Reina

Ü ber die Weihnachtsfeiertage bekamen sie Urlaub und durften nach Hause fahren, so sie denn wollten. Reina wollte nicht.

»Sollte nicht irgendjemand hierbleiben und die Schutzzauber im Auge behalten?«, fragte sie Dalton in einer ruhigen Minute.

»Atlas und ich werden hier sein«, antwortete er. »Es ist ja nur ein Wochenende.«

»Ich feiere kein Weihnachten.« Sie fand diese ganze Angelegenheit ziemlich lästig.

»Das tun die wenigsten Medäer«, räumte er ein, »aber die Alexandrinische Gesellschaft hält ihre jährlichen Zusammenkünfte während der nichtmagischen Feiertage hier ab.«

Reina runzelte die Stirn. »Wir sind nicht zu den Versammlungen der Gesellschaft eingeladen?«

»Sie sind potenzielle Auserwählte, keine Mitglieder.«

»Aber wir wohnen in diesem Haus.«

»Ja, und einer oder eine von Ihnen«, sagte Dalton ruhig, »wird nach Ablauf des Jahres nicht mehr dabei sein. Daher: Nein, Sie sind nicht eingeladen.«

Die Vorstellung, nach Hause zu fahren – »zu Hause« war ein ebenso inhaltsleerer Begriff wie »Familie« und »ausreichend Schlaf« –, schien Reina völlig absurd. Geradezu grauenhaft. Derzeit steckte Reina mitten in einem spannenden Manuskript, das sie bei Parisa entdeckt hatte – eine medäische Abhandlung über die Mystik der Träume von Ibn Sirin, die Reinas Neugierde auf das Konzept der Reiche des Unterbewusstseins geweckt hatte. Nico hatte ebenfalls ein gewisses Interesse an der Handschrift gezeigt, was Reina einigermaßen bemerkenswert fand. Genau wie bei den Runen, um deren Übersetzung er sie gebeten hatte, war ihr schleierhaft, wofür er ein Buch über Träume lesen wollte; er interessierte sich weder für historische Psychologie noch für sonst irgendetwas, das er nicht in ein physikalisches Wunder verwandeln konnte (und Nico wurde ziemlich bockig, wenn es ihm einmal nicht erlaubt war, die Welt in grenzenloses Erstaunen zu versetzen). Dennoch war es schön, das Ganze mit jemandem besprechen zu können. Die anderen behielten ihre Recherchethemen meist für sich und hüteten ihre Theorien wie kostbare Geheimnisse.

Nico war ihr gegenüber generell offener als die anderen. Er lud sie sogar ein, ihn in den Winterferien nach New York zu begleiten. »Max wirst du hassen«, erzählte er fröhlich während des Trainings. Anscheinend sprach er über einen seiner Mitbewohner. »Man will ihm permanent an die Gurgel, und fünf Minuten nachdem man das Haus verlassen hat, merkt man, dass man ihn eigentlich liebt. Gideon ist das komplette Gegenteil«, fügte er hinzu. »Erst ist er der tollste Typ, dem du je begegnet bist, und dann fällt dir auf, dass er sich deinen Lieblingspulli unter den Nagel gerissen hat.«

Reina täuschte eine harte Rechte an, die Nico schon von weitem kommen sah. Er glitt nach hinten, die eine Hand schützend vor der Wange, die andere ließ er mit derselben unerträglichen Arroganz sinken, mit der sein Lächeln aufzuckte. Dann winkte er sie heran, als wolle er sagen: Na komm, versuch’s doch noch mal.

Die Vorstellung, die Wohnung mit lauter Kerlen Anfang zwanzig zu teilen, verursachte in Reina ein unangenehmes Kribbeln. »Nein danke.«

Nico war nicht der Typ, der eine Absage krummnahm. »Wie du meinst.« Er zuckte mit den Schultern und wich gerade einem ihrer Seitwärtshaken aus, als Reina aus den Augenwinkeln sah, wie Libby mit einem missbilligenden Zug um die Lippen zu ihnen herüberblickte. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihrem Freund, sagte sie jedenfalls. Reina glaubte ihr nicht recht. Libbys Freund (keiner aus der Runde konnte sich seinen Namen merken, oder vielleicht hatte Libby ihn einfach nie genannt) schien für seine Anrufe immer höchst unpassende Zeitpunkte zu wählen, so dass Libby schon beim Blick auf ihr Handydisplay genervt aussah. Auf Nicos Triezen hin leugnete sie ihren Unmut natürlich vehement, doch ganz offensichtlich bestand Libbys pawlowscher Reflex, wann immer das Gespräch auf ihren Freund kam, in einer mehr schlecht als recht unterdrückten Grimasse der Unlust.

