Kapitel 1
Das Feuer heulte. Flammen leckten an den Wänden. Dicker Rauch versperrte ihre Sicht. Sunny Rivers spürte, wie die Hitze des Infernos von außen gegen ihre Schutzkleidung drückte. Das Haus war leer. Keiner der Bewohner war zu Hause gewesen, wie eben bestätigt wurde. Vor einer Minute war der Befehl gekommen, das Gebäude auf direktem Weg zu verlassen. Doch beinahe zeitgleich hatte sie ein krächzendes Bellen gehört. Sie konnte nicht anders, als einen letzten Blick in Mrs. Goldwells Wohnung zu werfen.
Der alte, halb blinde Terrier der achtzigjährigen Frau verschlief seine Tage üblicherweise auf dem Sofa. Bei ihrem ersten Durchgang hatte sie ihn nirgends entdecken können und war fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die alte Dame ihn ausnahmsweise mitgenommen hatte. Das Bellen sprach jedoch eine andere Sprache. Sie wusste, dass Mrs. Goldwell am Boden zerstört sein würde, wenn ihr Hund in diesem Feuer umkam. Zudem würde sie es sich selbst nie verzeihen, ein Tier leiden zu lassen, wenn sie in der Lage war, ihm zu helfen.
Entschlossen nahm sie die Treppe erneut in Angriff. Sie schwitzte wie ein Schwein. Das Gewicht ihrer Ausrüstung und die brüllende Hitze raubten ihr den Atem. Bewusst atmete sie den Sauerstoff ein, der durch ihre Maske strömte, als sie die Stufen hochsprintete. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Das alte Holz brannte wie Zunder. Es war nicht die Frage, ob das Haus zusammenstürzte, sondern nur wann.
In der Wohnung angekommen, ließ sie sich flach auf den Bauch fallen. Hier, dicht am Boden, war der Rauch weniger dicht. Sich vorsichtig vorwärts schiebend, hielt sie Ausschau nach dem struppigen Terrier. Dort. Hinter dem Sofa hatte sich etwas bewegt. So schnell es ging, robbte sie an die Stelle, wo sie die Bewegung gesehen hatte. Sie verlor keine Zeit und fasste ins Dunkle. Erleichterung überflutete sie, als sie durch den dicken Stoff ihrer Handschuhe das Zittern seines kleinen Körpers spürte. Sie verstärkte ihren Griff und zog ihn unterm Sofa hervor.
„Ich hab dich“, flüsterte sie leise und mehr zu sich selbst. Durch die Maske klang ihre Stimme sowieso verzerrt, und sie wollte den armen Kerl nicht noch mehr erschrecken. Hinter ihr krachte ein Balken und fiel in sich zusammen. Sie zuckte zusammen und warf einen Blick in die Richtung der sprühenden Funken. Es war höchste Zeit, dieser Todesfalle zu entfliehen.
Sie nahm sich die Zeit, ihre Jacke einen Spalt zu öffnen und den verängstigten Hund darin zu verstauen, bevor sie den Reißverschluss schnell wieder hochzog.
„Rivers“, knisterte es in ihrem Ohr. „Wo zum Teufel steckst du?“, verlangte der Feuerwehrchef besorgt zu wissen.
„Auf dem Weg nach draußen“, versicherte sie ihm und bahnte sich ihren Weg zur Tür der Wohnung.
„… nicht sicher … Treppenhaus …“
Das Tosen des Feuers, das sich in den letzten Minuten verdoppelt zu haben schien, machte es fast unmöglich, ihn zu verstehen. Auf dem Flur angekommen, warf sie einen Blick ans andere Ende des Gangs. Der orange Schein der Flammen verriet ihr, dass sie dort keine Alternative zur Treppe finden würde. Hatte Ace etwa gemeint, sie solle die Treppe nehmen?
Nicht willens, sich noch länger mit Rätselraten aufzuhalten, rannte sie auf die Treppe zu. Auf dem ersten Treppenabsatz angekommen, hielt sie abrupt inne. Eine rote Wand raste von unten unbarmherzig auf sie zu. Sie konnte das Ächzen der alten Balken hören, die sich der Macht des Feuers beugten und nachgaben. Schnell kalkulierte sie ihre Position im Kopf. Sie war im ersten Stock. Nicht allzu hoch also. Bevor sich Zweifel in ihrem Kopf breitmachen konnten, holte sie Anlauf und rammte ihre Schulter in das Fenster. Glas splitterte. Sie war dankbar, dass das Mehrfamilienhaus alt war und die Fenster nicht dem neuesten Standard entsprachen. Doppelverglasung war da viel unkooperativer als diese einzelne Scheibe. Mit ihren behandschuhten Händen schob sie die verbliebenen Glassplitter zur Seite.
