Nico

N ico entschied sich für eine gerade Rechte und wich einem Haken aus, so dass Reina mit ihrer anderen Faust leichtes Spiel hatte. Er fluchte auf feinstem Spanisch und baute ein paar Schimpfwörter aus Nova Scotia ein.

(Gideon hatte ihm einmal einen Fluch auf Nixisch beigebracht. Die Sprache war eine Mischung aus Dänisch, Isländisch und etwas, das Nico Inuit zu sein schien. Doch Gideon hatte ihn gewarnt, dass man mit der falschen Aussprache ein Wesen herbeiriefe, das halb Geist, halb Sirene sei, also benutzte er das Wort lieber nicht. Max war auch nicht sonderlich hilfreich, wenn es um Schimpfwörter ging, denn er weigerte sich standhaft, etwas anderes als »Fuck« zu benutzen.)

»Du bist nicht bei der Sache«, bemerkte Reina, wischte sich den Schweiß von der Stirn und beobachtete, wie Nico, leicht benommen, rückwärts in einen prachtvoll blühenden Rosenbusch stolperte.

Es dauerte einen Moment, dann hörte Nicos Auge auf zu tränen.

»Vielleicht wirst du einfach besser«, erwiderte er halbherzig.

»Das auf jeden Fall, aber den Fehler hast trotzdem du gemacht«, stellte Reina fest, feinfühlig wie immer.

»Schon gut.« Nico ließ sich genervt auf den Rasen fallen. »Machen wir besser Schluss.«

Reina blickte das Gras verachtend an (vielleicht hatte es sie beleidigt; sie hatte mal erwähnt, dass einige englische Grassorten überdurchschnittlich arrogant waren), setzte sich dann aber doch steif neben ihn.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Nichts.«

»Schön.«

Diese Begegnung war in beinahe jeder Hinsicht das Gegenteil derjenigen, die vor gar nicht so langer Zeit stattgefunden hatte.

»Du schleichst um mich herum wie Falschgeld«, hatte Parisa Nico aus dem Freskensaal zugerufen, ohne von ihrem Buch aufzublicken, und seelenruhig eine Seite umgeblättert. »Lass das.«

Nico erstarrte im Türrahmen. »Ich schleiche nicht …«

»Telepathin«, erinnerte sie ihn gelangweilt. »Du schleichst nicht nur um mich herum, du schmollst.«

»Ich schmolle nicht!«

(Na gut, vielleicht bestand doch eine gewisse Ähnlichkeit zu seiner Unterhaltung mit Reina.)

»Komm einfach rein und sag mir, was los ist, damit wir das hinter uns lassen können.« Parisa sah endlich von ihrer Lektüre auf, die Nico überrascht als einen X-Men -Comic erkannte. »Was?«, fragte sie ungeduldig und folgte seinem Blick zum Comic. »Professor X ist ein Telepath.«

»D-das weiß ich«, stotterte Nico.

»Du glaubst nicht, dass er auf einem Medäer basiert?«

»Nein, es ist nur … Vergiss es.« Er hielt inne, legte sich unsicher eine Hand in den Nacken und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Also … du bist beschäftigt … ich …«

»Setz dich.« Parisa schob den Stuhl ihr gegenüber mit dem Fuß zurück.

»Okay. Ja. Na gut.« Er ließ sich schwer auf den Sitz fallen.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Parisa. »Kein Grund, nervös zu sein.«

»Ich bin nicht nervös«, sagte Nico schneidend, und sie blickte auf.

Es ist wirklich schrecklich ungerecht, wie schön sie ist, dachte Nico.

»Ich weiß«, sagte sie. »Das ist der Kern meiner Geschichte, wenn du’s noch nicht gemerkt hast.«

Sofort kam Nico wieder aus dem Konzept. »Ich weiß«, sagte er eher zu seinen Füßen als zu ihr. Fühlte Libby sich immer so? Er war normalerweise nicht so ungeschickt und machte sich auch normalerweise keine Gedanken darüber, wie ungeschickt er war. Er hatte viele hübsche Frauen getroffen und auch einige gut aussehende Frauen, die gemein waren. Er hätte auf diese Situation vorbereitet sein sollen.