Die meisten der anderen sahen ihrem Kurzurlaub ebenso widerwillig entgegen wie Reina. Tristan schien es vor der Abfahrt regelrecht zu grauen, wahrscheinlich weil er eine ganze Reihe von Brücken hinter sich abgerissen hatte, um überhaupt hierherzukommen. Parisa, hochnäsig wie immer, war sauer, dass sie in diesem Haus vorübergehend entthront wurde. Callum scherte sich wie üblich um gar nichts. Einzig und allein Nico schien sich ehrlich auf sein Zuhause zu freuen. Andererseits war er so dermaßen anpassungsfähig, dass er wohl überall für eine gewisse Zeit zurechtkam.

Die letzten Monate waren relativ friedlich verlaufen. Sie hatten sich alle irgendwie miteinander eingerichtet, wodurch Reina die anstehende Unterbrechung der halbwegs eingespielten Abläufe besonders ungünstig vorkam. Wie eine Störung. Sicher, Freunde waren sie nicht unbedingt, aber zumindest waren sie so weit aufgetaut, dass sie ohne ständige Anspannung koexistieren konnten. Timing ist alles, dachte Reina, und die Zimmerpflanzen hielten mit ihrer Trauer über Reinas kommende Abreise nicht hinterm Berg.

Am Ende beschloss Reina, einfach in London zu bleiben.

Sie hatte sich nie über die Grundstücksgrenzen des Herrenhauses hinausgewagt, war also im Prinzip eine Touristin in ihrer eigenen Stadt. Am ersten Tag spazierte sie zum Globe Theatre und durchwanderte den Tower. Am zweiten Tag absolvierte sie einen flotten Streifzug durch den Kyoto Garden (die Bäume erzitterten vor Begeisterung und erzählten raureifwispernd von ihrer Heimat), gefolgt von einem Abstecher zum British Museum.

Sie betrachtete gerade Utamaros Gemälde einer japanischen Kurtisane, als sich jemand hinter ihr räusperte. Verärgert drehte sie sich um.

»Gekauft«, sagte ein südasiatisch aussehender Herr mit schütterem Haar.

»Wie bitte?«, fragte Reina.

»Gekauft«, wiederholte er. »Nicht geraubt.«

Sein Akzent klang nicht astrein englisch; eher wie ein Cocktail verschiedenster Himmelsrichtungen.

»Verzeihung«, setzte er hinzu, »offiziell heißt es wohl ›erworben‹. Die Briten werden wirklich ungern des Diebstahls bezichtigt.«

»Wie die meisten Menschen, nehme ich an«, sagte Reina und hoffte, dass damit das Gespräch beendet war.

Leider ein Irrtum.

»Ein Gutes hat die Sache immerhin«, fuhr der Herr fort. »Hier werden die Schätze der Welt wenigstens ausgestellt, nicht irgendwo vergraben und versteckt.«

Reina nickte unbestimmt und wandte sich zum Gehen, doch der Herr tat es ihr gleich und schritt neben ihr her.

»Alle zehn Jahre verschwinden sechs der vielversprechendsten Medäer und Medäerinnen der Welt«, bemerkte er, und Reina kniff die Lippen zusammen. »Die meisten tauchen zwei Jahre später in machtvollen, privilegierten Positionen wieder auf. Können Sie sich das vielleicht erklären?«

»Was wollen Sie?«, fragte Reina ungeduldig. Falls das unhöflich wirkte, war es ihr egal. Auf Etikette legte sie in diesem Moment keinen Wert.