Ohne Zeit zu verlieren, schwang sie beide Beine über das Fensterbrett. Sitzend schaute sie nach unten. Zu hoch, um einfach so zu springen. Zumindest, wenn sie ihre Beine behalten wollte.
„Ich bin auf der Westseite des Hauses. Wie lange, bis ihr die Leiter hier habt?“, sprach sie ins Mikrofon.
Ace’ Stimme ging im Getöse unter, als das Treppenhaus hinter ihr einstürzte. Fuck, fuck, fuck, dachte sie, mehr genervt als verängstigt. Auf die Kavallerie, sprich ihre Kollegen, zu warten, dauerte definitiv zu lange.
Sie drehte den Oberkörper zur Seite, fasste mit beiden Händen den Fensterrahmen und stieß sich ab, sodass sie am Gebäude baumelte. Das verkürzte die Distanz zum Boden um ungefähr zweieinhalb Meter. Ob das genug war? Sie murmelte ein kurzes Stoßgebet zum heiligen Florian, dem Schutzpatron der Feuerwehrleute, und sprang.
*
Luke Graham schenkte der Touristin, die ihn mit bewundernden Blicken verfolgte, ein Augenzwinkern. Ob er sie zu einem Kaffee einladen sollte? Es war weiß Gott lange genug her, dass er ein Date gehabt hatte. Gab es eine bessere Art und Weise, seinen freien Tag zu verbringen? Ungebeten schob sich ein Bild einer anderen Frau vor sein inneres Auge. Sunny, mit ihren blonden Haaren und dem unwiderstehlichen Lächeln. Seine Miene verfinsterte sich. Und dem unmöglichsten Job, den eine Frau haben konnte. Verärgert darüber, dass sie schon wieder ungebeten in seine Gedanken eingedrungen war, trat er entschlossen auf die Touristin mit dem einladenden Lächeln zu.
Eine halbe Stunde später saß er mit ihr im Café Sweets , eine Tasse starken französischen Kaffee vor sich, und langweilte sich zu Tode. Die anfängliche Befriedigung, die er verspürt hatte, als Tisha, wie sie sich nannte, seine Einladung zu einem Kaffee zögerlich angenommen hatte, war bereits verflogen. Er hatte den Fehler begangen, ihr zu erzählen, dass er Feuerwehrmann war. Diese Information hatte dazu geführt, dass sie jegliche Zurückhaltung abgelegt hatte. Begleitet von wenig subtilen Berührungen hatte sie nicht mehr aufgehört zu schwärmen, was für tolle Kerle Feuerwehrmänner waren.
Auch wenn er grundsätzlich ihrer Meinung war, schließlich arbeitete er mit einem Haufen der besten Männer – und Frauen – zusammen, fühlte es sich mehr als seltsam an, nicht um seiner selbst willen, sondern nur aufgrund seiner Berufsgattung begehrt zu werden. Während er noch innerlich debattierte, ob das eine Rolle spielte, schließlich wollte er mit ihr nur ins Bett und sie nicht gleich heiraten, läutete sein Telefon.
„Musst du nicht rangehen?“, hauchte Tisha in sein Ohr. Als ihr Atem auf seine Haut traf, wäre er vor Schreck fast vom Stuhl gefallen. Wie war sie hier gelandet, nahe genug, dass sie beinahe auf seinem Schoß saß?
„Ach, das ist nicht wichtig“, winkte er ab und überließ den Anruf seinem Anrufbeantworter. Auf keinen Fall wollte er in ihrer Anwesenheit ein privates Gespräch führen. Was seine Frage beantwortete, ob er mit ihr ins Bett wollte. Offensichtlich nicht. Ungläubig spürte er in sich hinein und suchte nach seiner Libido. Nichts. Offenbar befand sich diese schon im Winterschlaf. Passend für Colorado, wo es Anfang Oktober oft schon schneite.
Tisha zog einen Flunsch.
