Nico

D a Eilif in seinem Badezimmer aufgetaucht war, lag es nahe, dass die Schutzzauber ein Loch hatten. Zwar durfte man Magie nicht als simples Gewebe betrachten, das irgendwo ein Loch haben konnte, doch die Zauber waren dafür gedacht, fremde Menschen von der Geheimgesellschaft fernzuhalten, und genau das war ihre Schwachstelle: Sie sollten Menschen fernhalten. Was Eilif nicht war.

Das Bibliotheksarchiv hatte zwar etwas Relevantes ausgespuckt, doch es war nur ein Grundlagenwerk zu Wesen und den Ausprägungen ihrer Magie, das in Runen und alter Schrift verfasst worden war, so dass er Reina hatte um Hilfe bitten müssen. Die Anzahl der Wesen war in den letzten Jahren stark zurückgegangen, weil sie bejagt, geschmuggelt oder den »akademischen Studien zugeführt« wurden. Deshalb gab es keine aktuellen Abhandlungen zu dem Thema. Die zweifelhafte Praxis der Erhaltung magischer Wesen (womit Registrierung und Nachverfolgung gemeint waren) hatte für Misstrauen in ihren Reihen gesorgt, so dass die meisten von ihnen sich wie Gideons Mutter mit anderen marginalisierten magischen Quellen verbündet hatten – mit Kreaturen, die von der medäischen Praxis nicht erfasst wurden.

Armut, Dekolonisation, Gefängnisaufenthalte, die globale Humanitätskrise … Es war schon als Mensch schlimm genug, von den Institutionen übersehen zu werden. Die Ökosysteme der Meere veränderten sich, und man konnte es modernen Wasserwesen wie Eilif kaum vorwerfen, dass sie sich weigerten, sich auf das Meer als Lebensraum zu beschränken – von Gideons Vater ganz zu schweigen.

»Er ist entweder tot oder untergetaucht«, hatte Gideon Nico einmal erklärt, »spielt aber eh keine Rolle. Ich glaube nicht, dass er sich bei mir meldet. Vermutlich habe ich überall auf der Welt Geschwister, die zu verschiedenen Spezies gehören. Keins davon erkennt er an.«

Gideon hatte damals ziemlich gleichgültig geklungen, und Nico hatte ihm keine weiteren Fragen gestellt. Auch ohne Vaterkomplex hatte Gideon genug psychische Traumata, vermutlich war es sogar ein Segen, dass sein Vater kein Teil seines Lebens war. Seine Mutter sorgte auch allein für ständige Katastrophen, vor allem da Mutterliebe nie der Grund für eine Kontaktaufnahme mit ihrem Sohn war.

Als Kind hatte Gideon während ihrer seltenen Besuche bei seiner Pflegefamilie einfach getan, was sie wollte – einschlafen, jemandem Schmuck stehlen, jemand anderem etwas geben. Er hatte nicht verstanden, was dahintersteckte oder um wen es ging, bis seine Opfer ihn irgendwann nicht mehr als Kind wahrnahmen, sondern ihn wie einen Erwachsenen verfolgten. Die Menschen, sagte Gideon, drehten durch, wenn man ihnen etwas aus ihren Gedanken stahl. Damit wollte er nichts mehr zu tun haben. Sobald er die Konsequenzen von Eilifs »Erledigungen« in den Traumreichen erkannte, hörte er damit auf – oder versuchte es zumindest. Für Eilif war Gideons Menschlichkeit kein Grund, sich nicht einzumischen, und seine mögliche Sterblichkeit schon gar nicht.

Im besten Fall war Eilif eine dräuende Gefahr, im schlimmsten Fall eine scharfe Bombe, weshalb Nicos Priorität stets darin bestand, Gideons Mutter auszuschließen. Sobald die Geheimgesellschaft ein geschützter Ort war, konnte er sich auf die übrigen Brüche in Gideons Lebensgeschichte konzentrieren, ohne eine folgenschwere Sicherheitslücke zu befürchten.

Nico traute Reina genug, um sie um eine Übersetzung der Runen zu bitten, und er hatte gehofft, dass er seine Beweggründe nicht würde erklären müssen. Tatsächlich hatte sie sich mit einer oberflächlichen Erklärung zufriedengegeben.

»Wenn ich das richtig sehe, ist Magie einfach Magie«, sagte sie, ohne von der Seite aufzublicken, die sie gerade überflog. Sie saß auf einem Stuhl im Freskensaal, die Beine untergeschlagen, und beugte sich über das Buch, als ob sie fürchtete, jemand könnte es ihr plötzlich wegnehmen. »Die Gene der meisten Wesen unterscheiden sich genauso sehr von denen eines Menschen wie von denen eines Primaten. Es geht einfach nur um evolutionäre Unterschiede.«

»Abweichungen?«

Sie blickte auf und sah ihn aus verengten Augen an. »Genetische, meinst du?«

Die unterschwellige Anschuldigung, er hätte speziezistische Hintergedanken, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. »Natürlich«, sagte er möglicherweise etwas heftiger, als nötig gewesen wäre. »Mutationen, mein ich.«