»Eigentlich sind wir davon ausgegangen, Sie in Tokyo vorzufinden«, sagte der Mann, als hätte er ihre Frage nicht gehört. »Wir wären ja schon früher auf Sie zugekommen, aber Sie sind gar nicht so einfach aufzuspüren. Bei einer Familie wie der Ihrigen …«

»Ich habe keinen Kontakt zu meiner Familie.« Sie wollten Reina nicht. Reina wollte sie nicht. Reihenfolge egal. »Und ich möchte nicht belästigt werden.«

»Miss Mori, wenn Sie mir nur einen kleinen Augenblick Ihrer Zeit schenken …«

»Ganz offensichtlich wissen Sie, wer ich bin«, sagte Reina. »Sollten Sie dann nicht auch wissen, dass ich bisher jedes einzelne Angebot abgelehnt habe? Wovon immer Sie da phantasieren, ich habe nicht zugesagt. Und was immer Sie mir anbieten wollen, lehne ich ebenfalls ab.«

»Vermutlich fühlen Sie sich zu Loyalität verpflichtet«, sagte der Mann. »Für eine Wissenschaftlerin wie Sie ist der Zugang zu den alexandrinischen Aufzeichnungen bestimmt von unschätzbarem Wert.«

Reina erstarrte. Atlas hatte zugegeben, dass die Alexandrinische Gesellschaft unter gewissen Gruppierungen bekannt war. Dennoch missfiel es ihr gründlich, dass der Ort, der ihr so viel bedeutete, mit solch ironischer Geringschätzung bedacht wurde.

»Was nützt das beste Archiv«, drängte der Mann, dem ihr Gesichtsausdruck nicht entgangen war, »wenn nur ein winziger Prozentsatz der magischen Weltbevölkerung Erkenntnisse daraus gewinnen kann? Die Artefakte in diesem Museum werden immerhin der gesamten nichtmagischen Welt dargeboten.«

»Wissen muss gehütet werden«, sagte Reina abweisend und wollte weitergehen.

Er hielt sie zurück. »Es gibt bessere Wege, Wissen zu hüten, als es zu verstecken.«

In einem Paralleluniversum hätte sie ihm vielleicht zugestimmt. In diesem bedachte sie in lediglich mit einem knappen Seitenblick. »Wer sind Sie?«

»Die Frage ist nicht, wer ich bin, sondern wofür ich stehe.«

»Und das wäre?«

»Informationsfreiheit. Gleichberechtigung. Vielfalt. Neue Perspektiven.«

»Und was erhoffen Sie sich von mir?«

»Die Alexandrinische Gesellschaft basiert auf archaischen Klassenunterschieden«, sagte der Mann. »Nur die bestausgebildeten Medäer gelangen überhaupt hinein, und ihr Archiv zementiert lediglich ein elitäres System ohne jede Kontrollinstanz. Alle Schätze dieser Welt unter einem Dach versammelt – und eine einzige Organisation beaufsichtigt deren Nutzung?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie überhaupt sprechen.«

»Richtig, Sie sind ja noch kein Mitglied«, stimmte der Mann ihr mit leiser Stimme zu. »Noch haben Sie die Gelegenheit, sich anders zu entscheiden. Noch sind Sie weder an die Regeln der Gesellschaft noch an ihre Geheimnisse gebunden.«

»Mal angenommen, Sie lägen auch nur ansatzweise richtig«, entgegnete Reina, »was würden Sie dann von mir wollen?«

»Es geht nicht darum, was wir von Ihnen wollen, Miss Mori, sondern was wir Ihnen bieten.« Der Mann fischte ein Kärtchen aus seiner Innentasche und reichte es ihr. »Sollten Sie sich eines Tages durch Ihre eigenen Entscheidungen in die Enge getrieben fühlen, dürfen Sie uns gern kontaktieren. Wir werden Sie nicht im Stich lassen.«

Auf dem Kärtchen stand Nothazai, was entweder sein Name oder sein Pseudonym sein mochte. Auf der Rückseite prangten die Worte Das Forum. Natürlich eine Anspielung auf das Gegenprinzip zur Alexandrinischen Gesellschaft. Das Forum Romanum war ein Marktplatz der Ideen, der berühmteste Treffpunkt der Welt gewesen, das antike Zentrum von Handel, Politik und Kultur. Kurz: Während sich die Alexandrinische Gesellschaft hinter verschlossenen Türen verbarrikadierte, war das Forum offen für alle.

Doch die Bibliothek von Alexandria hatte sich damals nicht grundlos verstecken müssen.