„Vielleicht wäre es wichtig gewesen. Du weißt schon, ein Feuer oder so.“
Ihre Augen glänzten begeistert bei der Aussicht, ihn in Aktion zu sehen. Wahrscheinlich am besten mit nacktem Oberkörper, dachte Luke sarkastisch. Diese Kalender mit halbnackten Feuerwehrmännern verliehen den Leuten eine falsche Vorstellung von dem Job.
„Ich habe heute frei. Das heißt, falls es brennt, brennt es ausnahmsweise ohne mich“, antwortete er milde.
„Oh.“
Ja, oh. Anscheinend war er in ihrem Ansehen gerade gesunken. War ihm aber auch egal. Himmel, was machte er eigentlich hier? Um sich nicht ganz wie ein Arschloch zu fühlen, zwang er sich, ihr ein paar Fragen zu stellen.
„Was machst du in Independence? Ferien?“
Etwas besänftigt durch sein augenscheinliches Interesse, nickte sie.
„Ja. Ich habe einen Job als Stylistin in Denver.“
„Oh, dann hast du sicher schon den Spa im Bed & Breakfast ausprobiert?“, fragte er, sich um unverfänglichen Smalltalk bemühend.
Anna, die Inhaberin, führte den Salon mit sicherer Hand. Ihre Kopfmassagen waren legendär. Die gesamte weibliche Bevölkerung von Independence lag in einem ständigen Wettstreit um den nächsten Termin.
Tisha rümpfte die Nase.
„Ich glaube nicht, dass die Behandlungen hier meinem Standard entsprechen“, erklärte sie von oben herab.
Während Luke noch um eine angemessene Antwort auf diese voreingenommene Aussage kämpfte, klingelte sein Telefon erneut. Dankbar über die Ablenkung warf er diesmal einen Blick auf das Display. Als er den Namen seines Feuerwehrchefs erkannte, waren jegliche Gedanken an Tisha und die Möglichkeiten, die sie bot, vergessen. Er wischte mit dem Daumen über das Display und nahm den Anruf entgegen.
„Ace?“
„Hallo Luke. Ich weiß, dass du frei hast. Aber vielleicht willst du zum alten Garbinger-Place kommen.“
„Das Mehrfamilienhaus? Ich sage schon seit Jahren, dass es nicht mehr den heute gültigen Standards entspricht. Hat es gebrannt?“
„Lichterloh. Immer noch.“
„Braucht ihr Verstärkung?“
„Das nicht. Aber Luke … Sunny ist noch nicht wieder draußen. Ich dachte, das willst du vielleicht wissen.“
Eine stählerne Faust griff sich Lukes Herz und drückte zu, bis er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Mit Feuern und Verlust hatte er persönliche Erfahrung und die entsprechenden Narben. So etwas durfte Sunny nicht passieren.
„Wer holt sie raus?“, verlangte er von seinem Vorgesetzten zu wissen.
„Niemand. Das Gebäude steht kurz vor dem Einsturz. Du kennst die Regeln“, erwiderte Ace bedauernd.
Fuck!, brüllte eine Stimme in Lukes Kopf. Das durfte doch nicht wahr sein! Ohne etwas zu antworten, beendete er das Gespräch mit einem Druck seines Daumens. Er zog zwanzig Dollar aus seiner Hosentasche und legte sie auf den Tisch.
„Wo gehst du hin?“, fragte Tisha mit großen Augen.
„Einer Freundin helfen.“
Sie runzelte die Stirn.
„Aha. Soso. Einer Freundin.“
Bewusst ihre eifersüchtige Bemerkung ignorierend, zu der sie überhaupt kein Recht hatte, stand er auf.
„War nett. Trink in Ruhe den Kaffee fertig.“
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließ er das Café. Kaum draußen joggte er los, in Richtung Auto. Verdammt. Genau davor hatte er Sunny immer bewahren wollen. Es spielte keine Rolle, dass sie so gut wie jeder andere im Team war. Frauen hatten in Feuern nichts zu suchen. Seine Erinnerung trug ihn zurück zu einem anderen Tag, einem anderen Ort, einem anderen Feuer und einer anderen Frau. Nein, zwei anderen Frauen. Der Verlust schmerzte ihn, als wäre es erst gestern gewesen. Wieso um Himmels willen hatte Ace Sunny nicht beim Rettungsmobil eingesetzt wie sonst immer?
Die schwarze Rauchsäule war schon von Weitem zu sehen. Sämtliche Vorschriften ignorierend, trat er aufs Gas. Rationale Gedanken hatten keinen Platz in seinem Denken. Pure Panik trieb ihn an. Vor den Absperrungen des Feuerwehr-Departements hatte sich eine Menschenmasse angesammelt. Autos stauten sich in der Straße. Einige Neugierige stiegen aus und nahmen es gelassen. Andere hupten ungeduldig. Luke wünschte sich, er säße im großen, respekteinflößenden Feuerwehrauto und nicht in seinem unscheinbaren Privatfahrzeug. Eine Sirene wäre jetzt ganz praktisch, dachte er frustriert. Wohl wissend, dass wünschen sinnlos war, parkte er sein Auto parallel zu den bereits abgestellten Fahrzeugen. Der Verkehr interessierte ihn nicht. Er hatte nur ein Ziel: zu Sunny zu gelangen. Er sprang aus dem Auto und rannte los.
*
Der Aufprall raubte Sunny für einen Moment den Atem. Jahrelange Übung ließ sie sich automatisch abrollen. Keine Sekunde später blickte sie in die Augen dreier Feuerwehrkollegen, allen voran Ace, der Chef. Sanfte Hände entfernten die Sauerstoffmaske von ihrem Gesicht.
„Alles klar?“, fragte Ace, erleichtert, dass sie bei Bewusstsein und offenbar in einem Stück war.
Für einen Moment lag sie einfach da, blinzelte in die Sonne und freute sich darüber, am Leben zu sein. Sie nickte.
Dann spürte sie die hektischen Bewegungen des kleinen Terriers unter ihrer schweren Jacke. Ein Lachen drang aus ihrer Kehle. Der Arme hatte bestimmt schon Platzangst.
„Wir müssen weg hier, hinter die Absperrung“, mahnte einer ihrer Kumpel. Ace nickte und hob sie einfach hoch.
„He, ich kann laufen“, protestierte sie. Allerdings nicht allzu sehr. Sie fühlte sich buchstäblich, als wäre sie von einem Laster überrollt worden. Oder aus dem ersten Stock eines brennenden Hauses gesprungen.
„Lass mich“, bat der sonst so unerschütterliche Feuerwehrchef. „Es passiert nicht alle Tage, dass jemand meiner Leute so knapp mit dem Leben davonkommt.“
„Ist ja alles gut gegangen“, antwortete sie und nestelte am Reißverschluss ihrer Jacke rum. Wenn sie ehrlich war, wurde ihr schlecht bei dem Gedanken, was alles hätte schiefgehen können. Aber es war ja nichts passiert. Sie war gesund und munter und der kleine Hund ebenfalls.
Ace schnaubte, als wäre er noch nicht überzeugt.
„Was genau hat dich bewogen, dieses Risiko einzugehen?“
Sie zappelte in seinem Griff.
„Lass mich runter, dann zeig ich es dir.“
Beim umgebauten Feuerwehr-Schrägstrich-Ambulanzfahrzeug angekommen, setzte er sie auf der Klappe ab. Beide drehten sich um, als hinter ihnen das ganze Gebäude in einem riesigen Feuerball in sich zusammenfiel.
Sunny schluckte. Ace drückte ihr in stummem Support die Schulter. Ein heiseres Kläffen ließ beide zusammenfahren.
Sunny schaute an sich herunter. Zwei dunkle Knopfaugen und eine kleine Nase schauten unsicher aus ihrer Jacke. Ein herzhaftes Lachen drang aus ihrer Kehle. Sie fühlte sich richtig euphorisch. Vermutlich eine Mischung aus dem Adrenalin, das immer noch durch ihre Adern raste, und dem Glücksgefühl, jemand anderem das Leben gerettet zu haben. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie selber ebenfalls ohne größere Blessuren davongekommen war.
„Ich nehme an, das ist der Grund für deine Insubordination?“, fragte Ace trocken. Als der Kleine hustete, griff er flink nach einer medizinischen Sauerstoffmaske und hielt sie dem Terrier über die Schnauze. Innerhalb weniger Sekunden atmete er leichter.
„Ich konnte ihn doch nicht da oben lassen.“
In diesem Moment zwängte sich eine alte Dame zwischen den Feuerwehrleuten hindurch. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
„Johnny, wo ist mein geliebter Johnny?“
„Mrs. Goldwell“, rief Sunny und winkte sie zu sich. „Johnny ist hier.“
Die alte Frau war so erleichtert, dass sie fast in die Knie gesunken wäre. Zum Glück war einer von Sunnys Kollegen zur Stelle und stützte sie.
„Ist das wahr?“, flüsterte sie und trat langsam näher.
Sunny hob den kleinen Hund in die Höhe und zeigte ihn ihr. Ein leuchtendes Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Du hast ihn gerettet. Meinen Johnny! Wie kann ich dir nur je danken.“ Fast ehrfurchtsvoll streckte sie den Arm aus und streichelte ihm über das rußige Fell. Johnny bedankte sich mit einem schwachen Schwanzwedeln.
„Muss er noch lange dieses Ding tragen?“ Sie deutete auf die Sauerstoffmaske.
„Wenn Sie mir versprechen, dass Sie mit ihm bei Nate Bale, dem Tierarzt, vorbeischauen, können Sie ihn mitnehmen.“
„Natürlich“, antwortete die alte Dame schnell. „Ich will ja, dass er wieder ganz der Alte wird.“
„Das wird er“, beruhigte Sunny sie. Sie entfernte die Maske von seiner Schnauze und legte den Terrier vorsichtig in die Arme seiner Besitzerin.
*
„Gut gemacht“, lobte Ace und klopfte ihr auf die Schulter, als die überglückliche Mrs. Goldwell abgezogen war. „Sag mal, was ist denn hier los?“, fragte er und drehte sich zu dem Tumult um, der hinter ihnen in der Menge ausgebrochen war.
„Luke“, flüsterte Sunny und erstarrte, als sie den aufgebrachten Feuerwehrmann sah, der sich durch die Menge kämpfte.
„O-o“, murmelte auch Ace.
„Du bleibst hier“, befahl Sunny ihm und schnappte ihn zur Sicherheit am Ärmel.
Wieso musste ausgerechnet ihre Nemesis hier und jetzt auftauchen?
Er war nicht immer deine Nemesis.
Resolut schob sie die ungebetenen Erinnerungen weg. Erinnerungen an geflüsterte Worte in der Dunkelheit. Gemeinsames Lachen. Tiefe Gespräche. Und Küsse … Bis alles zu einem abrupten Ende kam.
„Sunny!“, brüllte Luke, der sie immer noch nicht gesehen hatte.
Sie seufzte.
Ein Ende, ausgelöst durch seine Neandertaler-Tendenzen, die offensichtlich aktuell wild um sich griffen.
„Ich weiß nicht, wie du das machst, aber du bringst unweigerlich seine schlechtesten Seiten zum Vorschein“, wunderte sich Ace halblaut.
Sunny grunzte.
„Das klingt nicht nach einem Kompliment.“
„Sollte es auch nicht sein“, bestätigte Ace.
Sunny kniff ihn in den Arm.
„Ich dachte, du wärst auf meiner Seite?“
„Bin ich auch.“
„Wer’s glaubt.“
„Ich bin hier, oder etwa nicht? Okay, nur, weil du meinen Arm gekidnappt hast“, lachte Ace. Er hob seinen freien Arm und winkte.
„Spinnst du?“
„Ich kann nicht zulassen, dass er etwas Idiotisches macht und ohne Ausrüstung in diesen brennenden Haufen Zunder rennt, nur um dich zu retten.“
„Du meinst, er würde wirklich …“ Überwältigt von der Bedeutung dieser Aussage klappte Sunny ihren Mund wieder zu, ohne den Satz zu beenden. Das würde ja heißen … Die Eisschicht, die ihr Herz umgab, schmolz ein wenig. Die nächsten Sekunden setzten dem unerwarteten Tauwetter allerdings schnell ein Ende.
Luke wäre vor Erleichterung beinahe gestolpert, als er Sunny gesund und munter neben Ace erblickte. Dieser Moment der Schwäche dauerte jedoch nur eine Millisekunde, dann nahm der Ärger überhand. Den Fokus einzig und allein auf Sunny gerichtet, schob er sich rücksichtslos an seinen Kollegen vorbei, bis er vor Sunny stand. Er packte sie an den Schultern. Die Angst und Sorge der letzten Viertelstunde kochten in ihm hoch.
