligkeit.

»Oh, manche entscheiden sich dafür, ihre Recherchen nach den zwei Stipendienjahren fortzusetzen, ja, aber bei Dalton hätte ich damit nicht gerechnet«, sagte Aiya erstaunt. »Sie kennen sein Fachgebiet, oder?«

Woran genau Dalton forschte, lag für Reina ebenso im Dunklen wie seine Beweggründe dafür, hierzubleiben, statt sich in die Welt hinauszuwagen und das alexandrinische Versprechen von Ruhm und Ehre einzulösen. Reina konnte sich an keinerlei aufschlussreiche Bemerkungen oder Hinweise erinnern. »Nein, ich glaube nicht.«

»Dalton ist ein Animatist«, sagte Aiya nachdrücklich, als würde das schon irgendetwas erklären.

»Er kann Dinge zum Leben erwecken?«

»Dinge?« Aiya lachte leise. »Ja.«

Reina runzelte die Stirn. »Ist er …?«

»O nein, kein Totenbeschwörer«, versicherte Aiya rasch. »Das heißt, das kann er zwar, aber er arbeitet lieber mit unbeseelten und metaphysischen Objekten. Zumindest war es früher so. Wussten Sie, dass er aus irgendeinem Wald in Dänemark stammt? Vielleicht waren es auch die Niederlande. Da komme ich immer durcheinander. Und ich glaube, er hat das ›von‹ in seinem Nachnamen irgendwann unter den Tisch fallen lassen – jedenfalls existieren in seinem Dorf Legenden von einem Jungen, der ganzen Wäldern Leben einhauchen kann, sogar dem Wind selbst. Er ist ein moderner Mythos.« Sie deutete ein Lächeln an. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum er hierbleiben wollte, auch wenn er natürlich noch ziemlich jung ist. Und er war immer Atlas’ Liebling.«

»Ich dachte, Atlas wäre schon länger Kurator«, sagte Reina. Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, wirkte Atlas ebenfalls nicht besonders alt. Mächtig, das schon. Er schien sich in seiner Position als Autoritätsperson sehr wohlzufühlen. Aber wenn es nur alle zehn Jahre eine neue Kandidatenklasse gab, konnte er selbst nicht lange vor Dalton und Aiya initiiert worden sein.

Aiya schüttelte den Kopf. »Nein, das war ziemlich lange jemand anders. Ein Amerikaner, fast ein halbes Jahrhundert lang. Sein Porträt hängt hier«, sie machte eine vage Handbewegung, »irgendwo.«

»Aber Sie kennen Atlas?«

»Im Prinzip hatte er den Posten inne, den Dalton jetzt besetzt, vermute ich. Um die Wahrheit zu sagen, haben wir von unserem Kurator nicht viel mitbekommen; Atlas hat den Großteil der Arbeit übernommen.« Auch heute noch ließ Atlas sich kaum eine Vorlesung entgehen, selbst wenn die Aufgabe, das jeweils neue Thema einzuführen, Dalton zukam. Macht der Gewohnheit, vermutete Reina. »Begegnen Sie ihm denn oft?«

»Ja, fast jeden Tag.«

»Hm. Seltsam.«

»So?«

»Nun, sein Posten verpflichtet ihn eigentlich zu anderen Dingen.« Aiya lächelte. »Wobei er schon immer viel Enthusiasmus an den Tag gelegt hat. Und wie ich höre, ist er geradezu ein Genie als Kurator.«

»Werden alle Forscher später zu Kuratoren?«, fragte Reina. Forschung fand sie reizvoll; Kuration, mit all den Fragen der Logistik und Politik und Nachwuchssorgen, die daran hingen, eher weniger. »Ist Dalton der Nächste?«

»Tja, ehrlich gesagt, wäre Dalton die Rolle des Kurators viel eher auf den Leib geschnitten als die des Forschers, aber er wird nicht der Nächste, nein«, sagte Aiya. »Atlas war ein Sonderfall. Normalerweise werden Kuratoren von den Treuhändern der Gesellschaft ausgewählt, und zwar von außerhalb der eigenen Strukturen.«

»Gibt es dafür einen besonderen Grund?«

»Wahrscheinlich um geistigen Inzest zu verhindern oder so. Natürlich nicht in Atlas’ Fall«, fügte sie hinzu. »Er war wohl die nächstliegende Wahl; ihn mögen einfach alle. Dalton dagegen … ein Rätsel.« Stirnrunzeln. »Ich hätte gedacht, dass er einen anderen Weg einschlägt.«

In dem Moment kamen ihre Bücher nebeneinander aus der bewusstseinsfähigen Röhre geschossen, die vom Archiv hierherführte. Reina erhielt eine Abschrift von Leukipps Das große Weltsystem . Aiyas Buch war unbeschriftet.