»Du musst ja nicht gleich auf die Barrikaden gehen«, erwiderte sie ausdruckslos. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. »Die magischen Fähigkeiten scheinen sich eigentlich nur darin von unseren zu entscheiden, wie sie eingesetzt werden.« Sie überflog die Seite, bevor sie einen kurzen Blick in den Flur warf. Eine Pflanze, die Widerworte gab, vermutete Nico. »Das stimmt«, gab sie grummelnd zu und blickte Nico nachdenklich und ein wenig oberlehrerhaft an. »Sie ist kleiner.«

Er runzelte die Stirn. »Was denn?«

»Die …«, sie hielt inne und fluchte unhörbar. Vermutete er zumindest. »Die Leistung«, sagte sie schließlich, als sie das Wort in ihrem geistigen mehrsprachigen Wörterbuch gefunden hatte. »Energie, Macht, was auch immer das Wort ist. Wesen produzieren weniger davon … oder eher: Sie verschwenden weniger davon.«

»Verschwenden?«

»Frag Tristan«, sagte sie.

»Frag Tristan wonach?«

Beim Klang von Libbys Stimme fuhr Nico herum und sah sie im Türrahmen des Freskensaals stehen.

»Nichts«, sagte Nico im gleichen Moment, in dem Reina sagte: »Wie viel Magie Menschen produzieren.«

»Menschen«, wiederholte Libby. In ihren Augen flackerte Interesse auf. »Im Gegensatz zu wem?«

»Nichts«, wiederholte Nico nachdrücklicher, während Reina sich wieder dem Buch zuwandte und, ohne mit der Wimper zu zucken, antwortete: »Wesen.«

Libby drehte sich erwartungsvoll zu Nico. »Wesen, Varona? Wirklich? Scheint mir kaum relevant zu sein.«

Ihre Augenbrauen verschwanden unter ihrem buschigen Pony, den er so sehr hasste. Er konnte es ja gerade noch ertragen, wenn sie neugierig war, aber wenn sie so offensichtlich an ihm zweifelte, brachte ihn das echt auf die Palme.

Offenbar ging sie davon aus, dass er irgendetwas vermasselt hatte.

»Ich wollte nur etwas prüfen«, sagte er ausweichend und in einem ungeduldigen Tonfall, von dem er genau wusste, dass er sie zur Weißglut brachte. Es bestand immer die Möglichkeit, dass sie einfach ging, wenn er sie nur hartnäckig genug nervte.

»Okay, und was hat Tristan damit zu tun?«

Verdammt. Scheinbar war ihre Neugierde wirklich geweckt.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, gab Nico zurück, was Reina offenbar als Aufforderung verstand.

»Tristan kann sehen, wie Magie verwendet wird«, sagte sie durch den Vorhang schwarzer Haare, die ihr ums Gesicht fielen.

»Woher weißt du das?«, fragte Libby in einem Ton, der sogar für Nico unnötig anklagend klang. Als ob sie vermutete, Reina und Tristan würden sich einmal die Woche zum Brunch treffen, um sich über ihr Privatleben und ihre geheimsten Wünsche auszutauschen.

»Beobachtung«, erwiderte Reina, wie Nico erwartet hatte. Reina sagte wenig und sah viel, aber am meisten mochte er an ihr, dass sie den Großteil ihrer Beobachtungen völlig unbedeutend fand und deswegen nicht darüber sprach.

Im Gegensatz zu Libby, die das genaue Gegenteil war.

»Tristan«, fuhr Reina fort, »kann sehen, wie Magie verwendet wird. Wie ich eben erklären wollte«, demonstrativer Blick zu Nico, »nutzen Wesen ihre Magie viel besser. Die medäische Forschung bezeichnet das als verkümmerte Kräfte, aber das ist akademische Überheblichkeit.« Nico zuckte in stummem Einverständnis mit den Schultern, und Reina fuhr fort: »Wesen setzen ihre Magie effizienter ein. Sie ist …« Wieder eine Pause, in der sie nach dem Wort suchte. »Dünner. Schmaler. Gewoben wie ein Faden, nicht wie …« Noch eine Pause. »Nicht wie Rauch.«

»Ich glaube, Tristan hat mal gesagt, dass Magie ›auslaufen‹ kann«, sagte Libby gedankenverloren. »Wir können ihn bestimmt bitten, das genauer zu erklären.«

Der Gedanke, Tristan Caine um irgendwas anderes als ein Stirnrunzeln und eine spöttische Bemerkung zu bitten, ließ Nicos Geduldsfaden reißen.

»Nein«, blaffte er und hätte das Buch aus Reinas Hand gezaubert, um damit aus dem Raum zu stürmen, wenn sie es nicht schützend an sich gedrückt hätte. »Es geht hier nicht um dich, Rhodes.«

Sie versteifte sich. »Und worum geht es dann?«

»Nichts.« Gideon. »Jedenfalls nichts, wobei ich deine Hilfe brauche.«

Libbys Blick verfinsterte sich. Reina schlang die Arme fester um das Buch und machte beiden klar, dass sie auf die folgende Auseinandersetzung keine Lust hatte und keinem von beiden zur Seite stehen würde.

