V Zeit

Tristan

M anchmal diente Tristans angeborener Zynismus einer größeren, nachhaltigeren Persönlichkeitsstörung; einer umfassenden, chronischen Paranoia. Jedes noch so seltene Aufblitzen von Optimismus wurde rasch beseitigt, wie ein Virus, den Kopf und Körper umgehend mit aller Macht bekämpften. Hoffnungsfunken? Krebsgeschwüre. Vielleicht war es ein Fehler im System, eine Folge von lebenslangem und sehr grundsätzlichem Misstrauen. Immer wenn die Dinge gut zu laufen schienen, beschlich Tristan der Verdacht, dass er gerade meisterlich aufs Kreuz gelegt wurde.

Deswegen wühlte ihn der Gedanke, dass erst dieses Stipendium bei der Alexandrinischen Gesellschaft ihm das Ausmaß seiner magischen Fähigkeiten aufzeigte, so schrecklich auf. Gab es eine logische Erklärung dafür? Selbstverständlich. Jede Fähigkeit entwickelte sich weiter, wenn man sie systematisch trainierte, und das galt besonders für magische Fähigkeiten. Und da Tristans medäische Begabung immer und immer wieder in Frage gestellt worden war (in Adrian Caines unvergessenen Worten: »Diese feinen Pinkel machen wohl Witze, hör auf, mich zu verarschen, Sohnemann«), hatte er womöglich einfach noch nicht das ganze Spektrum seines Könnens ausgelotet.

Hielt diese Erkenntnis ihn davon ab, allmählich an seinem Verstand zu zweifeln? Nicht im Geringsten. Denn es blieb immer noch die Möglichkeit, dass er und die anderen heimlich, aber effektiv vergiftet wurden. (Ein ziemlich aufwendiges Komplott, aber ein gutes. Sollte Tristan dadurch sterben, dann war es eben so. Wer auch immer dahintersteckte, hätte diesen Erfolg verdient.)

Die ganze Sache war schwer zu erklären, und darum versuchte er es erst gar nicht. Niemandem gegenüber. Allerdings merkte er, wie sich seine Verstörung hier und da unterschwellig bemerkbar machte. Callum bestätigte diesen Verdacht, indem er Tristan immer dann beruhigende Blicke zuwarf, wenn er sich innerlich in hellstem Aufruhr befand. Es war der innere Konflikt, dass Wahrnehmung und Wissen einander widersprachen. Auf diesen Zwiespalt hatte ausgerechnet Libby ihn aufmerksam gemacht. Sie hatte sich darüber gewundert, dass er nicht ihre Version der Realität sah, und von diesem Moment an war er in einen Abwärtsstrudel der Erkenntnisse gerauscht.

Alles hing an einer grundlegenden, unbestreitbaren Tatsache: Was Tristan sah und was andere sahen, waren zwei völlig verschiedene Dinge. Andere Menschen, das sagten sowohl Callum als auch Parisa, nahmen die Welt anhand ihrer Erfahrungen wahr, anhand dessen, was ihnen beigebracht, ihnen als richtig oder falsch vermittelt worden war. Einstein selbst (überraschenderweise kein Medäer; allerdings mit großer Wahrscheinlichkeit ein Hexer) hatte sinngemäß gesagt, Realität entstünde lediglich aus der Beziehung zwischen Systemen. Was alle anderen sahen – Illusionen, Wahrnehmungen, Interpretationen –, war keine objektive Form der Realität, was im Umkehrschluss hieß, dass Tristan … exakt diese sah.

Im Prinzip sah er die Wirklichkeit selbst: in ihrem wahren, unverfälschten Zustand.

Aber je genauer er hinschaute, desto verschwommener wurde sie.

Eines späten Abends, als er nicht einschlafen konnte, saß er im Schneidersitz auf dem Bett, um sein Sehvermögen noch einmal zu testen. Natürlich nicht mit den Augen; es handelte sich um eine andere Art des Sehens, vermutlich mit Hilfe seiner Magie, auch wenn er das Ganze nicht recht benennen konnte. Wenn er sich konzentrierte, sah er hauptsächlich kleinste Partikel. Nahm er einen dieser Partikel in den Fokus, konnte er, so ähnlich wie bei Staubteilchen, dessen Flugbahn sehen, seinen Weg nachverfolgen. Manchmal erkannte er einzelne Details – eine Stimmung, die sich als Farbe äußerte, wie Polarlicht, doch Tristans Sinne waren noch nicht geschärft genug, um die richtige Bezeichnung dafür zu finden. Es war kein Hören oder Riechen, und ganz bestimmt kein Schmecken. Vielmehr nahm Tristan die Realität Schicht für Schicht auseinander und betrachtete sie dann wie ein vergrößertes Modell.