»Benutzen Sie das Archiv noch oft?«, fragte Reina.

»Nein, so oft nicht«, antwortete Aiya. »Trotzdem ist es eine wertvolle Ressource. In diesen Räumen schlummert weit mehr, als Sie sich vorstellen können.«

Sie steckte das Buch in ihre Tasche und lächelte Reina zu.

»Bitte genießen Sie Ihre Zeit hier«, sagte sie. »Es lohnt sich, wirklich. Ich hatte auch zuerst meine Zweifel, aber glauben Sie mir, am Ende lohnt es sich. Ich würde es jederzeit wieder tun.«

»War es schwer?«, fragte Reina. »Das Aussortieren?«

Aiyas Lächeln erstarb. »Sie meinen, die Initiation?«

»Nein, ich meine … Ist es schwer«, Reina suchte nach Worten, »zu entscheiden, welcher der anderen Kandidaten ausscheiden soll?«

»O ja. Unfassbar schwer.« Das Lächeln kehrte zurück. »Aber wie gesagt, es lohnt sich. Einen wunderschönen Tag noch.«

Sie verbeugte sich respektvoll und wandte sich schnell ab. Das Klackern ihrer Pfennigabsätze hallte durch den Lesesaal, als sie den engen Gang zwischen den Tischen hindurch zu der schweren Doppeltür und hinaus ging.

Reina blieb mit dem Gefühl zurück, gerade etwas sehr Seltsames erlebt zu haben, auch wenn sie nicht genau erklären konnte, warum.

 

Dieses Gefühl blieb einige Tage, und die Erinnerung an das Treffen huschte ihr immer wieder durch den Kopf, ohne jedoch zu irgendeiner Erkenntnis zu führen.

Irgendwann vergaß sie es. Zwischen der Arbeit, dem Training mit Nico (er war tatsächlich besser als Reina, und außerdem brauchte sie die Bewegung) und ihrer Freizeitlektüre blieb nicht viel Zeit, um über Nebensächlichkeiten nachzugrübeln. Insgesamt war sie zufrieden, auch wenn sie den vagen Eindruck hatte, dass es nicht allen in ihrer Umgebung so ging.

MutterMutterMutter, jammerte ein Zierfarn eines Tages und wedelte schwermütig von einem Regal im Freskensaal, während die sechs Kandidaten in ihrem gewohnten Stuhlkreis saßen. Mutter es liegt ÄrgerÄrgerÄrger in der Luft, Mutter, bittebitte spürst du das?

Zuerst dachte Reina, die unheilige Allianz zwischen Callum und Tristan, die direkt unter dem Farn saßen, wäre der Auslöser für die Warnung. Wo der eine war, war der andere meist nicht weit weg, denn zwischen den physiomagischen Fachgebieten und den anderen war (absichtlich oder nicht) eine Grenze gezogen worden. In letzter Zeit traten sie nur noch im Doppelpack auf, und ständig führten sie heimliche Gespräche; meistens beugte Callum sich vor, während Tristan redete. Zunächst hatte Reina das gut gefunden, oder zumindest akzeptabel, schließlich klebte Tristan dadurch nicht mehr an Parisas Seite. Allmählich wurde jedoch deutlich, dass Parisa für irgendetwas bestraft wurde. Ob diese Strafe von Tristan oder von Callum ausging, war für Reina nicht ersichtlich.

Dabei war Callum ihr bisweilen sogar angenehmer, denn etwas ärgerte Reina an Tristan besonders: seine Gemeinheiten, sein Sarkasmus. Er war bissig, kühl, und wurde noch viel bösartiger durch seine … ja, seine was?