Nico, der einen Ausbruch von Libby Rhodes inzwischen aus acht Meilen Entfernung gegen den Wind roch, gab das Buch auf. Er stand abrupt auf und wandte sich zur Tür. Als er an Libby vorbeikam, unterdrückte er seine Wut. Bisher war er auch ohne die Unterstützung irgendeines verstaubten Archivs klargekommen, also würde er sich einfach ohne Diskussion um die Schutzzauber kümmern.

Oder auch nicht. Hinter ihm erklangen laut und deutlich Libbys hartnäckige Schritte.

»Varona, wenn du etwas Dummes vorhast …«

»Also erstens«, sagte Nico und wirbelte zu ihr herum, so dass sie in ihn hineinlief, »würde ich nicht nach deiner Meinung fragen, wenn ich etwas Dummes vorhätte. Zweitens …«

»Du kannst nicht einfach rumlaufen und Ärger anzetteln, weil dir langweilig ist.« Libby klang wie seine Mutter. »Was, wenn du gebraucht wirst?«

»Wofür denn?«

»Ich weiß nicht. Irgendwas.« Sie funkelte ihn aufgebracht an. »Vielleicht könntest du mal überlegen, ob du deine Dummheiten nicht einfach nur deshalb unterlassen solltest, weil sie dumm sind. Oder kriegt dein Hirn das irgendwie nicht verarbeitet?«

»Wenn ich Langeweile habe, dann hast du sie erst recht«, erwiderte Nico seinerseits anklagend. Er wusste, dass er unnötig gemein war, aber beim Thema Gideon war seine Zündschnur nicht sonderlich lang. »Nur weil du das nicht zugeben willst, ist es nicht weniger wahr. Es macht dir Spaß, mir hinterherzulaufen und zu kontrollieren, ob ich irgendwas verkacke, oder?«

»Ich laufe dir nicht hinterher«, fauchte Libby. »Ich mache mich nützlich. Ich wende das an, was wir im Unterricht lernen, und du solltest das auch tun.«

Dass Libby Rhodes zu wissen glaubte, was Nico tun sollte, ging entschieden zu weit. »Oh, wirklich? Wie wunderbar für dich. Was du doch für eine Gelehrte bist.« Nicos Worte trieften nur so vor Sarkasmus, und er streckte die Hand aus, um ihr den Kopf zu tätscheln. »Gutes Mädchen, Rhodes …«

Sie schlug seine Hand weg. Ihre Anspannung ließ die Luft um sie herum knistern. »Sag mir einfach, was du vorhast, Varona. Vielleicht geht es schneller, wenn du mich um …«

»Was, um Hilfe bittest?«

Sie verstummte.

»Hättest du mich denn um Hilfe gebeten, Rhodes?«, entgegnete Nico mit kaum verborgener Skepsis in der Stimme. »Wir sind keine neuen Menschen, nur weil wir uns einmal in einer Sache einig waren. Oder hast du schon vergessen, dass wir hier gegeneinander antreten?«

Sobald die Worte über seine Lippen gekommen waren, bereute er sie. So hatte er das nicht gemeint. Er wollte Libby nicht zur Feindin haben und hatte nicht vor, mehr Rivalitäten zu schaffen, als für die Initiation nötig waren. Er wollte nur, dass sie sich aus seinen Privatangelegenheiten heraushielt. Außerdem wollte er sich ihre Standpauke ersparen, die unvermeidlich auf ihn niederprasseln würde, sobald sie herausfand, dass er aus Versehen ein verhaltensauffälliges Wasserwesen ins Haus gelassen hatte.

»Das verstehst du also unter einem Bündnis«, sagte Libby so wütend, dass jegliche Farbe aus ihrer Stimme wich.

Nein, wütend war sie nicht, sondern eher bitter.

Spröde Traurigkeit.

»Machen wir nicht draus, was es nicht ist«, sagte Nico, denn der Schaden war angerichtet, und vergeben hatte sie ihm ohnehin noch nie. »Wir sind nicht befreundet, Rhodes. Waren wir nie, werden wir nie sein … und «, fügte er frustriert und mit einem Anflug unvermeidlicher Schuldgefühle hinzu, »weil ich dich nicht einfach darum bitten kann, mich in Ruhe zu lassen …«

Er sah gerade noch die hohle Enttäuschung in ihrem Gesicht, bevor sie sich abrupt abwandte und um eine Biegung des Korridors verschwand. In seinem Kopf hörte er das Echo von Gideons Stimme: Bist du auch nett zu Rhodes?

Nein, natürlich nicht, dachte Nico mit einem Anflug von Bedauern. Weil es auf der ganzen Welt niemanden gab, bei dem er sich so unzulänglich fühlte, weil er einfach nur existierte. Was er ihr gegenüber natürlich niemals zugeben konnte.

Außerdem musste er die Schutzzauber reparieren.

Gereizt sprang Nico die restlichen Stufen hoch und bog von der Galerie in den Gang ein, der von den Schlafzimmern weg führte. Wenn er ungestört arbeiten wollte, brauchte er Privatsphäre, weshalb das Erdgeschoss keine Option war. Zum Glück gab es oben mehrere ungenutzte, pompös eingerichtete Räume, die niemand je betrat. Im Ostflügel schloss er sich in einem Salon mit üppigen Goldverzierungen ein, der schon lange kein aristokratisches Kartenspiel mehr gesehen hatte (oder was die Briten sonst in ihren vielen Salons taten), und ging nachdenklich vor dem Kamin auf und ab.