Die meisten Erkenntnisse folgten einem logischen Prozess. Zum Beispiel beim Feuer im Kamin. Das Wetter wurde allmählich kühler, der Herbst näherte sich rasch, und Tristan war zum Tanz von Licht und Schatten eingeschlafen, rauchiger, warmer Geruch erfüllte die Luft, während Ascheflöckchen herabsegelten. Er wusste, dass es sich um Feuer handelte, weil es wie Feuer aussah, wie Feuer roch. Seine Erfahrung, seine Lebensgeschichte verriet ihm, dass er sich verbrannte, wenn er ihm zu nahe kam. Er wusste, dass es ein Feuer war, weil ihm genau das gesagt worden war; unzählige Male hatte es sich als wahr erwiesen.

Aber was, wenn es gar nicht stimmte?

Das war die Frage, mit der Tristan sich abmühte. Nicht ausschließlich in Bezug auf Feuer, sondern in Bezug auf alles. Eine umfassend existenzielle Unsicherheit, ob er den Unterschied zwischen objektiver Wahrheit und dem, was ihm als objektive Wahrheit präsentiert worden war, nicht mehr erkannte. Ging das allen so? Früher war die Erde einmal eine Scheibe gewesen; alle hielten sie für flach, also war sie das im kollektiven Bewusstsein, auch wenn die Wirklichkeit anders aussah.

Oder vielleicht doch nicht?

Das bereitete Tristan so heftige Kopfschmerzen, dass er nicht einmal hinterfragte, warum jemand um diese Uhrzeit an seine Tür klopfte. Er ließ sie einfach mit einem Wink seiner Hand aufschwingen.

»Was ist?«, fragte er im Tristan-Tonfall.

»Kannst du vielleicht den Katastrophenalarm etwas runterschrauben? Es ist mitten in der Nacht«, sagte Parisa im Parisa-Tonfall. Ihm fiel auf, dass sie vollständig bekleidet war, wenn auch etwas … zerknittert. Er runzelte die Stirn. Sie kam herein, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen.

»Aus dem Schlaf gerissen habe ich dich ja anscheinend nicht«, kommentierte Tristan.

Darauf sprang sie natürlich nicht an. »Nein, geweckt hast du mich nicht. Aber so ganz generell könntest du dich mal etwas entspannen«, sagte sie und trat weiter in den Raum hinein.

Ein Streifen Mondlicht fiel durchs Fenster; gerade breit genug, dass Tristan die kleine Sorgenfurche auf ihrer Stirn sah. Parisas Gesichtsausdrücke waren so kunstvoll, dass jeder einzelne davon als Großformat im Louvre hängen könnte, und nicht zum ersten Mal fragte Tristan sich, wie um alles in der Welt wohl ihre Eltern aussahen, um ein Wesen von solcher Symmetrie hervorzubringen.

»Ehrlich gesagt, sind meine Eltern nicht sonderlich attraktiv«, sagte Parisa. »Und genau genommen sind meine Gesichtszüge auch nicht symmetrisch.« Sie hielt kurz inne, dann fügte sie hinzu: »Meine Brüste sind es jedenfalls definitiv nicht.«

»Ich weiß.« Darauf hatte er zwar nicht konkret geachtet, aber er wollte sie daran erinnern, dass dieses Wissen zumindest theoretisch für ihn in greifbarer Nähe gelegen hatte. Genau wie ihre Brüste. »Und spricht da jetzt deine Eitelkeit? Oder deine Bescheidenheit?«

»Weder noch. Schönheit ist Fiktion.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, kam langsam auf ihn zu und setzte sich auf seine Bettkante. »Jeder Mensch hat eine fehlerhafte Wahrnehmung. Unsere soziokulturelle Propaganda bläut allen ihre Standardvorstellungen ein. Nichts von dem, was die Leute wahrnehmen, ist real – lediglich, wie sie es wahrnehmen.«

Na, passend zum Thema, dachte Tristan grimmig. Was natürlich Absicht sein mochte. Jetzt gerade wollte er allerdings nicht darüber nachgrübeln, ob Parisa sich seine Gedanken so genau besah oder nicht.