Intelligenz war die reinste Untertreibung. Tristan war mehr als nur schlau oder clever oder gebildet; er war hellwach, und wenn irgendetwas nicht stimmte, fiel es ihm zuerst auf. Zunächst hatte Reina ihn für einen Korinthenkacker gehalten, der nur aus Prinzip widersprach. Doch irgendwann begriff sie, dass Tristan erst den Mund aufmachte, wenn er präzise wusste, wem oder was die Kritik zu gelten hatte. Er brachte, auf Gedeih und Verderb, nahezu allem eine atemberaubende Gleichgültigkeit entgegen, die nur dann mit seinem Hohn kollidierte, wenn irgendetwas so eklatante Fehler aufwies, dass es zu Reibungsverlusten kam. Reina konnte sich nicht entscheiden, ob seine Grausamkeit schlimmer war als Callums, den ihre gesamte Arbeit völlig kaltließ, oder Parisas, die sich anscheinend zu gut für alles war.

Parisas Verhalten änderte sich kaum – nicht weil sie litt und das zu verbergen versuchte, sehr zu Reinas Enttäuschung, sondern weil sie abgelenkt war. Sie schien den Verlust von Tristan als Bündnispartner überhaupt nicht wahrzunehmen, während sie wie immer zu seiner Linken, aber nicht in seinem direkten Blickfeld saß. Irgendetwas war merkwürdig an Parisas plötzlichem Desinteresse, doch erst als der traurige Farn den Sauerstoffgehalt im Raum beklagte, fand Reina die Ursache.

»Zwischen Raum und Zeit besteht eine natürliche Verbindung«, sagte Dalton gerade, der wie so oft neben Atlas stand. »Tatsächlich sind die meisten modernen Physiker der Ansicht, dass es zwischen den beiden im Grunde gar keinen Unterschied gibt. Manche glauben nicht einmal, dass Zeit als Kategorie existiert; jedenfalls nicht in Form unseres fiktionalisierten Konzepts, das die Zeit als eine Art lineare Straße beschreibt.«

Dalton Ellerys Anblick brachte Reina ihr Gespräch mit Aiya ins Gedächtnis und deren erstauntes Gesicht, als sie von Daltons Entscheidung gehört hatte, als Forscher im Haus zu bleiben. Reinas Meinung nach war Dalton der geborene Akademiker – der Inbegriff von Wer-nichts-kann-der-lehrt-Es –, und dennoch schien Aiya dieser Gedanke völlig zu verblüffen. Dass Dalton ihnen womöglich eine mächtige magische Fähigkeit verschwieg, die er in den letzten zehn Jahren zur Meisterschaft gebracht hatte, war eine faszinierende, ja geradezu aufregende Vorstellung.

Und den Blicken nach zu urteilen, die Parisa Dalton zuwarf, fand offenbar nicht nur Reina ihn aufregend.

Das erklärte wohl eine ganze Menge; zum Beispiel, warum oft niemand wusste, wo Parisa gerade steckte, oder warum der Bruch mit Tristan, der ja (allem Anschein nach) Parisas erste Wahl als Liebhaber gewesen war, sie nicht sonderlich störte. Sofort verflüchtigte sich Reinas Verdacht, ob Callum und Tristan sich gegen Parisa verschworen hatten, und hinterließ ein leises Gefühl der Enttäuschung.

Also hatte der Farn recht. Es lag Ärger in der Luft, allerdings ging er von Parisa aus.

Natürlich verfolgte die Frau irgendeinen geheimen Plan. Selbst Reina merkte, dass die Blicke zwischen Dalton und Parisa aufgeladen waren. Schwer zu sagen, ob zwischen den beiden bereits etwas gelaufen war, aber zweifelsohne fand sehr bald irgendeine Version von engerem Kontakt statt.

Nach Daltons Vortrag fing Reina Parisa auf dem Weg zum Speisesaal ab. »Was machst du?«, fragte sie unverblümt. »Was genau hast du vor?«

Parisa drehte sich verärgert zu ihr. »Wie bitte?«

»Lies doch meine Gedanken«, schlug Reina spöttisch vor und erntete einen ätzenden Blick.

»Warum sollte ich irgendwas vorhaben? Er ist attraktiv, und ich habe Langeweile.« Wie vermutet kannte Parisa ihre Gedanken also bereits. Und es war Reina immer noch ziemlich egal, wie Parisa sie beurteilte.

»Für so dumm hältst du mich doch wohl nicht ernsthaft«, entgegnete Reina. »Genauso wenig wie ich dich.«

»Danke, sehr reizend«, gab Parisa mit ihrer üblichen Arroganz zurück. »Aber hast du irgendeinen berechtigten Grund für deine Einwände, oder stellst du dich nur spaßeshalber blöd?«

»Mir ist scheißegal, womit du dir die Zeit vertreibst«, sagte Reina. »Allerdings mag ich es nicht, wenn Dinge keinen Sinn ergeben. Das macht mich misstrauisch, und du machst mich auch misstrauisch.«

Parisa seufzte laut. »Solltest du nicht mit den anderen Kindern in irgendeiner Ecke spielen?«

Es ärgerte Reina, wie die älteren drei Kandidaten auf Libby und Nico herabsahen. Noch lächerlicher wurde es, wenn sie sie voneinander getrennt betrachteten und – wie Callum – behaupteten, dass der eine ja so viel erträglicher wäre als die andere. Reina sah in den beiden einen Doppelstern, jeweils gefangen im Orbit des anderen und nahezu ohnmächtig ohne dessen komplementäre Kraft. Reina überraschte es nicht im Geringsten, dass der eine Linkshänder und die andere Rechtshänderin war.

»Du kannst das ja gern weiterhin leugnen, aber die beiden haben bereits gezeigt, was sie draufhaben«, sagte Reina. »Was hast du bisher beigetragen?«

»Was hast du denn beigetragen?«, fauchte Parisa. »Du bist reine Wissenschaftlerin. Deine historischen Forschungen kannst du auch ohne Geheimgesellschaft betreiben.«

Und Parisa betrieb das älteste Gewerbe der Welt.

»Oh, wie nett«, erwiderte Parisa. »So siehst du mich also, als eine Art geldgeilen Sukkubus? Und jetzt willst du mich vors hohe Gericht schleifen?«

»Sukkubus klingt netter als das, was mir durch den Kopf ging«, sagte Reina.

Parisa verdrehte die Augen. »Auch wenn es dir selbst nicht klar ist: Ich sehe, dass du mich für bemitleidenswert hältst. Das ist nett von dir. Und total überflüssig.« Parisa presste die Lippen zusammen. »Callum bestraft mich nicht. Er versucht mich zu besiegen, aber das schafft er nicht. Und falls du dich fragst, für wen von uns beiden du dich entscheiden solltest, kann ich dir jetzt schon sagen: Wenn du wüsstest, was ich weiß, würdest du definitiv mich wählen statt ihn.«

»Warum erzählst du uns dann nicht, was du weißt?«, forderte Reina, nur halb überzeugt. »Wenn du ihn doch so sehr hasst?«

»Ich hasse ihn nicht. Ich empfinde nichts für ihn. Und wenn du schlau wärst, würdest du es ebenso halten«, sagte Parisa warnend, woraufhin die Calathea in dem Topf in der Ecke unheilverkündend erzitterte. »Sind wir jetzt fertig hier?«

Ja. Nein. Eigentlich hatte Reina bekommen, worauf sie es abgesehen hatte. Ja, Parisa machte Jagd auf Dalton. Ja, Parisa hegte irgendeine Abneigung gegen Callum. Das Warum dahinter bereitete ihr noch Kopfzerbrechen.

Blöderweise erkannte Parisa auch das.

»Weißt du, warum du mich nicht verstehst?«, sagte Parisa leise und trat einen Schritt näher. »Weil du glaubst, du hättest mich durchschaut. Du glaubst, du wärst mir schon mal begegnet, Frauen wie mir in anderen Versionen. Dabei hast du nicht die leiseste Ahnung, was ich bin. Du glaubst, mein Aussehen definiert mich? Mein Ehrgeiz? Du hast nicht den Hauch einer Vorstellung, wie viele einzelne Aspekte mich ausmachen, und du kannst mich anstarren, so lange du willst, aber du kriegst nicht einen Schnipsel von mir zu sehen, wenn ich ihn dir nicht zeigen will.«

Reina könnte widersprechen, doch genau das wollte Parisa ja. Und ärgerlicherweise war Reina tatsächlich noch nie einer Telepathin von Parisas Format begegnet. Soweit Reina es begriff, waren Gedanken oft abstrakte ungestaltete Formen, die die meisten Telepathen zwar sehen, aber nicht deuten konnten; und selbst die, die das konnten, ließen sich wesentlich leichter aussperren als Parisa.

Ihre Magie stocherte nicht grob und ungestüm in ihrem Hirn herum, sie zerfaserte ihre Gedanken unmerklich und schwerelos. Parisa hatte recht. Reina sah überhaupt nichts.

»Beneide mich nicht, Reina«, flüsterte Parisa ihr ins Ohr. »Fürchte mich.«

Dann trat sie in den Flur und verschwand.