Im Prinzip waren die Schutzzauber wie ein Gitter strukturiert: gleichmäßig und geordnet, weshalb jeder Fehler leicht zu finden war. Doch auf den ersten Blick entdeckte er keinen. Die sechs Kandidaten hatten sich für ein kugelförmiges Sicherheitssystem entschieden, das die Geheimgesellschaft und das Archiv durch engmaschige magische Schutzzauber in seinem Inneren verbarg. Physisches Eindringen wurde von der Hülle aus veränderten Kräften verhindert, die das Haus umgaben, während immaterielles, magisches Eindringen von den verwobenen, fließenden Bewusstseinssträngen entdeckt wurde, auf die Parisa so gern hinwies.

Wie hatte Eilif es geschafft, ihr Verteidigungssystem zu umgehen und sich Zugang zu Nicos Bad zu verschaffen?

Es war wohl am besten, wenn er die Rohre überprüfte.

Nico zog eine Grimasse, schloss die Augen und rief im Geiste das Rohrsystem des Hauses auf, suchte nach den Verzerrungen, die seine oder Libbys Magie verursachten. Ihre magischen Fingerabdrücke waren fast identisch; vielleicht eine Folge ihrer gemeinsamen Ausbildung. Erneut überkam Nico etwas, das Schuld, Wut oder ein allergischer Anfall sein mochte. Er ignorierte es und konzentrierte sich mehr … oder vielleicht weniger. Ob es nun seine oder Libbys Magie war, sie würde ihm gehorchen. Wer sie gewirkt hatte, war egal, wenn die Person nur gute Arbeit geleistet hatte.

Bei genauerem Hinsehen erkannte Nico mehrere Blasen und Risse, kleine Brüche im Sicherheitsnetz der Rohre. Dann sah er sie auch in der Isolierung der Wände. Sie waren nicht groß genug, um einem Menschen Zugang zu verschaffen – Kompression war schwierig und benötigte so viel Energie, dass die Sicherheitszauber anschlagen würden, bevor jemand durchdrang –, aber galt das auch für Eilif oder ein anderes Wesen, das hier eindringen wollte? Möglich, wenn Reinas Aussagen über raffiniert angewandte Magie zutrafen. Luftschächte und andere bauliche Schwachstellen wurden ziemlich oft vernachlässigt, und in diesem Fall konnte Nico spüren, wie die Leitungen im Haus unter ihren Schutzzaubern erzitterten, zersetzt von Magie und kalkhaltigem Wasser und was sonst noch so Metall zerfraß. Er war kein Klempner, aber vielleicht lag genau hier das Problem. Die Medäer, die in die Geheimgesellschaft aufgenommen wurden, waren Akademiker, keine Handwerker; sie wurden nicht dafür ausgewählt, um Renovierungsbedarf an einem alten Gemäuer zu erkennen. Es mochte zwar ein Bewusstsein haben, war aber immer noch ein physisches Bauwerk, und das war Nicos Element. Vielleicht war er (oder Libby) genau deshalb ausgewählt worden, vielleicht hatte das ihr Beitrag zur Gruppe sein sollen.

Magie unterschied sich als Prozess nicht von Zerfall, Korrosion, Temperaturveränderungen oder Abnutzung und war abhängig von den Größenschwankungen, vom stückweisen Verfall, der Bewegung von Raum und Zeit. Es war fast lachhaft, wie einfach alles am Ende war, selbst wenn es nicht gemessen oder geschätzt werden konnte. Nico musste nur die Stellen reparieren, an denen die Schutzzauber Schwächen aufwiesen, und sie mit eigens für diesen Zweck angefertigten Bandagen dort stützen, wo sie verzerrt worden waren.

Ob seine Maßnahmen wirksam waren, hing davon ab, wie gut sie sich einfügten, was schwierig, aber nicht unmöglich war. Nico musste lediglich so viel wie möglich geradebiegen und das flicken, was endgültig kaputt war.

Gideon hätte seine Überlegungen wohl »unverantwortlich« genannt. Oder vielleicht hätte Libby dieses Wort verwendet, während Gideon mit zustimmendem Gesichtsausdruck hinter ihr stand. Max wäre es egal, und genau das war es, was er an Reina so schätzte. Er hätte sie dazuholen können, denn die Energie, die er sich mit ihrem Einverständnis von ihr lieh, könnte er für sein Vorhaben bestimmt gut gebrauchen. »Dummheiten«, schnaubte Libby hochnäsig in seinen Gedanken, weshalb er die Idee sofort mit einem abschätzigen Achselzucken verwarf.

Was, wenn er sich nur dieses eine Mal verausgabte? Seine Energie lud sich wieder auf, er konnte sie wiederherstellen. Er würde es eine Nacht lang (oder vielleicht auch drei) spüren, dann würde das Unbehagen verfliegen und niemand würde je erfahren, dass er die Schwachstellen anfangs übersehen hatte. Wenn Libby ihm vorhielte, dass er erschöpfter als sonst wirkte, dann war es eben so. Bei ihrem aktuellen Forschungsthema, der Zeit, war er ohnehin nicht sonderlich nützlich. Er hatte kein Interesse an Brunnen, ob nun jung oder alt.

Aus diesem Gefühl der Nutzlosigkeit heraus fasste er den Entschluss, sich allein um das Problem zu kümmern, und machte sich an die Arbeit. Er mochte die Nervosität nicht, die Untätigkeit mit sich brachte. Sie war ihm so zu eigen, wie die immerwährende Angst Libby zu eigen war. Die Angst wovor? Vermutlich vor dem Versagen. Sie war so perfektionistisch, dass es ihr nicht reichte, etwas nur zu versuchen – ohne ein Ergebnis erstarrte sie vor Selbstzweifeln. So groß war ihre Angst davor, auch nur im Entferntesten als unzulänglich zu gelten. Für Nico war Versagen keine Option. Dadurch heimste er zwar mehr Misserfolge ein, aber immerhin bremste es ihn nicht aus.

Während Libby sich selbst ständig herunterputzte, stellte Nico sich nur zu gern auf ein Podest. Wenn überhaupt entfachte der Gedanke, seine Grenzen zu überschreiten, ein Feuer in ihm. Warum sollte er nicht versuchen, Dinge zu erreichen, die noch außerhalb seiner Reichweite lagen? Solange es Gideon half, konnte es doch sicher nicht unklug sein. Selbst wenn es für Nico nur die Sonne oder den Absturz ins Meer gab: Auf Sicherheit konnte er keine Rücksicht nehmen.

Also wählte er den leichtesten Einstieg: Er griff nach den faserigen Knoten, die sich um die Löcher gebildet hatten, und dröselte sie in der Luft auf. Wo das dünne Adergeflecht zu schwach war, verstärkte er die Molekularstruktur mit seiner eigenen Magie, verschloss die Risse, bis die Macht wieder gleichmäßig durch das magische Netz des Hauses floss. Es war eine Mischung aus Ziehen und Schieben, und er lenkte den chaotischen Fluss des Verfalls in geordnete Bahnen. Das Bewusstsein des Hauses sperrte sich, wehrte sich gegen seine Reparaturen, und Schweiß lief ihm in dünnen Rinnsalen über den Rücken. In seinem Nacken meldete sich eine Verspannung, die er bisher kaum bemerkt hatte und die jetzt schmerzend pulsierte. Eine Folge seiner wochenlangen Überanstrengung bei der Arbeit mit Raum, erkannte er jetzt, im Nachhinein. Es war nicht das erste Mal, dass sein Körper ihm sagte (ihn anschrie), er solle die Dehnübungen nicht vergessen.

Er ignorierte das Kribbeln und Stechen, das zunehmend schmerzhaft in seinen Kopf strahlte. Kopfschmerzen. Große Klasse. Vielleicht war er auch dehydriert. Doch wenn er jetzt aufhörte, müsste er später weitermachen, und Nico hasste es, Aufgaben liegen zu lassen. Das war nicht immer ganz praktisch, aber wer sucht sich seine Macken schon selbst aus?

Als er keine weiteren Vogelnester und Knoten mehr fand, widmete er sich dem Metall selbst, reinigte die witterungsbedingten Vergiftungen. Kurz rührte etwas an seinen Erinnerungen, eine alte Vorlesung, in der er geistig nur halb anwesend gewesen war. Weder Magie noch Energie können aus dem Nichts entstehen, in dem Punkt sind sie gleich, Mr. de Varona, wenn Sie uns Ihre Aufmerksamkeit schenken würden , und dann hallte Gelächter durch den Raum, weil Nico eine respektlose Antwort gegeben hatte, und ja, dieses Thema gehörte zu den Prinzipien der Zeit, nicht wahr? Dass diese Information in einer sehr dunklen Ecke seines Gehirns gespeichert worden war, half ihm nun auch nicht mehr, wo er seine Aufgabe (die Sanierung einer Struktur, die um ein Vielfaches größer war als er selbst) schon begonnen hatte. Er spürte, wie der Boden unter dem Edwardischen Teppich erzitterte; allmählich entglitt ihm die Kontrolle. Möglicherweise hatte er nicht bedacht, wie schnell das Haus ihm seine Energie entziehen würde, wie gierig es etwas schluckte, das er langsam und gleichmäßig hätte geben sollen. Er hatte sich zu sehr entblößt, er blutete Magie, ohne den Strom stillen oder die Wunde ausbrennen zu können.

Hm. Was konnte er jetzt noch tun? Weitermachen war die einzige Antwort, die Nico je gekannt hatte. Versagen, aufgeben oder etwas sein zu lassen war nie eine Option gewesen. Er biss die Zähne zusammen und zitterte, als ihm die Magie entwich wie ein brutaler Nieser. Ha-tschi, fuck, Gesundheit, eine Wucht, die Rippen brechen und Blutgefäße zum Platzen bringen konnte. Die meisten Menschen wussten gar nicht, dass ein Nieser dazu fähig war. Die unschuldige Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens war schon komisch. Man konnte auf so viele verschiedene Arten kaputtgehen, und nur die wenigsten davon waren heroisch oder nobel.