»Sind Sie wirklich ein Forum«, fragte Reina und betrachtete das Kärtchen, »oder sind Sie einfach nur der Bodensatz?«

Als sie den Kopf hob, ruhte Nothazais Blick auf ihr. »Wozu Sie fähig sind, ist kein Geheimnis, Reina Mori. Zumindest ist gut bekannt, wozu Sie fähig wären. Wir gehören keiner verborgenen Gemeinschaft an, sondern einer globalen Wirtschaft – der ganzen Menschheit. Wir leben in einer geplagten Welt, hin- und hergeworfen zwischen Fortschritt und Rückschritt, und nur wenige haben die Chance, einen echten Wandel zu bewirken. Macht wie die der Alexandriner bringt dieser Welt keinerlei Verbesserung; sie wandert lediglich von einer Hand in die nächste und überlässt jeglichen Nutzen wenigen Auserwählten.«

Das Argument war nicht neu. Wozu Königreiche, wenn es Demokratien gab? Die Antwort der Alexandriner war eindeutig: Weil manche Dinge sich nicht von selbst regulierten.

»Sie sind also der Meinung, dass ich aus meiner jetzigen Position heraus keinen konstruktiven Beitrag leisten kann?«, erkundigte sich Reina.

»Ich bin der Meinung, dass Sie mit vielen Dingen nicht einverstanden sind, Miss Mori«, sagte Nothazai. »Sie verachten Privilegien jedweder Form, selbst Ihre eigenen, und dennoch unternehmen Sie nichts, um das gegenwärtige System abzuschaffen. Eines Tages werden Ihre eigenen Überzeugungen Ihnen klar vor Augen treten, und dann werden Sie zum Handeln gezwungen sein. Welches Anliegen auch immer Sie dann unterstützen, ich hoffe, Sie ziehen unseres in Erwägung.«

»Unterstellen Sie mir eine Art Beihilfe zur Tyrannei?«, fragte Reina. »Oder ist das nur ein ungewollter Nebeneffekt Ihrer Rekrutierungsstrategie?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Hat die Geschichte nicht schon oft genug bewiesen, dass Macht nicht in den Händen einiger Weniger liegen sollte?«

»Auf jeden Tyrannen kommt eine sogenannte freie Gesellschaft, die sich selbst zerstört.« Reina kannte sich in der Geschichte der Antike gut genug aus, um die Folgen von falschem Idealismus zu beurteilen. »Macht sollte nicht in den Händen derer liegen, die sie missbrauchen.«

»Ist nicht die schlimmste Tyrannei diejenige, die sich für selbstlos hält?«

»Gier ist Gier«, sagte Reina schlicht. »Selbst wenn ich Ihre Kritik an der Alexandrinischen Gesellschaft teilen würde, warum sollte ich glauben, dass Sie aus anderen Motiven handeln?«

Nothazai lächelte. »Ich gehe einfach davon aus, Miss Mori, dass Sie in Bezug auf die Gesellschaft bald Ihre Meinung ändern, und dann sollen Sie wissen, dass Sie nicht allein sind. Brauchen Sie jemals einen Verbündeten, so haben Sie einen.« Er verbeugte sich tief.

Diese Situation kam ihr vage bekannt vor.

»Sind Sie eine Art Kurator?«, fragte sie und dachte an Atlas Blakelys Visitenkarte. Seltsamerweise fiel ihr ausgerechnet jetzt ein, was Atlas über die Person gesagt hatte, dem ihr Platz zugefallen wäre – ein Reisender, was auch immer das heißen mochte.

Bestand das Forum lediglich aus ausrangierten Kandidaten der Geheimgesellschaft?

»Nein, ich spiele keine wichtige Rolle. Das Forum kuratiert sich selbst.« Nothazai hielt inne und trat einen halben Schritt zurück. »Übrigens«, fügte er leise hinzu, »vielleicht wissen Sie das schon: Die Millionärin Sato hat gerade eine außerordentliche Wahl des Tokyoter Stadtparlaments gewonnen und rückt damit auf den Posten des bisherigen Ratsvorsitzenden.«

Aiyas Name fiel für Reina überraschend, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Was geht mich Aiya Sato an?«

»Oh, vermutlich gar nichts. Aber interessant ist das schon – immerhin war sie diejenige, die die korrupten Machenschaften des amtierenden Vorsitzenden aufgedeckt hat. Als besäße sie Informationen, über die selbst die Regierung nicht verfügt. Der Mann streitet natürlich alles ab, aber wem soll man nun glauben? Abgesehen von Satos eigenen Unterlagen gibt es keinerlei Beweise, also werden wir die Wahrheit vermutlich nie erfahren.«

Aiyas Bestellung im Lesesaal blitzte vor Reinas geistigem Auge auf: ein Buch ohne Titel. Reina blinzelte das Bild schnell beiseite, um ihre Gedanken möglichst zu verschleiern. Selbst wenn dieser Mann kein so begnadeter Telepath wie Parisa war, gab es genug andere Methoden, in den Köpfen anderer Leute herumzuschnüffeln.