»Was ist los?«, fragte er. »Anscheinend beschäftigt dich irgendwas.«

»Ich habe gerade etwas herausgefunden. Glaube ich.« Sie fingerte an ihren Händen herum, trommelte sich nachdenklich auf den Oberschenkel. »Ich weiß noch nicht genau, ob es in deinem Interesse wäre, es dir zu erzählen.«

»In meinem Interesse?«

»Ja, du hast recht, wäre es nicht. Du würdest das gar nicht gut verkraften.« Sie betrachtete ihn aus schmalen Augen. »Nein, ich kann es dir nicht erzählen«, beschloss sie nach einem kurzen Moment. »Aber leider will ich trotzdem, dass du mir vertraust.«

»Vielleicht ist das mit dem Vertrauen ein ungewohntes Konzept für dich«, gab Tristan zu bedenken, »aber es kommt sehr selten aus dem Nichts. Korrigier mich gern, aber ich soll blind auf dein Urteil vertrauen, während du mir gleich mehrere Dinge keinesfalls anvertrauen willst?«

»Ich kenne deinen Kopf von innen, Tristan«, rief Parisa ihm in Erinnerung, genau wie er sie an ihre körperliche Vertrautheit erinnert hatte, wenn auch mit deutlich mehr Zuversicht in der Stimme. Sie hatte tatsächlich eine Bestandsaufnahme von seinem Hirn gemacht, während er vollauf mit ihr beschäftigt gewesen war. »Du kämst einfach nicht gut mit dieser Info klar.«

»Wunderbar«, brummte Tristan. »Du bist sogar schön, wenn du herablassend bist.«

Als sie sich auf dem Bett zu ihm herüberbeugte, stieg ihm ihr Parfüm in die Nase, doch es war nicht ausschließlich ihres. Parisa hatte einen ganz eigenen Duft, eine florale Note. Diese war jetzt von einem weiteren Aroma durchzogen, rauchig und maskulin. So etwas hatte Tristans Ex-Verlobte immerhin sorgfältig vermieden. Eden Wessex mochte zwar nicht gewusst haben, dass Tristan ihre Illusionen durchschaute, aber für eine untreue Verlobte war sie sehr aufmerksam gewesen. Das hatte er stets für ihre größte Tugend gehalten – und tat es eigentlich immer noch.

»Diese Geheimgesellschaft«, sagte Parisa. »Die ist nicht das, wofür ich sie gehalten habe. Sie tischen uns mindestens eine Lüge auf.«

Wieder regte sich die Anspannung in ihm, der Widerstand. Tristan wollte glauben, dass die Alexandrinische Gesellschaft ihm eine Macht verlieh, die ihm selbst im vertrauten Kreis von James Wessex verwehrt bliebe. Und jetzt brachte Parisa schon wieder alles durcheinander und fütterte Tristans bodenloses Misstrauen.

»Ich glaube auch nicht, dass wir irgendetwas dagegen unternehmen können«, bemerkte sie lapidar. »Noch nicht. Aber ich finde, wir sollten wissen, für wen wir hier arbeiten.«

Tristan runzelte die Stirn. »Meinst du Atlas?«

»Arbeiten wir tatsächlich für ihn?«, hielt sie dagegen und spitzte die Lippen. »Ich will erst mal ein paar Antworten zutage fördern, aber in der Zwischenzeit musst du vorsichtig sein.«

Tristan offenbarte nur ungern seine erschreckende Ahnungslosigkeit, doch etwas anderes blieb ihm nicht übrig. »Ich?«

»Callum beeinflusst dich«, sagte Parisa. »Ich weiß nicht, ob er dafür seine Magie verwendet oder nicht, aber irgendetwas will er von dir. Und um das zu bekommen, streut er dir gern Sand in die Augen.«

»Ich bin kein Fräulein in Nöten, Parisa. Ich muss nicht gerettet werden.«

Zu seiner Bestürzung amüsierte sie das. »Doch, genau das bist du, ein armes, wehrloses Fräulein in höchster Not, Tristan.« Sie strich ihm über die Wange. »Ich weiß, dass du Callum nicht vertraust. Und ich glaube, dass er genau das gegen dich verwendet. Er zeigt dir seine Realität und glaubt, dass seine Aufrichtigkeit dir gefällt, aber du hörst ihm gar nicht richtig zu, kann das sein? Du hörst nicht, wozu er wirklich fähig ist, obwohl er es dir direkt ins Gesicht sagt.«

Tristan erstarrte. »Wenn ich ihm ohnehin nicht vertraue, was spielt das dann überhaupt für eine Rolle?«

»Weil du ihm zwar kein Vertrauen, aber doch Glauben schenkst. Er beeinflusst deine Wahrnehmung, indem er all das bestätigt, was du ohnehin schon für wahr hältst. Er pflanzt dir irgendwelche Ideen ein, und ich mache mir Sorgen.« Ihr Daumen wanderte über sein Kinn, schwebte über seinen Lippen. »Ich mache mir Sorgen«, wiederholte sie leise.