Wenn er hier, neben dem nutzlosen Mobiliar des Salons, starb, konnte Libby seine Trauerrede als Gelegenheit für eine posthume Standpauke nutzen. »Nicolás Ferrer de Varona war ein Idiot«, würde sie sagen, »ein Idiot, der seine Macht für grenzenlos hielt, obwohl ich ihm immer wieder das Gegenteil gesagt habe. Wusstet ihr, dass man an Überanstrengung sterben kann? Er wusste das natürlich, weil ich es ihm andauernd gesagt habe. Aber – welch Überraschung – er hat mir nie zugehört …«

»Varona.« Libbys Stimme schien aus der Gegend seines Bauchs zu kommen, doch weil er so stark zitterte, dass seine Zähne aufeinanderschlugen, konnte er als Antwort nur grunzen. Die Konzentration nicht zu verlieren war seine oberste Priorität. Direkt gefolgt von seinem Überleben. »Mein Gott.«

Wie immer klang sie nicht begeistert, also konnte er nicht sagen, ob sie wirklich da war oder ob er sich ihre Anwesenheit nur einbildete. Das Donnern in seinem Kopf übertönte jetzt alles andere, der Schmerz in Schultern und Nacken hatte sich zwischen seine Augen verlagert. Er spürte, dass ihm das T-Shirt ausgezogen wurde. Vermutlich war es durchgeschwitzt, aber er konnte nicht aufhören, nicht jetzt. Er hatte die kleinen Klumpen von Magieansammlungen behoben und machte sich nun daran, die Löcher und Lücken zu stopfen.

Er spürte, dass sein Körper in Richtung einer Wärmequelle gezogen wurde. Die flatternde, wellenartige Hitze sagte ihm, dass es sich vermutlich um ein Feuer handelte. Wenn Libby wirklich da war und er sie sich nicht nur einbildete, hatte sie bestimmt ein Feuer im Kamin entfacht, damit er sich nicht erkältete. Vermutlich wollte sie ihn das Fieber seiner Anstrengungen ausschwitzen lassen. Das war an sich ein netter Gedanke, wahrscheinlich aber sinnlos. Im schlimmsten Fall genauso sinnlos wie die Flicken, die Nico auf das verfallende Haus klebte – ein Pflaster für einen Sterbenden.

Aber das war nur sein Hang zum Drama. Er würde nicht sterben.

»Du unerträgliches Blag. Du idiotischer Prinz.« Das war ihre Lieblingsbeleidigung. Sie nannte ihn so oft so, dass er die Bezeichnung in den eigenen Wortschatz übernommen hatte. »Du wirst hier nicht dein Talent verschwenden und draufgehen. Das lasse ich nicht zu.« Libby schüttelte ihn.

Das weiß ich, Rhodes, halt die Klappe, hätte er gemurmelt, wenn er nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, nicht zu sterben – genauer gesagt, die Magie, die aus ihm herausschoss und die er vermutlich zum Überleben brauchte, auf sein Ziel zu richten.

»Du armseliger kleiner Besserwisser. Was zum Teufel hast du dir dabei … Nein, sag besser nichts«, grummelte sie und wuchtete ihn ohne viel Federlesens hoch, lehnte ihn gegen etwas Hartes. Vielleicht das Bein eines viktorianischen Stuhls? »Sag mir einfach, was du vorhast, damit ich dir helfen kann. Zwar würde ich dich wesentlicher lieber einfach aus dem Fenster schmeißen, aber …«

Nico gab nur ein Grunzen von sich. Er hatte noch viel erschöpfende Arbeit vor sich und konnte gerade nicht in Worte fassen, was er eigentlich erreichen wollte. Mit dem Versiegeln und Ausbessern war er im Prinzip fertig. Es blieben nur noch die verrotteten Stücke, die alt und dünn geworden waren und die eher eine Amputation als einen Verband erforderten. Sie mussten von innen heraus neu errichtet werden. Diesen Schaden zu beheben, dieses Chaos in eine Struktur zu pressen, laugte ihn vollständig aus, entzog ihm das letzte bisschen Magie, das er noch übrig hatte. Seine Eingeweide zogen sich zusammen, das Haus nahm seine Magie nun aus seinen Nieren, seinem Herzen, seiner Lunge. Seit Monaten spürte er, wie seine Macht größer geworden war und sich wie Wurzeln in nahrhaftere Erde vorkämpfte. Doch wer mehr zu bieten hatte, hatte auch mehr zu verlieren.

»Du darfst deine Kraft nicht so rücksichtslos verschwenden«, schalt Libby in ihrem oberlehrerhaften Ton. Dann griff sie grob nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. »Zeig es mir einfach.«

Höchstwahrscheinlich erahnte sie bereits in dem Moment, in dem sie ihn berührte, in welche Richtung seine Magie arbeitete. Das hatten sie schon immer gekonnt; ihre Fähigkeiten griffen ineinander und ergänzten sich. Normalerweise nutzten sie diese Verbindung nicht, denn wenn sie die Magie des jeweils anderen in Anspruch nahmen, fühlte es sich an, als würden sie Gliedmaßen austauschen, Gelenke teilen. Er würde den Rest des Tages den Eindruck haben, Libbys Hand zu nutzen anstatt seiner, oder Treppen mit Libbys Beinen zu erklimmen. Ihr würde es genauso gehen. Wenn er aufblickte, würde er feststellen, dass sie ihn beobachtete, und sie würde das Gesicht verziehen, als ob er ihr etwas genommen hätte. Das, was sie ihm genommen hatte, war ebenso wertvoll wie das, was er ihr genommen hatte, und doch fehlte ihr etwas, das er jetzt besaß. Und andersherum.