„Was hast du dir dabei gedacht? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du hast in einem Feuer nichts zu suchen. Dein Job ist die Betreuung des Ambulanz-Mobils. Verstanden?“
Immer noch von der unerwarteten Erkenntnis aus der Bahn geworfen, dass seine ungerechte Behandlung der Sorge um sie entsprang, antwortete sie ungewöhnlich milde.
„Gut gemacht, Sunny. Du bist meine Heldin. Du hast Mrs. Goldwells Hund gerettet“, soufflierte sie für ihn scherzend.
„Wen interessiert irgendein Köter?! Du hättest sterben können“, blaffte er sie an.
Das unerwartete Tauwetter in ihrem Herzen kam zu einem abrupten Stopp. Das schien sich als Muster durch ihre Bekanntschaft zu ziehen. Sunny verengte die Augen zu Schlitzen.
„Mich. Und auf jeden Fall Mrs. Goldwell. Sie hat geweint vor Freude, Luke. Geweint. Weißt du, was das für sie bedeutet hätte, wenn er gestorben wäre?“
Lukes Blick hielt den ihren fest.
„Weißt du, was es für mich bedeutet hätte, wenn du gestorben wärst?“, gab er die Frage zurück.
Sunny starrte ihn nur an. Und plötzlich war sie es leid. All die Zeit, in der sie gehofft hatte, dass er sie als gleichberechtigte Person anerkennen würde. Ihnen eine Chance geben würde. Nur um herauszufinden, dass das seine verdrehten Art war, ihr zu zeigen, dass sie ihm wichtig war. Wie hieß es so schön? Too little, too late?
Sie drehte sich zu Ace um und stand auf.
„Ich kündige“, sagte sie schlicht.
Das hatte sie sowieso vorgehabt. Sobald die neue Notfallklinik eröffnet war, würde sie Vollzeit als Sanitäterin arbeiten. Auch gut. So konnte sie die Zeit nutzen, bei den finalen Umbauten mitzuhelfen, und eine Auszeit genießen.
Ace sah sie geschockt an.
„Aber …“
Sunny hob die Hand und stoppte ihn.
„Nein. Meine Entscheidung steht fest. Vielen Dank für alles.“
Ohne Luke einen Blick zu schenken, drehte sie sich um und verschwand zwischen den anderen Feuerwehrleuten, um sich zu verabschieden.
„Bist du jetzt zufrieden?“, fragte Ace seinen Stellvertreter sarkastisch.
„Ich … Das wollte ich nicht.“ Er klang ziemlich fassungslos.
„Nicht?“, fragte Ace ihn streng. „Sah aber die letzten Jahre ganz so aus, als wäre genau das dein Ziel.“
Luke wand sich unter dem Blick seines Vorgesetzten, sagte aber nichts.
„Du bist suspendiert.“
„Was?“, protestierte Luke und schaute Ace ungläubig an.
„Du hast mich schon richtig gehört. Plus eine psychologische Beurteilung.“
„Du schickst mich zu einem Seelenklempner?“
Ace nickte.
„Ganz richtig. Du hast ganz offensichtlich ungelöste Themen, die du aufarbeiten musst.“
„Ungelöste …“ Er schluckte den Fluch, der ihm zuvorderst auf der Zunge lag, hinunter. „Und bei wem? Soweit ich weiß, wimmelt es in Independence nicht von Psychologen.“ Er klang ziemlich zufrieden mit sich selbst, dass ihm das eingefallen war.
„Keine Angst. Ich habe jemanden“, versicherte ihm Ace und stieß sich vom Ambulanz-Mobil ab.
„Wen?“, rief ihm Luke hinterher.
„Na, Kurt natürlich.“
Luke spürte, wie alles Blut sein Gesicht verließ. Kurt. Der Chef der True Warriors , ein Biker wie aus dem Bilderbuch, sollte ein Therapeut sein? Der Kerl sah eher so aus, als würde er ihm die Erkenntnis mit den Fäusten einprügeln. Ha! Richtig. Einer von Ace’ Scherzen. Er musste zugeben, es war ein guter Witz auf seine Kosten. Fast wäre er darauf hereingefallen. Laut lachend und den Kopf schüttelnd gesellte er sich zu den anderen, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen.