VIII Tod

Libby

»M änner als Konzept sind gecancelt«, sagte Libby zu ihren Knien. Sie saß zusammengesunken auf dem Stuhl neben Nicos Schreibtisch. »Diese Geheimgesellschaft? Garantiert von Männern gegründet. Aufnahme nur nach einem Mord? Die Idee eines Mannes. Todsicher.« Sie schürzte die Lippen. »Schon in der Theorie sind Männer eine Katastrophe. Als Konzept lehne ich sie kategorisch ab.«

»Wenn du das doch nur ernst meinen würdest«, sagte Nico sarkastisch, der kaum zuhörte. Er hatte sich die Augen verbunden und warf Messer in Richtung des Kleiderschranks. Den Grund dafür würde Libby nie verstehen. Irgendwas von wegen »Vorbereitung auf einen möglichen Angriff«, woraufhin sie ihn daran erinnert hatte, dass sie schon vorbereitet waren, aber weit und breit kein Angriff in Sicht kam. Viel eher war Nico angespannt, weil er die Situation nicht im Griff hatte und deswegen auf irgendetwas einstechen wollte. Auch wenn das vielleicht verständlich war, hatte Libby gerade Mitgefühl mit Gideon, der in ihren vier Jahren an der NYUMA immer wie gerädert ausgesehen hatte. Er musste alle Hände voll mit seinem Mitbewohner zu tun gehabt haben, der sich von nichts aufhalten ließ – ungeachtet der Konsequenzen.

Nico streckte eine Hand aus und erfühlte die Kraftfelder im Raum.

»Lass sie schweben«, sagte er. »Die Lampe.«

»Du machst die Lampe nicht kaputt, Varona.«

»Ich repariere sie auch wieder.«

»Ach ja?«

»Ja «, sagte er ungeduldig.

Libby verdrehte die Augen und konzentrierte sich dann auf die Schwerkraft der Lampe. Wieder einmal wünschte sie sich, die Welt mit Tristans Augen sehen zu können. Sie hatte sich nie gefragt, ob sie ihren Augen trauen konnte, aber mittlerweile zweifelte sie ununterbrochen. Jetzt spürte sie die unsichtbaren Wellen von Nicos Magie. Er dehnte seine Reichweite aus, entfaltete sie. Er wusste, wo die Dinge im Raum waren, indem er seine Magie ausstreckte, das, was ihm und Libby leer schien, mit etwas füllte.

Relativität. In Wahrheit war die Leere voller kleiner Teile, kleiner Partikel des Stoffes, aus dem das Nichts bestand. Tristan konnte sie sehen. Libby nicht.

Sie verabscheute es.

»Lass das«, sagte Nico. »Du veränderst die Luft schon wieder.«

»Das tue ich nicht«, erwiderte Libby. »Das kann ich gar nicht.«

Tristan wahrscheinlich schon.

»Lass das«, wiederholte Nico, und die Lampe zerbrach. Das Messer lag immer noch in seiner Hand.

»Glückwunsch«, murmelte Libby, und Nico riss sich aufgebracht die Augenbinde herunter.

»Was ist mit Fowler passiert?«

Sie versteifte sich. »Warum muss es immer um Ezra gehen?«

Nico zuckte mit den Schultern. »Ich kann ihn nicht ausstehen.«

»Der Arme «, spottete Libby. »Was soll er nur ohne deine Wertschätzung tun?«

»Rhodes. Verdammt noch mal.« Nico warf das Messer beiseite und bedeutete ihr, aufzustehen. »Komm schon. Wie das Spiel an der NYUMA

»Nein«, sagte sie. »Ich will nicht. Such dir ein anderes Spielzeug.«

»Was ist passiert?«, fragte er wieder.

Nichts. »Wir haben Schluss gemacht.«

»Okay. Und …?«

»Das war’s.« Wie gesagt. Es war rein gar nichts passiert.

»Boah«, machte Nico. Er hatte das einzigartige Talent, mit nur einem Geräusch die theatralische Unendlichkeit des Leids auszudrücken.

»Was willst du hören, Varona? Dass du recht hattest?«

»Das will ich immer hören.«

Das hätte sie kommen sehen sollen.

Libby stand auf. Ihre Unruhe machte es ihr unmöglich, länger sitzen zu bleiben (und es war besonders wichtig, dass sie aus eigenem Antrieb aufstand, und nicht, weil Nico es verlangte).

»Du hattest nicht recht«, berichtigte sie ihn schneidend, obwohl es vermutlich völlig egal war, was sie sagte. Nico de Varona lebte in seiner eigenen Realität, die vermutlich nicht einmal Tristan verstand. »Ezra ist nicht … unscheinbar. Oder wie auch immer du ihn immer genannt hast.«

»Er ist durchschnittlich«, sagte Nico brüsk. »Du nicht.«

»Er ist nicht durch…«

Sie brach ab, als sie erkannte, dass sie sich auf den falschen Aspekt konzentrierte.

»Aus deinem Mund klingt das fast wie ein Kompliment«, murmelte sie, und Nico setzte eine Miene auf, die zu gleichen Teilen Halt die Klappe und Ich weiß, was ich gesagt habe ausdrückte.

»Dein Problem ist, Rhodes, dass du dir einfach nicht eingestehst, was du drauf hast«, sagte er. »Wenn du dich beweisen willst – schön. Aber es ist wirklich kein Kampf gegen Windmühlen, auch wenn du das immer glaubst. Du hast schon gewonnen. Und irgendwie begreifst du nicht, wie bescheuert es ist, dir jemanden auszusuchen, der …« Er hielt inne, suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Der dich langweiliger macht.«

»Gibst du endlich zu, dass ich besser bin als du?«

»Du bist nicht besser als ich«, erwiderte Nico beiläufig. »Aber du suchst nach den falschen Sachen. Du suchst nach … keine Ahnung, nach den anderen Teilen.«

Sie verzog das Gesicht. »Den anderen Teilen von was?«

»Woher soll ich das wissen? Von dir selbst vielleicht.« Er schnaubte leise. »Wie auch immer, es gibt keine anderen Teile. Es gibt nur dich.«

»Was soll das denn nun wieder heißen?«

»Entweder bist du vollständig oder nicht. Hör mit dem Suchen auf. Es ist doch schon alles da.« Er schnappte ungeduldig nach ihrer Hand und drückte sie fest gegen ihre Brust. Sie funkelte ihn an und trat brüskiert einen Schritt zurück, so dass sie aus seiner Reichweite kam. »Entweder reicht dir das, oder dir wird es nie reichen.«

»Was wird das, eine Predigt?«

»Du bist ein verdammter Brandherd, Rhodes«, sagte er. »Also hör endlich auf, dich für den Schaden zu entschuldigen, und lass den Scheiß einfach brennen.«

Ein Teil von ihr war über die Maßen genervt. Der andere Teil wollte Nico de Varona nicht in die Falle gehen, indem sie ihn beim Wort nahm und die Einrichtung in Flammen aufgehen ließ.

Weil ihr nichts einfiel, blickte sie zur kaputten Lampe, setzte sie wieder zusammen und stellte sie auf den Schreibtisch zurück.

Zur Antwort verwandelte Nico den Schreibtisch in eine Kiste.

Es schockierte sie, wann immer er unangekündigt Magie wirkte. Sie war grenzenlos, und Libby konnte die Details seiner Arbeit nie erkennen. Wenn Nico der Puppenspieler war und die Bestandteile dieser Welt die Fäden, so konnte sie sie nicht ausmachen. Erst waren die Dinge das eine, dann waren sie plötzlich etwas ganz anderes. Einfach so. Sie sah nie, wie es passierte, selbst wenn sie nicht blinzelte. Erst stand dort ein Schreibtisch, dann eine Kiste, in einem Augenblick konnte die Lampe auf einem Stuhl oder aber in einem Sumpf stehen. Vermutlich wusste nicht einmal der Schreibtisch, was er einst gewesen war.

»Und was bist du dann?«, fragte sie. »Wenn ich ein Brandherd bin?«

»Ist das wichtig?«

»Vielleicht.« Sie verwandelte die Kiste wieder in den Schreibtisch zurück.

»Komisch«, sagte Nico. »Ich hätte nie zugesagt, hier mitzumachen, wenn sie nicht uns beide gefragt hätten.«

»Warum ist das komisch?«

»Weil ich wegen diesem Ort zum Mörder geworden bin«, sagte er. »Zum Mittäter«, berichtigte er sich nach kurzer Überlegung. »Oder bald einer sein werde.«

»Jetzt komm zu dem Teil, der komisch ist«, sagte Libby trocken.

»Na ja, jetzt bin ich gezeichnet, oder? Ich stecke in einer Schublade. ›Tötet für …‹« Nico rief das Messer wieder in seine Hand, doch so nahm Libby es nicht wahr. In einem Moment lag das Messer unbeachtet auf dem Boden, im nächsten hielt er es wieder in der Hand. »Wäre ich nicht hergekommen, hätte ich das Problem nicht. Und ich wäre nicht hergekommen, wenn du nicht zugesagt hättest.«

Sie fragte sich, ob er ihr nun die Schuld gab. Er klang nicht danach, aber der Gedanke war nicht abwegig. »Du wolltest doch so oder so herkommen, weißt du noch?«

»Ja, aber nur, weil Atlas dich gefragt hat.«

Er betrachtete die Klinge des Messers, das er immer wieder in seiner Hand drehte.

»Unzertrennlich«, sagte er weder zu ihr noch zu sich selbst.

»Was?«

»Unzertrennlich«, wiederholte er lauter und blickte zu ihr auf. »Das ist eine von diesen Wenn-Dann-Überlegungen, oder? Wir sind uns begegnet, also können wir uns jetzt nicht mehr voneinander trennen. Wir müssen einfach weiterspielen und … wie heißt das noch mal? Dieses … espejo . So heißt es. Das Spiegelspiel.«

»Spiegelspiel?«

»Ja. Du machst etwas, und ich mache es dir nach. Wie ein Spiegelbild.«

»Aber wer spiegelt wen?«, fragte Libby.

»Egal.«

»Nimmst du mir das übel?«

Er senkte den Blick auf das Messer, bevor er sie ansah.

»Ganz offensichtlich gehe ich dafür über Leichen«, sagte er. »Also nein, ich mag es sogar.«

Libby rief das Messer aus seiner Hand zu sich. Es fühlte sich an, als würde sie es aus ihrer eigenen nehmen.

»Geht mir auch so«, sagte sie leise.

Sie legte das Messer auf den Schreibtisch, der eben noch eine Kiste gewesen war.

»Wir könnten aufhören«, schlug sie vor. »Das Spiel einfach nicht mehr spielen.«

»Wo aufhören? Hier? Nein.« Er trommelte sich unruhig auf dem Oberschenkel herum. »Wir sind nicht weit genug.«

»Aber was, wenn wir schon zu weit gegangen sind?«

»Sind wir«, stimmte er zu. »Wir können nicht mehr aufhören.«

»Paradox«, bemerkte Libby, und Nico verzog zustimmend den Mund.

»Oder? Der Tag, an dem du kein Feuer bist«, sagte er, »ist der Tag, an dem die Erde für mich aufhört, sich zu drehen.«

Sie standen noch einige Sekunden länger so da, bis Libby sich das Messer vom Tisch schnappte und die Klinge im Holz versenkte. Das Holz wuchs daran empor und fixierte es an Ort und Stelle.

»Wir haben Schluss gemacht«, sagte sie. »Ezra und ich. Es ist vorbei. Ende der Geschichte.«

»Tragisch«, sagte Nico süffisant. »Wirklich traurig.«

»Du könntest immerhin so tun, als würde es dir leidtun.«

»Könnte ich«, sagte er. »Tu ich aber nicht.«

Sie verdrehte die Augen, stand auf und ließ den Stuhl absichtlich mitten im Raum stehen. Sein genervtes Schnauben überhörte sie, als sie durch die offene Tür verschwand. Vor Tristans Zimmer blieb sie stehen. Wie es ihm unten wohl erging? Wenn sie ehrlich war, rechnete sie nicht damit, dass es funktionieren würde. Sie hatten Tristan ausgewählt, um Callum zu töten, weil es ihm am schwersten fallen würde. Das bedeutete aber auch, dass das Vorhaben nicht nur ein großes Opfer, sondern auch ein ziemliches Glücksspiel war.

Sie dachte an Tristans Mund, an seine Augen. Wie es sich angefühlt hatte, mit seiner ruhigen Hand auf ihrer Brust die Zeit anzuhalten.

Machst du dir solche Sorgen um deine Seele, Rhodes ?

Schade, dass sie Risiken so weit wie möglich aus dem Weg ging.

Libby schlüpfte in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Sie überlegte, ob sie eines der Bücher von ihrem Nachttisch lesen sollte, gab jedoch auf, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Nico heckte vermutlich irgendeinen Unfug aus und überbrückte die Wartezeit mit einer sinnlosen Beschäftigung, aber für Libby gab es keine Ablenkungen. Ihre Gedanken sprangen von Tristan zu Callum und wieder zu Tristan, dann dachte sie kurz und unglücklich an Ezra.

Das war’s also? Du machst Schluss?

Hauptsächlich hatte er erschöpft geklungen.

Das war’s , bestätigte sie. Ich mache Schluss.

Eigentlich hatte sich zwischen ihnen nicht viel verändert. Libby war nur nicht mehr der Mensch, der sie einst gewesen war. Sie hatte sich so grundlegend verändert, dass sie nicht mehr wusste, wie sie in dieser Beziehung gelandet war, in diesem Leben, in diesem Körper, der immer noch unverändert aussah und sich auch so anfühlte, der aber doch gänzlich anders war.

Sie fühlte sich nicht einmal schuldig, weil sie mit Tristan und Parisa geschlafen hatte. Wer auch immer Libby an dem Abend gewesen war – auch diese Person war sie nicht mehr. Das war eine Übergangslibby gewesen, die nach einem Bruch gesucht hatte, nach etwas, das sie aufrütteln würde. Etwas, um ganz neu anzufangen. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Sie hatte es gefunden, hatte es hinter sich gebracht, dann hinter sich gelassen.

Wer auch immer Libby jetzt war, ihr standen alle Möglichkeiten offen. Und gleichzeitig stand sie ihrem eigenen Talent hilflos gegenüber. Konnte sie wieder zu der Person werden, die sie gewesen war, bevor sie herausgefunden hatte, dass sie den Lauf des Universums verändern konnte? Dass sie ihn konstruieren, kontrollieren, formen konnte, wie sie wollte? Ehrgeiz war ein hässliches Wort, es war befleckt. Doch Ehrgeiz hatte sie. Er nahm sie gefangen. Im Konzept von Schicksal steckte so viel Egoismus, und doch musste sie sich daran klammern. Sie musste daran glauben, dass sie für Außergewöhnliches geschaffen war. Dass sie es verdiente, gerettet zu werden, wenn sie ihr Schicksal nur erfüllte. Auch wenn es sich gerade gar nicht so anfühlte.

Das Archiv bearbeitete ihre Anfragen nach wie vor unzureichend. Besonders wenig spuckte es zum Thema der Langlebigkeit aus. Die Frage, ob ihre Schwester hätte überleben können, wenn Libby besser oder talentierter gewesen wäre, blieb unbeantwortet. Es war, als ob jedes Regal, jede Schriftrolle des Archivs sie fürchtete oder abstoßend fand. Bei dem Gedanken, dass sie Wissen anforderte, das sie nicht haben sollte, spürte sie, wie dem Gebäude übel wurde.

Doch sie konnte auch spüren, wie die Entschlossenheit des Archivs nachließ. Bald würde es unter dem Gewicht ihrer Anfragen nachgeben. Es wartete auf etwas oder auf jemanden. Wartete darauf, wer Libby Rhodes als Nächstes sein würde. Der Energieerhaltungssatz bedeutete, dass Dutzenden Menschen das Leben verwehrt geblieben war, weil Libby geboren worden war. Vielleicht war ihre Schwester gestorben, weil Libby am Leben war. Vielleicht, weil Nico am Leben war. Vielleicht verfügte die Welt nur über eine begrenzte Menge Energie, und je mehr davon Libby ihr entzog, desto weniger blieb für die anderen.

Sollte sie ihren Anteil daran etwa verkommen lassen?

Sie war hin- und hergerissen. Die eine Hälfte war voller Fragen, die andere voller Antworten, und alles wurde von ihren enormen Schuldgefühlen überschattet. Es war falsch, zu töten. Unmoralisch. Der Tod war unnatürlich, auch wenn er die einzige Konsequenz des Lebens war, die für alle gleich aussah. Libby versuchte verzweifelt, sich mit Logik zu beruhigen, fühlte sich davon angezogen wie Bienen vom Nektar.

Was würde werden, wenn Callum tot war? Es war ein komisches Gefühl, dass die Schutzzauber um das Haus das Einzige waren, was von den Kandidaten der letzten Jahrzehnte übrig geblieben war. Wenn man so wollte, waren sie Geister. Ein Sechstel der Magie des Hauses gehörte den Menschen, die für seinen Erhalt hatten sterben müssen.

Würde etwas von Callum bleiben, wenn er tot war?

Die anderen gingen davon aus, dass Libby und Nico die Schutzzauber hochgezogen hatten, doch Libby kannte die dunkle Wahrheit: Es war Callum, der den Großteil dazu beigetragen hatte. Libby und Nico hatten den kugelförmigen Schild erschaffen, doch Callum hatte das Vakuum hinzugefügt. Eine Isolierschicht, in der alle menschlichen Gefühle aussetzten.

Was ersetzte Gefühle, wenn man keine haben konnte? Bisher war Libby davon ausgegangen, dass das Fehlen von etwas nie so effektiv wie die Präsenz war. Sie hatte vorgeschlagen, das Vakuum irgendwie aufzufüllen, eine Falle oder etwas dergleichen zu installieren. Callum hätte den potenziellen Einbrechern eine Art albtraumhaftes Erlebnis bereiten können, doch er hatte abgelehnt. Im Nichts gefangen zu sein bedeutete das Fehlen jeglicher Motivation, jeglicher Wünsche, hatte er gesagt. Im Endeffekt war man gelähmt. Man wollte weder leben noch sterben, sondern einfach nicht existieren. Und dagegen konnte man sich unmöglich wehren.

Von plötzlicher Sorge gepackt, setzte Libby sich auf. Tristan war auf keinen Fall machtlos, aber vielleicht hatte Atlas seine Gründe gehabt, Callum vorzuschlagen. Callums Macht war immer unklar, undefinierbar gewesen, doch ihre Auswirkungen standen außer Frage. Er hatte einen Teil von Parisas Geist gepackt und ihm solche Schmerzen zugefügt, dass sie sich lieber selbst zerstört hatte, als mit ihren eigenen Erfahrungen weiterzuleben.

Mit einem Mal begriff Libby, welches Risiko sie eingegangen waren, indem sie Tristan und Callum allein gelassen hatten. Es ging um Leben und Tod, und nur einer würde siegen. Wenn Tristan versagte, würde Callum es wissen. Es gab keine Möglichkeit, umzukehren oder das Kommende aufzuhalten. Callum würde wissen, dass sie ihn tot sehen wollten, dass er aus ihrer Sicht verzichtbar war. Es würde Konsequenzen geben. Die beiden standen sich unten gegenüber wie Gladiatoren in einem Kampf, den einer von ihnen mit dem Leben bezahlen musste.

Sie hätte Tristan nicht allein lassen dürfen.

Sie sprang vom Bett auf, rannte zur Tür und wollte gerade die Hand nach der Klinke ausstrecken, als sich etwas im Raum veränderte. Die Luft kippte. Die Moleküle richteten sich neu aus, wurden kühler, bewegten sich langsamer. Das Zimmer fühlte sich fremd an, als ob es sie nicht mehr erkannte und sie wie einen bösartigen Tumor herausschneiden wollte.

Hatte es Angst?

Nein, es hatte keine Angst, doch Nico hatte während ihrer Unterhaltung recht gehabt: Die Luft selbst war anders, und es war nicht Libby gewesen, die sie verändert hatte.

Sie wirbelte zur Quelle der Veränderung herum – oder versuchte es zumindest. Ihr Herz setzte erneut einen Schlag aus, als käme die Zeit zum Stillstand, und dann nistete sich ein klaustrophobisches Gefühl in ihrer Brust ein: Sie war es, die nicht hierhergehörte. Die Wände schienen näher zu kommen, als ob sie wie Weltraummüll zusammengepresst werden sollte. Das Haus wusste, dass sie nicht hierher gehörte. Sie konnte es nicht erklären, spürte nur, dass ihr die gewohnte Freiheit genommen worden war. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwer.

Wenn sie es früher bemerkt hätte, hätte sie es aufhalten können. Wenn sie wüsste, wo sich die Quelle jetzt befand, könnte sie ihr Einhalt gebieten. Das war das Problem – diese Schwäche, von der sie vor ihrem Zusammentreffen mit Tristan nichts gewusst hatte: Sie konnte alle Macht der Welt haben, genug Macht, um die Menschheit zweimal auszulöschen, aber sie konnte nicht gegen etwas kämpfen, das sie nicht klar sah.

Doch nicht alles um sie herum war leer. In der Ferne erklang inmitten der unendlichen Seltsamkeit etwas Vertrautes.

Weißt du überhaupt, worauf du dich da eingelassen hast?

Ein Arm legte sich um ihre Hüfte, zerrte sie nach hinten. Es dauerte keine Sekunde. Die Zeit raste wieder, die Luft drängte endlich wieder in ihre Lunge, und sie öffnete den Mund, um zu schreien.