Sie hatten Schwierigkeiten damit, sich voneinander zu lösen. Schlimmer noch. Sie waren das exakte Gegenstück zum jeweils anderen.

Erst seit sie die Prinzipien räumlicher Gesetze mit ihrer Magie nachgebildet hatten, fühlten sich die geborgte Macht und die gestohlenen Gliedmaßen weniger wie schrecklicher, lauwarmer Sex, sondern eher wie echte Harmonie an.

Wenn sie zusammenarbeiteten, war es, als stünden ihnen plötzlich Flügel mit größerer Spannweite zur Verfügung, die sie zeitgleich ausbreiteten. Der Unterschied war schwer zu erklären, doch es war, als erfüllte das Gefühl endlich einen Zweck. Sie waren immer noch übermenschlich mächtig, ja, aber vorher hatten sie kein Ziel gehabt, keine Richtung, und allein fühlten ihre Fähigkeiten sich tollpatschiger und gröber an. Gemeinsam waren sie konzentriert, makellos und rein.

Eine Folge der Übung: Wachstum.

Zum ersten Mal seit mehreren Minuten konnte Nico frei atmen, und er erkannte erleichtert, dass die Verbindung mit Libbys Macht seine Aufgabe nicht nur einfacher machte: Er konnte seine Magie jetzt sauberer, genauerer einsetzen. Er lief weniger aus, wie Tristan gesagt hätte (Nico hätte das vorher nie so ausgedrückt, weil er nicht wusste, wie präzise er seine Magie wirklich einsetzen konnte), sondern arbeitete jetzt glatter, effizienter.

Innerhalb weniger Minuten waren die Rohre repariert, und nur ein paar Sekunden später pulsierten die Schutzzauber störungsfrei. Nico setzte seine letzten Energiereserven ein, um die Schutzkugel zu kontrollieren. Dieses Mal fand er keine Fehler, keine Unregelmäßigkeiten. Keine Mängel, an denen seine tastende Magie hängen blieb.

Libby ließ ihn los und erhob sich mit langsamen Bewegungen.

»Warum?«, fragte sie nach einem Augenblick.

Es kostete Nico einige Anstrengung, die Augen zu öffnen. Er nahm Libby nur undeutlich neben sich wahr. Die Goldakzente auf den roten Wänden schienen neben ihrem Haar zu verschwimmen. Hatte sie die Augen geschlossen? Sie hatte sich nicht so sehr verausgabt wie er, aber auch ihr Krafteinsatz war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie hatte sich einen Teil seiner Last aufgebürdet.

»Tut mir leid«, brachte er krächzend hervor. Er wusste, dass das nicht ausreichte.

»Das sollte es auch.« Libby legte eine flache Hand auf den Boden. »Er bebt immer noch.«

»Hast du …« Verdammt, sein Mund war trocken wie Schleifpapier. »Hast du mich dadurch gefunden? Durch mein Beben?«

»Ja.«

Natürlich. Jetzt kam er gleich, der riesige Aufriss, weil er diese Störung verursacht und überhaupt seine Kräfte nicht richtig im Griff habe und so weiter. Dabei war sie die Einzige, die die Beben überhaupt spüren konnte. Wie immer wäre es seine Schuld und sie würde nie aufhören …

»Es ist echt unfair, wie talentiert du bist. Unglaublich gut«, sagte sie mit wohldosiertem Neid in der Stimme. Dann öffnete sie die Augen. »So viel Magie …« Sie sah ihn prüfend an. »Ich hätte das niemals alleine versucht.«

»Hätte ich auch nicht tun sollen.« Es hatte keinen Zweck, das zu leugnen.

»Ja, aber du hättest es fast geschafft. Vielleicht wäre es sogar ohne mich gegangen.«

»Wenn ich mich geirrt hätte, wären ›fast‹ und ›vielleicht‹ egal gewesen.«

»Stimmt, aber trotzdem.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ist ja nicht so, als hättest du nicht gewusst, dass ich kommen würde.«

Nico wollte gerade den Mund öffnen, um zu widersprechen, besann sich dann aber eines Besseren. Vielleicht hatte sie recht. Wenn sie da war, hatte er ein Sicherheitsnetz, ob er es nun wahrhaben wollte oder nicht. Es gab nicht viel, was er vor ihr verheimlichen konnte, und das hatte er auf irgendeiner Ebene seines Unterbewusstseins ausgenutzt.

»Danke«, sagte er, eventuell murmelte er es auch nur.

Sie blickte zufrieden drein, fast schon selbstgefällig.

»Warum hast du das Haus alleine repariert?«, fragte sie und überging diesen abstoßenden Moment der Freundlichkeit zwischen ihnen. »Reina hätte dir helfen können.«

Dass sie sich nicht selbst vorgeschlagen hatte, fand Nico unheimlich taktvoll, also belohnte er sie mit einer echten Antwort. »Wenn ich jemanden um Hilfe gebeten hätte, Rhodes, dann dich.«

»Leere Worte, Varona«, sagte sie genauso freundlich. »Du bittest nie jemanden um Hilfe.«

»Ist aber trotzdem wahr.«

Sie verdrehte die Augen und beugte sich zu ihm, um den Puls an seinem Handgelenk zu nehmen. »Langsam.«

»Bin müde.«

»Sonst noch was?«

»Kopfschmerzen.«

»Trink was.«

»Ja doch«, knurrte er. »Ich weiß, Rhodes …«

»Tut irgendwas weh? Ist etwas angeschwollen?

»Ja doch, alles.«

»Leg dich am besten hin.«

»Alter, habe ich nicht grade gesagt …«

»Warum?«, unterbrach sie ihn, und obwohl Nico erschöpft war, obwohl er keine Lust auf den Streit hatte, der kommen würde, und obwohl er viel lieber ins Bett gekrochen wäre, um zwölf Stunden durchzuschlafen, sprach er den einen Satz, den sie nie akzeptieren würde.

»Kann ich dir nicht sagen.« Sogar in seinen Ohren klang das hohl.

Wie erwartet erwiderte Libby gar nichts. Er spürte, wie ihre Anspannung stieg, wie sie ihre Nervosität umklammert hielt wie Reina ihr Buch. Etwas, das sie schützen und verstecken wollte.

Er gab es ungern zu, aber er verachtete sich am meisten, wenn er ihr weh tat.

»Ich … Zwing mich bitte nicht dazu, es dir zu erzählen«, fügte er mit rauer Stimme hinzu. Hoffentlich stimmte dieser Versuch einer ehrlichen Antwort sie milde.

Sie blieb noch einen Augenblick stumm.

»Du hast gesagt, wir hätten ein Bündnis«, sagte sie.

»Haben wir auch.« Hatten sie auch. »Wir haben ein Bündnis, versprochen. Ich stehe zu meinem Wort.«

»Also, wenn du Hilfe brauchst …?«

»Komme ich zu dir«, versicherte Nico rasch.

»Und wenn ich etwas brauche?«

Es war fast schon albern. Wie du mir, so ich dir. Doch dieses eine Mal konnte er ihr das nicht zum Vorwurf machen.

»Kommst du zu mir«, bestätigte er, erleichtert, ihr etwas zurückgeben zu können. »Ich halte dir den Rücken frei, Rhodes. Von jetzt an. Ich schwör’s.«

»Solltest du auch.« Sie klang zufrieden, oder wenigstens erleichtert. »Nach diesem idiotischen Einfall schuldest du mir was.«

»Wusste ich doch, dass du einen auf Moralapostel machen würdest.« Er stöhnte leise, um wenigstens einen Teil seiner Würde zu wahren. Schließlich wollte er sie nicht mit seiner plötzlichen Freundlichkeit erschrecken.

»Trotzdem«, sie seufzte, »würdest du mir sagen, wenn du wirklich in Gefahr schwebst?«

»Wir sind nicht mehr in Gefahr.«

»Das ist keine Antwort, Varona.«

»Von mir aus. Ja.« Er stöhnte wieder. »Ich würde es dir sagen. Aber ich glaube nicht, dass wir in Gefahr sind.«

»Waren wir aber?«

»Eigentlich nicht. Aber mir sind einige … Flüchtigkeitsfehler aufgefallen.«

»Und jetzt?«

»Schau dir die Schutzzauber an, wenn du mir nicht glaubst.«

»Habe ich schon.« Trotzdem hielt sie erneut inne. »Die Rohre? Ernsthaft?«

»Was, begreifst du etwa nicht, welche Verpflichtungen ein Haus mit sich bringt, Rhodes?«

»Ich hasse dich.«

Ah, das kannte er.

»Gleichfalls«, erwiderte er und kam mühsam auf die Beine. Libby war wieder ganz die Alte und sah amüsiert zu, wie er sich aufrappelte. Sofort wurde Nico mit einem heftigen Krampf im Oberschenkel belohnt. Erfolglos versuchte er, auf den Beinen zu bleiben und nicht vor Schmerzen zu wimmern.

»Tut’s weh?«, fragte Libby ungerührt.

»Maul halten«, brachte Nico mit zusammengebissenen Zähnen und tränenden Augen hervor.

»Stell dich nicht so an.«

Sie wedelte mit der Hand, der Boden unter ihm verschwand, und er löste sich in Luft auf. Ohne Vorwarnung erschien er in seinem Schlafzimmer, kippte nach vorn und fing sich gerade so noch ab, bevor er mit dem Gesicht auf den Bettrahmen schlagen konnte. Libby zupfte noch einmal an der Schwerkraft, so dass er hilflos auf die Matratze purzelte, wo er ohne jede Widerrede mit schmerzenden Gliedern liegen blieb.

»Danke«, murmelte er in sein Kissen. Er würde sich nicht die Mühe machen, sich umzuziehen. Vage ging ihm auf, dass sein durchgeschwitztes T-Shirt fehlte – und noch schlimmer, er hatte noch nichts zu trinken …

Nico blinzelte, als sich ein Glas Wasser auf seinem Nachttisch materialisierte.

»Alter, Rhodes«, murmelte er.

»Das habe ich gehört«, kam ihre Stimme vom Flur.

Doch da war Nico schon auf dem Weg in einen traumlosen Schlaf.