»Mordanschläge«, zählte Nothazai auf. »Die Entwicklung neuer Technologien, die nichtmagischen Urheberschutz erlangen, aber nie frei zugänglich werden. Neuartige Waffen, die ausschließlich an die Elite verkauft werden. Raumfahrtprogramme, die im Verborgenen für kriegstreibende Nationen entwickelt werden. Biowaffeneinsätze, die nicht geahndet werden; Krankheiten, die die Marginalisierten auslöschen oder in die Armut stürzen.«

»Und die Schuld an alldem geben Sie den Alexandrinern?« Sehr unspezifische Vorwürfe und kaum plausibel zu beweisen.

»Ich gebe die Schuld den Alexandrinern«, bestätigte Nothazai, »denn wenn sie diese Grausamkeiten nicht selbst verursachen, warum versuchen sie sie dann nicht, wenigstens zu verhindern? So oder so profitieren sie davon.«

Irgendwo in den Verwaltungsbüros des Museums stieß ein kleines Farngestrüpp, das kurz vorm Verdursten stand, einen dünnen Klageschrei aus.

»Irgendjemand gewinnt immer«, sagte Reina. »So wie immer jemand verliert.«

Nothazai sah sie enttäuscht an. »Ja, das mag sein. Einen schönen Tag noch.«

Er glitt zurück in den trägen Strom der Museumsbesucher, und Reina stand da und betrachtete seine Visitenkarte.

Seltsamer Zufall, ausgerechnet jetzt. Hatte sie nicht geahnt, dass der Friede, den sie in der Geheimgesellschaft gefunden hatte, gestört würde, sobald sie das Gebäude verließ?

Und während sie so darüber nachdachte, erschien es ihr als ein etwas zu großer Zufall. Dieser sogenannte Nothazai hatte ein verdächtig schmales Zeitfenster gehabt, um sich ihr außerhalb der Schutzzauber der Geheimgesellschaft zu nähern. In nur wenigen Stunden wurde Reina nach ihrem freien Wochenende im Herrenhaus zurückerwartet. Einen so präzisen Zeitraum konnte niemand auf gut Glück abpassen.

War dies womöglich, genau wie der Auftakt, ein Test?

Allein bei der Vorstellung, dass irgendjemand Reinas Initiation in die Gesellschaft verhinderte, ballte sie unwillkürlich die Hand zur Faust und zerknautschte das Kärtchen zu einem unförmigen Ball.

Die anderen konnten mit ihren Kräften anstellen, was immer sie wollten. Reina schmiss die Visitenkarte in den Mülleimer, trat in die Kälte hinaus und ignorierte die Keimlinge, die eifrig zwischen den Platten im Bürgersteig sprossen. Dass Reina der Alexandrinischen Gesellschaft den Rücken kehren sollte, um die Welt zu retten, war eine absurd lächerliche Forderung. Allein wenn sie über ihr Talent nachdachte. Würde das Forum nicht als Allererstes darauf bestehen, dass sie ihre komplette Selbstbestimmung aufgab und dafür einen Planeten ernährte, der jenseits aller Verantwortung übervölkert war? Manche Dinge waren einfach zu viel verlangt, und Reina hatte sich schon ihr ganzes Leben lang mit den Forderungen anderer Leute herumschlagen müssen. Auch und vor allem von jenen, die Reina gar nicht hatten haben wollen.

Je nach Sichtweise war Persephone entweder entführt worden oder abgehauen, um nicht von Demeter benutzt zu werden. So oder so war sie hernach eine Königin gewesen. Das Forum, wer immer genau dahintersteckte, irrte sich gründlich, wenn es glaubte, Reina besäße keinerlei Prinzipien. Ihre Prinzipien waren klar und eindeutig: Sie würde nicht sinnlos ausbluten.

Wenn diese Welt dachte, sie könnte sich bei Reina bedienen, dann war es eben so. Sie würde sich jedenfalls anstandslos bei der Welt bedienen.