»Ich bin nicht gemein«, entgegnete Parisa. »Ich bin brüsk. Und bevor du es zum Spaß auf die Sprachbarriere schiebst: Ich kann auf drei Sprachen mühelos jede Konversation bestreiten, also ist das keine Ausrede.«

»Na dann, ein Hoch auf deine linguistische Überlegenheit.«

Parisa blätterte wieder eine Seite um. »Sarkasmus verwendet man nur, wenn man praktisch hirntot ist.«

Bei der Bemerkung über den Tod zuckte Nico zusammen, und Parisa blickte seufzend auf.

»Sag es einfach.« Sie legte den Comic beiseite. »Es bringt mir nichts, wenn du hier rumdruckst, Nicolás. Wenn du emotional wirst, muss ich auch emotional werden, und ich kann gar nicht in Worte fassen, wie wenig Zeit ich für solche …«

»Du bist gestorben «, sagte Nico. »In meinem Kopf. «

Parisa hielt einen Moment lang inne. Möglicherweise warf sie erneut einen Blick in den betreffenden Kopf. Ihm fiel auf, dass sie barfuß war. Sie hatte ihre Füße mit den blütenrosa lackierten Nägeln auf den Stuhl neben seinem gelegt. Er hatte auf keinen Fall genug Geduld für eine telepathische Verteidigung, deswegen machte er sich die Mühe gar nicht. In der Hoffnung, dass dieser Gedanke weniger entblößend war als die anderen, die sie möglicherweise finden würde, konzentrierte er sich ganz auf den Nagellack.

»Kümmere dich nicht um die Parisa in deinem Kopf«, sagte Parisa endlich. »Es gibt sie nicht, Nico. Mich aber schon.«

In der Theorie ein guter Ratschlag, der auf diese Situation aber nicht passte.

»Ich fühle mich irgendwie verantwortlich«, gestand er. »Und das ist …«

»… bescheuert«, ergänzte sie.

»Ich wollte ›möglicherweise unfair‹ sagen«, erwiderte er. »Aber gut. Warum …?« Er hielt inne.

»Warum ich mich für deinen Kopf entschieden habe und nicht für den eines anderen?«, stellte Parisa die Frage an seiner Stelle. »Ich habe dir schon gesagt, warum. Weil du am aufrichtigsten bist.«

»Klingt nach einer Beleidigung.«

»Warum?«

»Klingt, als wäre ich … weiß nicht.« Irgendwie schämte er sich. »Naiv.«

»Was wird das denn jetzt, Macho-Gehabe?«

Nico rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl umher und fixierte wieder ihre Zehen.

»Wenn es dir hilft: Dich will ich am meisten von allen ins Bett kriegen«, sagte sie und weckte die Traumata mehrerer Jahrzehnte, indem sie seinen Blick hielt, während sie sprach. »Ich bin nur selten so selbstlos, dass ich mich von einer besonderen Person fernhalte, und um ehrlich zu sein, ist es noch seltener, dass ich mich zurückhalte. Leider verspüre ich den Drang, dich nicht zugrunde zu richten.«

Er streckte eine Hand aus und ließ den Finger an ihrer Fußsohle entlangwandern – ganz langsam. »Wer sagt denn, dass du mich zugrunde richten würdest?«

»Oh, Nico, von niemandem würde ich mich lieber zugrunde richten lassen als von dir«, sagte sie locker und legte ihre Füße in seinen Schoß, »aber ich kann das nicht zulassen. Du bist ohnehin viel zu offen und gibst viel zu viel von dir selbst. Du würdest mich aus vollem Herzen vögeln«, sagte sie bedauernd, »und der Gefahr kann ich dich nicht aussetzen.«

»Ich kann auch Sex ohne Gefühle haben«, sagte Nico und fragte sich, warum er sich wünschte, dass es wahr wäre. Er nahm ihren Fuß in die Hand, strich bis zum Knöchel hinauf, streichelte ihre Wade, passte seine Hand ihrem Körper an.