Tristans erster Impuls war, Parisas Sanftheit zu misstrauen.

»Was hat er getan?«, fragte er. »Womit hat er es geschafft, dich so wütend zu machen?«

»Ich bin nicht wütend. Ich bin beunruhigt.« Sie zog die Hand weg. »Und wenn du es unbedingt wissen musst, er hat die Agentin dazu gebracht, sich selbst zu töten.«

Tristan runzelte die Stirn. »Und?«

»Und, begreifst du das nicht? Seine Waffe sind wir selbst. Unsere Glaubenssätze, unsere Schwächen, die kann er einfach gegen uns verwenden.« Im schwachen Lichtschein sah Tristan, wie sie die Lippen zusammenpresste. »Er findet die Dämonen, die wir tief in uns einsperren, und lässt sie frei. Warum sollte ich ihn meine also je sehen lassen?«

»Na gut«, erwiderte Tristan ausweichend, »aber kannst du das nicht auch? Du kannst Gedanken lesen. Sollten wir dir dasselbe Misstrauen entgegenbringen?«

Ungehalten stand Parisa auf. »Es ist eine Sache, wozu wir fähig sind, und eine andere, was wir damit anstellen.«

»Mag sein. Allerdings musst du mir einen Grund geben, dir zu vertrauen«, sagte Tristan. »Was unterscheidet dich denn sonst von Callum?«

Sie warf ihm einen so scharfen Blick zu, dass es ihn fast schmerzte. »Callum braucht dich nicht, Tristan. Er will dich. Du solltest dich fragen, warum.«

Dann schlüpfte sie hinaus und sprach vier Tage lang kein Wort mit ihm.

Was ihm nicht sonderlich viel ausmachte. Das Schweigen temperamentvoller Frauen war ein wiederkehrendes Motiv in seinem Leben, und außerdem wusste er ohnehin nicht, was er mit ihrer … Warnung? Drohung? … anfangen sollte. Ihm war nicht klar, was sie eigentlich von ihm wollte, auch wenn er sich insgeheim darüber freute, dass sie es nicht bekommen hatte. Er hasste es, Leuten zu Willen zu sein, vor allem wenn er es unabsichtlich tat.

Außerdem nahmen ihn andere Themen völlig in Anspruch. Sie behandelten gerade die vielen Theorien von Zeit, angefangen mit den Zeitreiseversuchen mittelalterlicher Hexen – und aus irgendeinem Grund beinhaltete dieses Seminar auch die berühmten europäischen Bestrebungen, die eigene Lebenszeit zu verlängern. Für Tristan gehörte das Thema Zeit zur Physiomagie, nicht zu einer Abhandlung über historische oder alchemistische Fehlschläge. Vielleicht war die Thematik nur ein Vorwand, um ihnen Zugang zu einer weiteren magischen Zeitspanne der Geschichte zu gewähren.

Immer öfter stahl Tristan sich davon und ging seinen eigenen Nachforschungen in den antiken Texten nach, die sie über den Aufbau des Universums gelesen hatten, bevor er sich wieder seinen ungelösten Mysterien zuwandte. Warum war ihr Wurmloch nicht erfolgreich durch die Zeit gereist? Brauchte man wirklich mehr Magie, um die Zeit zu manipulieren, oder waren ihnen Fehler unterlaufen? Einmal versuchte er, es zu zeichnen, und kritzelte auf seinem Notizblock herum, während Dalton von Magellan und dem Jungbrunnen schwafelte, aber das führte auch zu nichts.

Bis Libby ihn im Freskensaal ansprach.

Am Anfang war ihm nicht ganz klar, ob sie gezielt nach ihm gesucht hatte oder nicht. Zunächst war er davon ausgegangen, dass sie nach dem Abendessen eher zufällig in ihn hineingestolpert war und schnell wieder gehen würde. Dann allerdings merkte er, dass das Stolpern zu ihrem ganz normalen Verhalten gehörte, und hob erwartungsvoll den Blick.

»Ich hatte eine Idee«, sagte sie.

Er wartete.

»Also, Varona und ich haben zusammen eine Idee. Ich meine, mir ist sie eingefallen«, erklärte Libby hastig, »aber ich musste es erst an ihm testen, und, na ja, ich weiß nicht, ob du das hören willst, aber ich habe letztens zufällig deine Zeichnung gesehen, und – ich hab jetzt nicht herumspioniert oder so, ich hab nur … o Gott, tut mir leid«, sagte sie und zerstörte damit endgültig ein potenziell gelungenes Satzende. »Ich wollte nicht – also, die Sache ist die …«

»Spuck’s aus, Rhodes«, sagte Tristan ungeduldig, weil er eben beinahe eine Erkenntnis gehabt hätte. (Vermutlich nicht, korrigierte ihn sein Gehirn. Wunschdenken.) »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Klar, ja, also.« Ihre Wangen brannten feuerrot, doch sie trat einen Schritt näher. »Kannst du … was mit mir ausprobieren?«

Mit Blicken teilte er ihr mit, dass er es in Erwägung zog, wenn – und nur wenn – sie sich beeilte und ihn anschließend in Ruhe ließ.

»Also gut«, sagte sie und räusperte sich. »Schau mal her.«

Sie zog einen kleinen Gummiball aus der Tasche und warf ihn zu Boden, so dass er dreimal aufsprang, bevor sie ihn in der Luft erstarren ließ.

»Und jetzt lasse ich alles wieder rückwärts laufen«, sagte sie.

Der Ball prallte dreimal auf und landete wieder genau in ihrer Hand.

»Okay«, sagte Tristan. »Und?«

»Ich habe eine Theorie«, sagte Libby, »nämlich dass das Ganze für dich anders aussah als für mich. In meinen Augen hat der Ball zweimal genau das Gleiche gemacht, vorwärts wie rückwärts. Ich hätte zehn Sekunden zurückwandern können und nichts anderes bemerkt als vorher. Aber du …« Sie verstummte und wartete ab.

Tristan dachte darüber nach.

»Mach’s noch mal«, sagte er, und sofort entspannte sich ihr Gesichtsausdruck. Vermutlich war sie erleichtert darüber, dass ihm wirklich irgendetwas aufgefallen war, oder dass er ihr zumindest die Chance gab, ihn auf etwas aufmerksam zu machen.

Sie warf den Ball wieder zu Boden, ließ ihn dreimal aufspringen und dann erstarren.

Dann rief sie ihn wieder zurück, genau wie vorhin, und fing ihn auf.

»Hast du was gesehen?«, fragte sie.

Ja. Nichts, was er erklären könnte, aber irgendein Detail passte nicht. Eine rasche Bewegung um den Ball herum, kaum sichtbar.

»Was hast du erwartet, was ich sehe?«, fragte er Libby.

»Wärme«, sagte sie und atmete schneller. Offensichtlich war sie aufgeregt wie ein kleines Kind. »Das Ding ist: Nach allem, was ich gelesen habe, könnte Zeit auf ähnliche Art messbar sein wie Erdanziehung. Dinge bewegen sich hoch und runter? Daran ist die Erdanziehung schuld. Dinge bewegen sich vorwärts und rückwärts? Dahinter steckt natürlich Kraft, je nach Dimension – aber in gewisser Hinsicht auch Zeit. Wenn die Uhren stillgestanden hätten, wenn sich nichts verändert hätte, gäbe es keinen physischen Hinweis darauf, dass ich nicht die Zeit selbst zurückgespult habe, als ich die Bewegung des Balls rückgängig gemacht habe. Das Einzige, woran man feststellt, dass wir nicht durch die Zeit gereist sind – abgesehen von unserem Vertrauen darauf, dass nichts Seltsames passiert ist«, räumte sie ein und deutete auf ihre Umgebung, »ist die Wärme, die der Ball bei seinem Aufprall produziert hat, und Wärme geht nicht verloren. Die thermische Energie, die dabei entsteht, muss irgendwohin, und solange die nicht wieder verschwunden ist, sind wir nicht in der Zeit zurückgereist.«

»Okay«, sagte Tristan langsam, »und?«

»Und …« Sie hielt inne. »Und … nichts«, schloss sie etwas ernüchtert. »Ich dachte nur …« Sie verstummte wieder, zögerte. »Na ja, wenn du Wärme sehen kannst, kannst du auch Zeit sehen, glaubst du nicht?« Sie schob sich den Pony aus der Stirn. »Falls das, was du siehst, noch spezifischer ist – Elektronen oder so etwas, oder sogar Quanten –, dann könnte man sie folglich in einem nächsten Schritt verändern. Darüber denke ich schon seit Ewigkeiten nach.« Allmählich wurde sie zu Libby der Gelehrten, die vorübergehend von allen nervösen Ticks befreit war. »Bei den Illusionen, bei dem Medäer, den ich …«

Sie verschluckte getötet habe und räusperte sich.

»Du hast mir erzählt, was du siehst«, erklärte sie, »und mit der Information konnte ich meine Umgebung beeinflussen. Wenn du mir also erzählen würdest, was du siehst, wenn du die Zeit betrachtest …«

»Dann könntest du dadurch die Zeit selbst beeinflussen.« Tristan dachte einen Augenblick darüber nach. »Sie manipulieren?«

»Das hängt wohl davon ab, was genau du siehst«, sagte Libby vorsichtig, »aber wenn ich recht habe und du wirklich die physische Struktur von Zeit erkennen kannst, dann wahrscheinlich schon. Wir könnten sie irgendwie lenken.« Vor Erregung blieb ihr die Luft weg; der Nervenkitzel des bevorstehenden gedanklichen Durchbruchs.

»Wenn du allerdings gerade beschäftigt bist«, sie blinzelte und geriet ins Wanken, »dann können wir natürlich auch wann anders …«

»Rhodes, halt die Klappe«, sagte Tristan. »Komm her.«

Vor Begeisterung protestierte sie nicht einmal gegen seinen rauen Ton, sondern sprang herbei und wollte sich neben ihn an den Tisch vor dem hohen Regal setzen. Er hielt sie zurück, stand auf und deutete auf seinen eigenen Stuhl.

»Setz dich«, sagte er. »Ich stelle mich hinter dich.«

Sie schlüpfte auf seinen Stuhl und nickte, und er konzentrierte sich wieder.

Was auch immer diese spezielle Magie war, wenn er sie zielgenau ausrichtete, wurde das Bild körnig. Sobald er, im übertragenen Sinne, die Augen zusammenkniff, zoomte er wie mit einem Mikroskop heran. Die Kanten wurden unscharf, doch dafür traten andere Dinge deutlicher hervor, in immer winzigeren Dimensionen. Schicht für Schicht näherte er sich, und die Bewegungen, die er beobachtete, wurden immer hektischer.

»Wenn du die Erdanziehung manipulierst«, sagte er, »wie fühlt sich das für dich an?«

Libby schloss die Augen und streckte eine flache Hand vor sich aus. Dann schob sie die Hand nach unten. Der Druck zwang Tristan beinahe in die Knie.

»Wie eine Welle«, erklärte sie. »Als würde alles auf einem unsichtbaren Strom schwimmen.«

Tristan beschwor sein Verständnis von linearer Zeit herauf und betrachtete es innerlich von allen Seiten. Worin könnten die Missverständnisse liegen? Dass Zeit linear war, vermutlich. Dass sie sich vorwärts und rückwärts bewegte. Dass sie einer Ordnung unterlag. Dass so etwas wie Wärme nicht mit ihr zusammenhängen konnte.

Und da war sie – als er all seine Erwartungen über Bord warf, fand er seine Antwort. Zeit war das Einzige, was sich erkennbar in konstanter Geschwindigkeit bewegte, die allerdings je nach Position im Raum leicht abwich. Weiter oben bewegte sie sich schneller, weiter unten langsamer. Nicht so gleichförmig wie die Zeiger der Uhr, die auf dem Kaminsims stand, aber um Libby herum schlug sie sehr regelmäßig. So stetig wie ein Puls. Das konnte er sehen, oder fühlen (oder wie auch immer wahrnehmen), mit etwa sechzig Schlägen pro Minute, genau da, wo Libbys Haar ihre Schultern streifte und sich an den Spitzen mädchenhaft nach außen drehte. Mittlerweile war es ganz schön lang geworden; bestimmt drei Zentimeter länger als bei ihrer Ankunft hier im Haus.

Tristan legte Libby eine Hand auf den Arm und begann, das Muster der Bewegung mitzuklopfen.

»Gibt es hier im Raum irgendetwas, das sich für dich so anfühlt?«, fragte er sie.

Sie schloss wieder die Augen und runzelte die Stirn. Dann nahm sie seine Hand und schob sie sich genau unters Schlüsselbein, bis auf ihr Sternum. Er kam ein bisschen aus dem Rhythmus, als seine Finger über nackte Haut strichen.

»Sorry«, sagte sie. »Ich muss das richtig spüren.«

Klar. So würde ihr die Schwingung direkt durch die Brust gehen, in den Körper.

Tristan ortete den genauen Schlag, auf den es ihm ankam, klopfte mit und wartete ab. Noch einmal zehn, zwanzig Schläge, wie ein Metronom, und als er bei ungefähr vierzig war, riss Libby die Augen auf.

»Gefunden«, sagte sie. Dann machte sie eine einzelne Handbewegung, und der Impuls, den Tristan beobachtet hatte, verharrte reglos.

Fassungslos stellte er fest, dass alles verharrte.

Die Uhr auf dem Sims war stehengeblieben. Tristan selbst, das Heben und Senken seiner Brust, war erstarrt, und so vermutlich auch das Blut in seinen Adern. Nichts bewegte sich, allerdings konnte er sich noch umsehen, oder umfühlen, eine ganz neue Erfahrung für ihn. Seine Hand ruhte auf Libbys Brust, der Daumen auf dem Saum ihres Ausschnitts. Sie hatte einen ganz eigentümlichen Ausdruck auf dem Gesicht – fast wie ein Lächeln, aber irgendwie lauter. Es strotzte vor Kraft, vor Triumph, und dann begriff er: Sie hatte das hier bewirkt, mit fachmännischer Präzision.

Mit seiner Hilfe hatte Libby Rhodes die Zeit angehalten.

Sie blinzelte, und alles setzte sich schlingernd wieder in Bewegung. Es hatte nicht lange angedauert, nur eine kleine Verzögerung, ein kurzes Hakeln im System, kaum zu bemerken. Dennoch sah Tristan die Schweißperlen auf Libbys Stirn. Das Experiment hatte seinen Preis gekostet.

Sie stand zu schnell auf, fuhr voller Eifer zu ihm herum und brach beinahe zusammen. Er fing sie mit einem Arm um die Taille auf, während sie sich wieder auf die Beine mühte und an seinen Schultern Halt suchte.

»Wenn Nico hier wäre, könnte ich mehr erreichen«, sagte sie und starrte geradeaus, auf seine Brust, ins Nichts; in den Tunnel ihrer Gedanken, versunken in irgendwelche Berechnungen, wie sie das Experiment wiederholen könnte, oder verlängern könnte, oder übertreffen könnte. »Allein ging es nicht länger, aber mit ihm zusammen, oder vielleicht mit Reina … Und wenn du mir zuerst noch zeigst, wie ich es bewegen müsste, dann könnten wir vielleicht – na ja, vielleicht wenn ich einfach … Mist, ich hätte …«

»Rhodes«, unterbrach sie Tristan. »Hör zu …«

»Also, ich hab keinen Schimmer, was wir bewirken könnten, um ehrlich zu sein«, sagte sie gequält. »Wenn sich so die Zeit bewegt, dann verändert das doch alles, oder nicht? Wenn Zeit eine messbare Kraft wie jede andere ist …«

»Rhodes, hör mal …«

»… zumindest könnten wir sie nachbauen, oder? Ich meine, wenn du sie sehen kannst, dann …«

»Rhodes, verdammt noch mal!«

Verblüfft sah sie auf, und Tristan starrte (vermutlich ziemlich verzweifelt) zu ihr hinunter.

»Danke«, sagte er. Dann atmete er entnervt aus. »Großer Gott. Ich wollte einfach nur danke sagen.«

Dieser grauenhafte Pony war inzwischen unerträglich lang; er fiel ihr ständig in die Augen. Sie strich ihn mit einer Hand beiseite und senkte das Kinn.

»Gern geschehen«, sagte sie leise.

Das nachfolgende Schweigen, eine echte Seltenheit, war erfüllt von Dingen, die Tristan überhaupt nicht leiden konnte. Aufgeblasene, schwülstige Dinge wie Dankbarkeit und Zuneigung, weil er jetzt begriff, dass er sich nichts eingebildet hatte; das hatte Libby ihm bewiesen. Sie hatte bewiesen, dass seine Magie, stammte sie nun aus Verblendung oder Wahn, irgendwie nützlich war. Ja, Tristan war vielleicht nicht viel mehr als eine Linse, durch die die Welt betrachtet werden konnte, aber das machte ihn zu einem ganz bestimmten Werkzeug, einer notwendigen Voraussetzung. Ohne ihn konnte Libby die Zeit nicht sehen. Ohne ihn kriegte sie es nicht hin.

Was für eine Erleichterung, zur Abwechslung einmal ein Rädchen in einem System zu sein, das sich tatsächlich vorwärtsbewegte!

»Was ist denn hier los?«, erklang eine Stimme hinter ihnen, und Tristan ließ Libby sofort los und trat unbeholfen einen Schritt zurück. »Ungewöhnlich«, bemerkte Callum und schlenderte in den Raum, während Libby nervös nach der Stuhllehne hinter sich tastete. »Macht ihr Hausaufgaben, Kinderchen?«

Tristan sagte nichts.

»Ich muss los«, murmelte Libby und hastete gesenkten Kopfes aus der Tür.

Callum sah ihr hinterher und lachte leise.

»Ist das zu fassen? So viel Macht, und trotzdem bleibt ihr nur das fluchtartige Verlassen des Raumes. Eigentlich ganz schön traurig.« Callum zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen. »Irgendjemand sollte ihr diese Macht nehmen und was Vernünftiges damit anstellen.«

Selbst wenn er wüsste, was Libby gerade geleistet hatte, würde das seine Meinung von ihr vermutlich kaum ändern, sondern lediglich bestärken.

»Zumindest gibt sie nicht so schnell auf«, erwiderte Tristan.

»Die? Die gibt sofort nach, Caine.« Callum lächelte immer noch. Seine Meinung von Libby, so schlecht sie auch sein mochte, vermieste ihm nicht die Laune. »Hast du Interesse?«

»An ihr? Nicht mal ansatzweise.« Tristan glitt zurück auf den Stuhl, auf dem Libby eben gesessen hatte. »Aber ich kann verstehen, warum sie auserwählt wurde.«

»Ich dagegen kann kaum glauben, dass du dich mit dieser Frage immer noch herumschlägst«, bemerkte Callum. »Was spielt das Warum überhaupt für eine Rolle? Abgesehen von deiner persönlichen Schwäche für Kabale und Intrigen natürlich.«

Tristan warf ihm einen Seitenblick zu. »Fragst du dich das nicht?«

»Nein.« Callum zuckte mit den Schultern. »Die Alexandrinische Gesellschaft hat ihre Gründe, warum sie uns ausgesucht hat. Was zählt, sind meine Entscheidungen. Warum soll ich ihre Spielchen spielen«, sein Lächeln loderte wieder auf, »wenn ich meine eigenen spielen kann?«

Callum braucht dich nicht. Er will dich, erklang Parisas Stimme in Tristans Gedächtnis. Du solltest dich fragen, warum.

»Und da sind die Zweifel wieder«, sagte Callum, anscheinend entzückt von den Gefühlen, die er bei Tristan vorfand. »Wirklich sehr erfrischend. Alle anderen fahren diese nervige Achterbahn, ein ewiges Auf und Ab, und dann gibt’s da noch dich. Eintönige, angenehme Gleichförmigkeit.«

»Und das ist was Gutes?«

»Das ist wie Meditation.« Callum schloss die Augen und ließ sich tiefer in den Stuhl sinken. Er atmete tief ein, dann schlug er die Augen langsam wieder auf. »Deine Ausstrahlung«, sagte er genießerisch, »ist einfach erhebend.«

Tristan verdrehte die Augen. »Lust auf einen Drink? Ich könnte einen vertragen.«

Callum stand auf und nickte. »Was feiern wir?«

»Die zarte Vergänglichkeit unseres Daseins«, sagte Tristan. »Das unvermeidlich irgendwann zu Chaos und Staub zerfällt.«

»Wie düster«, erwiderte Callum erfreut und legte Tristan eine Hand auf die Schulter. »Erzähl das bloß nicht Rhodes, sonst fängt sie sofort mit dem Zerfall an.«

Da konnte er nicht widerstehen. »Und wenn sie taffer ist, als du glaubst?«

Callum zuckte mit den Schultern.

»Ich bin nur neugierig«, erklärte Tristan, »ob dir das gefallen würde oder ob es dich in einen Malstrom existenzieller Verzweiflung stößt.«

»Mich? Ich verzweifle nie«, sagte Callum. »Ich bin immer nur maximal unüberrascht.«

Nicht zum ersten Mal überlegte Tristan, ob diese Fähigkeit, Menschen ganz nüchtern und präzise betrachten zu können, gefährlich war. Das Talent, eine Person ganz real zu erfassen, in all ihren Höhen und Tiefen, ohne den Verzerrungsfaktor der subjektiven Wahrnehmung, der die Kanten weichzeichnete oder ihrer Existenz einen Sinn verlieh, das war … erschütternd.

Ein Segen oder ein Fluch.

»Und wenn ich dich enttäusche?«, erkundigte sich Tristan.

»Du enttäuschst mich pausenlos, Caine. Deswegen mag ich dich ja so«, sinnierte Callum und winkte Tristan in Richtung Bibliothek mit ihrer hervorragenden Auswahl an erlesenem Scotch.