»Für dich kann es entweder gut oder aber ohne Gefühle sein«, sagte sie. »Und ich kann das Risiko nicht eingehen, dass es für mich nur eins von beidem ist.«

Sie grub ihre Zehen in seinen Oberschenkel und ließ sich ein wenig tiefer in den Stuhl sinken.

»Was machst du in deinen Träumen?«, fragte sie. »Du sprichst mit jemandem«, fuhr sie fort und trommelte mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. »Manchmal kann ich euch hören.«

»Oh.« Er räusperte sich. »Ich … es ist ein …«

»… ein Geheimnis, und du darfst es niemandem verraten. Nur weiß ich es schon, weshalb das herzlich wenig mit ›verraten‹ zu tun hat. Er heißt Gideon«, sagte sie nüchtern, als ob er eine der Figuren aus dem Comic-Buch wäre. »Du machst dir dauernd Sorgen um ihn. Gideon, Gideon, Gideon … du denkst so oft an ihn, dass ich seinen Namen manchmal schon selber denke.« Sie seufzte, als Nico ihr zierliches Bein unablässig massierte. »Dein Gideon ist ein Reisender, oder? Kein Telepath.« Sie schloss die Augen und atmete langsam aus, als Nicos Finger ihr Knie streiften. »Soweit ich es beurteilen kann, arbeitet er mit Träumen, nicht mit Gedanken.«

»Ah.« Nico unterbrach seine Massage.

Parisa öffnete die Augen und bewegte ihr Bein, so dass es genau zwischen Nicos Beinen zu liegen kam.

»Ah?«, fragte sie.

Es war einer der seltenen Momente, in denen kein kokettes Lächeln um ihre Lippen spielte. Sie wollte ihm keine Antwort entlocken … sondern sie würde ihn zerstören, wenn er nicht antwortete.

Dass Nico sie deswegen noch attraktiver fand, bereitete ihm Sorgen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie beruhigend. »Vielleicht bist du der einzige Mensch, der mich aus den richtigen Gründen mag.«

Er verdrehte die Augen und schob die Hand wieder unter ihren Fuß. »Glaubst du, dass es eine Überschneidung zwischen Träumen und Gedanken gibt?« Eine erwartungsvolle Stille entstand, bis er erklärte: »Ich habe versucht, Nachforschungen anzustellen, aber es ist sinnlos. Ich weiß nicht, wonach ich suche.«

»Was ist er?«, fragte sie. »Gideon, meine ich.«

Seine Finger strichen über ihren Fußrücken. Eine willkommene Ablenkung, durch die er sich weniger schuldig fühlte, während er Gideons Geheimnisse ausplauderte. Doch wenn sie helfen konnte, war es das wohl wert. Er war schon fast ein ganzes Jahr weg und hatte keinerlei Fortschritte gemacht. Ohne Gideon fühlte Nico sich zunehmend schreckhaft, einsam und verzweifelt.

»Theoretisch ein Wesen.«

»Menschhybrid?«

»Also …« Nico biss sich auf die Lippe. »Nein. Halb Wasserwesen, halb Satyr.«

»Oh.« Parisas Lippen zuckten, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Sieht er aus wie ein Mensch? Da wo es drauf ankommt?«

Nico blickte auf. »Findest du das witzig?«

»Ja, ein wenig.« Sie leckte sich über die Lippen und sah dabei wie ein durchtriebenes Mädchen aus. »Ich kann nichts für meine Vorlieben.«

»Er hat einen Schwanz, wenn das deine Frage beantwortet.« Er wandte sich mit finsterer Miene ihrem anderen Fuß zu und zog zur Strafe an ihrem kleinen Zeh. »Nicht, dass ich …« Er zögerte wieder. »Ich meine nur, dass ich schon lange mit ihm zusammenlebe. Da passiert so einiges.«

»Also hast du ihn gesehen?«

Nico blickte abwehrend auf. Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich hab schon viele gesehen«, sagte sie. »Ich verurteile dich nicht.«

»So ist das nicht«, murmelte er.

»Schon wieder dieses Macho-Gehabe.« Sie stupste sein Knie mit ihrer Ferse an. »Sei nicht böse.«

»Bin ich nicht, ich bin …«

»Also kann Gideon in Träumen reisen?«

»Gideon … kann …«, sagte Nico langsam. »Ja. Sorry, ja.«

»Oh«, sagte Parisa und nahm abrupt beide Füße aus seinem Schoß. »Du hast das auch schon gemacht?«

»Ich …« Er spürte, wie er rot anlief. »Das ist eine sehr persönliche Frage.«

»Ach ja?«

Nein.

»Von mir aus. Ja, ich kann das auch.« Nico verzog das Gesicht. »Aber frag mich nicht, wie ich …«

»Wie machst du das?«

Er biss die Zähne zusammen. »Ich hab dir doch schon gesagt, es ist …«

»Beschreib mir mal Gideons Penis«, sagte Parisa, und in dem darauffolgenden Moment der Panik las sie etwas aus seinen Gedanken. »Ah, also verwandelst du dich? Das ist beeindruckend. Mehr als das.« Wieder stupste sie ihn an. »Brillant. Jetzt können wir aber nie ficken.« Scheinbar war sie mit dieser Schlussfolgerung zufrieden. »Ich schlafe nämlich aus Prinzip nicht mit Menschen, deren Magie mächtiger ist als meine.«

»Das kann unmöglich wahr sein«, sagte Nico leicht verzweifelt.

»Ich bin schon sehr magisch«, erwiderte Parisa. »Das Forum muss ganz schön hinter dir her gewesen sein«, fügte sie nachdenklich hinzu, was Nico überhaupt nichts sagte. Er runzelte verwirrt die Stirn, und sie legte erstaunt den Kopf schief. »Hat dich das Forum nicht besucht, als du in New York warst?«

(»He«, hatte Gideon einmal gesagt, als sie sich in den Traumreichen getroffen hatten. »Da versucht jemand, die Schutzzauber der Wohnung zu durchbrechen.« Nico, der wie üblich die Form eines Falken angenommen hatte, sagte nichts, sondern schlug nur kurz mit den Flügeln, um anzudeuten, dass die Person sich ganz gepflegt verpissen konnte. »Alles klar«, sagte Gideon. »Das habe ich mir gedacht.«)

»Na ja«, seufzte Parisa. »Dann vergiss es. Du wolltest etwas über Träume und Gedanken wissen?«

Nico, der bisher immer darauf versessen gewesen war, Gideons Geheimnis zu bewahren, erkannte, dass sich eine Tür geöffnet hatte. Irgendwie hatte er Parisa Kamalis Aufrichtigkeit gewonnen, und diese Gelegenheit wollte er nicht verschwenden.

»Du liest ein Buch«, sagte Nico. »Über Träume. Hat Reina erzählt.«

»Ibn Sirins Buch meinst du?«, fragte Parisa. »Obwohl er Bücher angeblich verabscheut hat, weshalb es vermutlich von einem weniger fähigen Medäer geschrieben worden ist.«

»Ja, ich glaube, das meine ich«, sagte Nico nervös. »Ich habe mich gefragt, ob du …«

»Ich habe eine Theorie«, bestätigte Parisa. Sie hielt inne. Dann: »Wie sehen die Träume aus, wenn du dich darin befindest?«

»Wie eine Landschaft«, sagte Nico. »Sie sind … Man könnte sie Reiche nennen.«

»Wie eine Astralebene?«

»Das kann ich nicht sagen. Die einzige Astralebene, auf der ich je war, war in meinem Kopf, und ich wusste nicht mal, dass ich dort war.« Er schenkte ihr einen vorwurfsvollen Blick.

»Na ja, du erinnerst dich doch zumindest daran, wie sie aussah und sich anfühlte.«

Nico dachte darüber nach. »Zu einhundert Prozent wie die Realität, meinst du?«

»Genau. Unser Unterbewusstsein füllt die Lücken aus. Wenn jemand genauer hinsieht, erkennt er, dass er sich nicht in der Realität befindet. Du besonders. Aber die meisten Menschen sehen nur dann genau hin, wenn sie einen triftigen Grund dafür haben.«

»Dann fühlen sich die Traumreiche genauso an«, sagte er. »Real.«

»Ich vermute, dass Träume eine eigene Astralebene sind«, sagte Parisa. »Mit dem Unterschied, dass sie Fehlzeit haben.«

»Fehl zeit?«

»Ja. Bemerkst du auf deinen Reisen mit Gideon je, dass Zeit vergeht?«, fragte sie, und Nico schüttelte den Kopf. »Wie ist es mit Gideon?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Vielleicht liegst du mit deiner Theorie gar nicht so falsch. Träume könnten eine Schnittstelle zwischen Zeit und Gedanken sein«, überlegte Parisa laut. »Mehrere Studien belegen, dass die Zeit in Träumen anders vergeht und man das sogar berechnen kann. Möglicherweise ähnlich der Zeit, die sich im Raum bewegt.«

Das war eine interessante Theorie. »Also könnte die Zeit in Träumen schneller und langsamer vergehen?«

»Das wäre die logische Schlussfolgerung«, sagte sie und fügte hinzu: »Gideon muss sehr viel Macht haben, um sich so gezielt zwischen den Reichen hin und her bewegen zu können.«

So hatte Nico das noch nie betrachtet, aber wenn er sich nicht gerade verlaufen hatte, spürte Gideon sehr genau, wann er zurückkehren musste. Nico, der immer in Vogelform war, hatte einfach vermutet, dass Gideon eine Art Armbanduhr trug.

»Warum machst du dir solche Sorgen um ihn?«, unterbrach Parisa seine Grübeleien. »Von eurer Freundschaft mal abgesehen.«

Nico öffnete den Mund, zögerte und schloss ihn wieder.

Dann öffnete er ihn erneut. »Er ist sehr … wertvoll.«

Er wollte die Aufträge, die Gideons Mutter regelmäßig für ihren Sohn hatte, nicht im Detail beschreiben. Trotz Eilifs Verbrechen war nicht klar, ob Gideon vor ihr floh oder nicht. Gideon selbst hielt sich für einen Flüchtigen, weshalb Nico seine Geheimnisse bewahrte, doch der Gedanke, dass Gideon auf der Flucht war, hatte ihm nie gefallen. Als Gideon verstanden hatte, worum seine Mutter ihn bat, war er zum Komplizen geworden und hatte versucht, auszusteigen. Er hatte wirklich versucht, es wiedergutzumachen.

Doch schon bald hatte Gideon festgestellt, dass es leichter gesagt als getan war, sich vor seiner Mutter (und ihren Auftraggebern) zu verstecken.

»Ah ja«, murmelte Parisa mehr zu sich selbst. »Seine Fähigkeiten kann man bestimmt gut zu Geld machen. Viele Leute würden sich Dinge im Traum zu eigen machen, wenn sie wüssten, dass das möglich ist.« Sie schaute gedankenverloren vor sich hin. »Wonach genau suchst du im Archiv?«

Es war nicht einfach, die Wahrheit zu sagen, doch sie für sich zu behalten, schien ihm die Sache nicht wert. Wenn ihm jemand helfen konnte – oder zumindest kein Eigeninteresse an seinem Wissen hatte –, dann war das wohl Parisa.

»Nach Informationen darüber, was für ein Lebewesen genau er ist, schätze ich. Welche Kräfte, welche Lebenserwartung er hat. Ob er das erste Wesen seiner Art ist.« Er hielt inne. »So was eben.«

»Er sehnt sich nach anderen, die so sind wie er, nehme ich an?«

»Irgendwie schon.«

»Schade«, sagte sie. »Sehr menschlich von ihm, Gesellschaft zu wollen.«

Einen Augenblick lang saßen sie schweigend da und lauschten dem Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Nico hatte das Gefühl, dass Parisa sich in ihren eigenen Gedanken verloren hatte anstatt in seinen. Interessante Beobachtung. Sie schien um sich selbst zu kreisen, die Energie im Zimmer wand sich in neugierigen Ranken um sie herum. Wenn sie die Gedanken anderer Menschen las, war ihre Energie nach außen gerichtet.

»Du solltest etwas mitnehmen«, sagte sie einen Moment später. »Einen Talisman, den du bei dir trägst.«

Nico sah blinzelnd auf. »Was?«

»Einen Gegenstand, den du bei dir trägst. Den du versteckst. Damit du weißt, wo du bist«, erklärte sie. »Und ob du dich auf einer Astralebene befindest. Dein Freund Gideon sollte auch einen haben.«

»Warum?«

Parisa stand auf und streckte sich ausgiebig. Nico schaute sie verwirrt an.

»Nun ja, du hast das noch nicht begriffen. Aber das, was du in deinem Kopf gesehen hast, wühlt dich einfach nur deswegen so auf, weil dir in dem Moment nicht bewusst war, dass du dich in deinem eigenen Kopf befunden hast.« Sie drehte sich leicht lächelnd zu ihm um. »Ich tue dir einen Gefallen, Nico. Du brauchst einen Talisman. Such dir irgendeinen Gegenstand aus und trage ihn bei dir, dann musst du dich nie fragen, was real ist und was nicht.«

Sie wandte sich zum Gehen, doch Nico sprang auf und griff nach ihrem Arm, um sie aufzuhalten.

»Du glaubst nicht, dass Callum dich wirklich verletzen würde, oder?« In seiner Stimme schwang mehr Dringlichkeit mit, als ihm lieb war. Vor einer Stunde, vor gerade mal fünf Minuten hätte er nicht gewagt, sich so verletzlich zu zeigen, aber jetzt musste er es wissen. »Im echten Leben, meine ich. In der Wirklichkeit. Was auch immer das heißt.«

Ihre Augen verengten sich nachdenklich.

»Das ist egal«, sagte sie und wandte sich wieder ab, doch Nico hielt sie flehentlich zurück.

»Wie kann das egal sein? Du kannst seine Gedanken lesen, Parisa. Ich nicht.« Er ließ sie los, wich jedoch nicht zurück. »Bitte. Sag mir einfach, was er wirklich ist.«

Als sie ihn ansah, lag einen Augenblick lang eine ganz und gar Parisa-untypische Anspannung auf ihrem Gesicht. Spuren eines Geheimnisses, das bald gelüftet werden würde; eine Wahrheit, die nach draußen drängte. In dem Moment, in dem ihre Blicke sich trafen, hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Doch selbst nach dieser unerwartet freimütigen Unterhaltung erwischte ihre Antwort ihn so eiskalt, dass sie ihn erschütterte.

»Es ist egal, ob Callum mich verletzen will«, sagte sie, »weil ich ihn töten werde, bevor er es schafft.«

Dann hatte Parisa sich zu ihm gelehnt und noch etwas gesagt, das Nico getroffen hatte wie ein Schlag und ihn auch Stunden später noch aus der Bahn warf.

»Was ist denn?«, fragte Reina wieder und holte ihn in die Gegenwart zurück.

Nico zupfte unkonzentriert an einem Dorn herum, der sich in seine Socke gebohrt hatte. Normalerweise machte es Reina nichts aus, zu schweigen, aber offenbar war er zu lange still gewesen. Die Sonne ging unter und näherte sich beständig dem Horizont.

Nico zog an einem Grashalm und riss ihn aus. Er fragte sich, ob Reina jetzt Schreie hörte. Seltsame Vorstellung, dass das Universum eine Stimme hatte, die er nicht hören konnte. Ein weiteres Detail, das er nie wieder vergessen würde. Auch das gehörte zu der glückseligen Unwissenheit, die er hinter sich gelassen hatte.

»Würdest du jemanden für all das hier töten?« Er bereute die Frage, sobald sie ihm über die Lippen gekommen war. Würde sie ihn nach dem Warum fragen? Würde er ihr eine Antwort geben können?

Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Sie dachte nicht eine Sekunde lang nach.

»Ja«, sagte sie und schloss die Augen, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen.