Kapitel 2
Am nächsten Tag wusste Sunny nicht, was sie mit sich anfangen sollte. So viel freie Zeit zu haben, war eine völlig neue Erfahrung für sie. Mit ihrer doppelten Verantwortung als Feuerwehrfrau und einzige Sanitäterin waren ihre Tage normalerweise bis zum Bersten gefüllt. Das war ja auch ein Grund, weshalb sie sich dazu entschieden hatte, alles auf eine Karte zu setzen und sich für die Notfallklinik zu engagieren. Nur einen anstatt zwei Jobs und dafür mehr Verantwortung zu haben, war der Plan gewesen. Jetzt hatte sie einfach etwas mehr Zeit, sich darauf vorzubereiten, erinnerte sie sich streng.
Wie jeden Tag war sie um sieben Uhr aufgewacht und hatte gefrühstückt. Haferflocken mit Banane, ein paar Beeren und einen Löffel Erdnussmus. Anschließend hatte sie ihre einzige Pflanze gewässert – das arme Ding, sie hatte keine Ahnung, was für eine Pflanze es war, befand sich vermutlich noch im Schockzustand nach der unerwarteten Aufmerksamkeit. Es war sowieso ein Wunder, dass das grün-braune Gewächs überhaupt noch lebte.
Jetzt war es zehn vor acht und sie erwog tatsächlich, ihrer Wohnung eine Art herbstlichen Frühjahrsputz angedeihen zu lassen. Angewidert von dem für sie so untypischen Gedanken beschloss sie, ihren ersten freien Tag zu genießen. Ein Kaffee im
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und eines von Aileens süßen, himmlisch riechenden Teilchen würde sie bestimmt in bessere Laune versetzen. Anschließend würde sie einen Spaziergang machen. Wenn dieser Spaziergang sie zufällig zur neuen Notfallklinik führen würde, dann war das eben so. Vielleicht konnten Pat und Jason, die den Bau beaufsichtigten, ja eine helfende Hand gebrauchen.
Sie verließ das schmale Stadthaus, das zwischen Charlies Buchhandlung und einem Touristenshop gelegen war, durch die Hintertür, während sie durch die Nachrichten auf ihrem Telefon scrollte. Aus diesem Grund sah sie die Mülltonne nicht, die quer vor dem Eingang lag, und stolperte darüber. Fluchend rollte sie sich zur Seite und machte eine Bestandsaufnahme ihres Körpers. Geprelltes Handgelenk, einen Splitter im Daumen und schlechte Laune. Stirnrunzelnd ließ sie ihren Blick über die kleine Veranda schweifen. Der Deckel der Mülltonne lag am anderen Ende. Die Mülltonne selbst lag praktisch zwischen ihren Beinen. Dazwischen war der ganze Abfall ausgebreitet.
„O nein“, stöhnte sie. „Nicht schon wieder!“
Sie rappelte sich hoch und fing an, den Abfall aufzulesen. „Dieser verdammte Räuber!“, murmelte sie. Wie erwartet war der Abfall fein säuberlich getrennt. Sämtliche essbaren Reste waren verschwunden. Nur Plastik und Papier bevölkerten das hölzerne Deck. Eine Bewegung im Augenwinkel ließ sie herumfahren. Sie konnte gerade noch einen flüchtigen Blick auf ein graues Fell werfen. Yepp. Das war ihr Stalker. Oder inoffizieller Untermieter. So ganz klar war ihr nicht, was der heimliche Besucher mit der Maske von ihr wollte. Außer ihre Reste klauen. Im Prinzip konnte er das gerne tun. Nur auf das ihn umgebende Chaos könnte sie gut verzichten. Sie stellte die Mülltonne wieder hin und drückte den Deckel drauf. So. Vielleicht würde er ja nächstes Mal unverrichteter Dinge abziehen müssen und endlich seine Fixierung auf sie aufgeben.
Sie seufzte. In Wahrheit war sie sich gar nicht sicher, dass sie wollte, dass der Waschbär seine Besuche aufgab. Mit seiner Anwesenheit konnte sie sich fast einbilden, dass sie ein Haustier hatte. Bis jetzt hatte ihr dafür immer die Zeit gefehlt. Und mit der neuen Verantwortung für die gesamte Notfallklinik würde sich das so bald auch nicht ändern.
*
Aileen putzte die leeren Tische und ordnete die Backwaren in der Vitrine neu. Glänzende Profiteroles, fluffig leichte Macarons, Pains au Chocolat und Croissants sowie andere Köstlichkeiten wetteiferten um den besten Platz. Heute war es ruhig im Café – vermutlich saßen alle im Diner, gierig auf den neuesten Klatsch über das Feuer von gestern. Sie machte sich keine Sorgen, Kunden zu verlieren. In den vergangenen Jahren hatte sie gelernt, dieses Phänomen einfach hinzunehmen. Die Kundenströme verhielten sich wie Ebbe und Flut. Die Kunden kamen und gingen in ihrem eigenen Rhythmus. Bis jetzt waren sie immer noch zurückgekommen. Das würde auch diesmal so sein. Das
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war ein beliebter Treffpunkt, wenn die Leute ein wenig Ruhe vor dem ständigen Gerede wollten. Natürlich ließ es sich auch in dem kleinen Café nicht vermeiden, dass andere mitbekamen, was besprochen wurde. Aber es wurde nicht so offensichtlich und unmittelbar via geheimem Telefonalarmsystem verbreitet. Sie war stolz darauf, den Leuten einen Rückzugsort zu bieten.
Als das Glockenspiel über der Türe einen neuen Besucher ankündigte, schaute sie überrascht auf. Beim Anblick von Sunny strahlte sie.
„Hallo Heldin“, begrüßte sie sie. Schließlich war sie Klatsch und Tratsch gegenüber nicht immun. Nur wählerisch, was sie für erwähnenswert hielt und was nicht. Sunnys heldenhafter Einsatz gestern fiel definitiv in die beachtenswerte Kategorie.
„Was?“, fragte Sunny überrascht und nahm dankbar den Kaffee entgegen, den ihr Aileen ungefragt hinstreckte.
„Hast du etwa gedacht, du könntest so eine Nummer abziehen und nicht darauf angesprochen werden? Wie ich gehört habe, geht es Johnny bestens“, sie zog eine Grimasse, „zumindest so gut wie vorher, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Nate hat gemeint, er würde sich vollständig von den Strapazen und der leichten Rauchvergiftung erholen.“ Sie schenkte sich selbst ebenfalls einen Kaffee ein und prostete mit der Tasse Sunny zu. „Das hat er nur dir zu verdanken.“
Sunny war das Lob sichtlich unangenehm.
„Das war doch keine große Sache“, murmelte sie verlegen. „Jeder andere hätte auch so gehandelt. Es war einfach ein Glück, dass ich ihn gehört und mich erinnert habe, dass Mrs. Goldwell einen Hund hat.“
„Mrs. Goldwell ist überglücklich. Besonders, nachdem die Carter-Mädchen sie um ein Exklusiv-Interview gebeten haben.“
„Exklusiv-Interview?“
„Ja. Es soll wohl eine mehrteilige Serie auf der Facebook-Seite von Independence geben. Angefangen mit Johnnys Leben als Welpe bis zum heutigen Tag. Du bereitest dich besser auch darauf vor, befragt zu werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Shauna die Serie als vollständig erachtet, ohne dich zu interviewen.“
Sie legte den Kopf schräg und musterte Sunny, die um die Nase etwas bleich aussah.
„Sag bloß nicht, dass du zwar unerschrocken in brennende Gebäude rennst, aber Angst vor einem klitzekleinen Interview hast?“
„Äh, doch?“
Aileen lachte und deutete auf die Vitrine vor sich.
„Was darf’s denn sein?“
Froh über den Themenwechsel, konzentrierte sich Sunny auf die verschiedenen Köstlichkeiten.
„Zur Feier des Tages gönne ich mir eine Profiterole und ein Pain au Chocolat.“
„Was feierst du denn? Deinen Heldenstatus ja offensichtlich nicht.“
Mist. Eigentlich hatte sie das noch für sich behalten wollen. Aber jetzt war es zu spät.
„Ich habe gestern frühzeitig gekündigt“, sagte sie so beiläufig wie möglich.
„Hat sich Luke einmal zu viel danebenbenommen?“, vermutete Aileen mit einem Grinsen.
„Woher weißt du das schon wieder? Steht das etwa auch schon auf Facebook?“ Diese Stadt und der Drang ihrer Bewohner, immer alles über jeden wissen zu wollen, gingen ihr ab und zu ganz schön auf die Nerven.
„Nein. Aber du hast es mir eben bestätigt.“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Ich hätte gewettet, dass er sich mit der Zeit beruhigt.“
Sunny schnaubte.
„Als ob das überhaupt je eine Möglichkeit gewesen wäre“, antwortete sie düster. „Obwohl …“
„Was?“
„Ace meinte gestern, dass Lukes Verhalten seiner Sorge um mich entspringt“, gab sie widerwillig zu.
Aileen verdrehte die Augen.
„Das habe ich dir bereits vor Jahren gesagt.“
Nun verdrehte Sunny die Augen.
„Stimmt. Aber ich verstehe damals wie heute nicht, weshalb ihn das dazu veranlasst, mich und meine Expertise nicht ernst zu nehmen und sich wie ein Höhlenmensch aufzuführen. Was habe ich davon, wenn ich weiß, dass er mich mag? Bewunderung aus der Ferne ist nicht so mein Ding. Ich bin mehr ein Sex-ja-gerne-Typ. Zudem hat er die letzten vier Jahre damit verbracht, mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen.“
„Hm. Deine Argumente sind alle sehr solide. Die Frage ist nur …“
Sunny runzelte die Stirn.
„Was?“
„Na, jetzt, da du nicht mehr bei der Feuerwehr bist, gibt es für ihn keinen Grund mehr, Abstand zu halten.“
„Du meinst …“ Der Gedanke, dass Luke vorhaben könnte, dort wieder anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatten, bevor sie die brillante Idee gehabt hatte, sich ebenfalls bei der Feuerwehr zu bewerben, war ihr noch gar nicht gekommen. Ihre seit einer Ewigkeit in der Winterstarre verharrenden Hormone hoben interessiert den Kopf und versetzten umgehend ihr Blut in Wallung, während ihr Kopf heftig protestierte, dass das ja nun wirklich völlig nebensächlich und überhaupt keine Option war, nachdem sich Luke so arschig benommen hatte.
„Genau.“ Aileen schielte aus dem Fenster. „Wenn man vom Teufel spricht … Sieht ganz so aus, als wäre er auf dem Weg hierher. Seinem Gesichtsausdruck nach hat er ein bestimmtes Ziel im Sinn. Ich vermute, er will zu dir.“
Sunny konnte sich gerade noch davon abhalten, ein entsetztes
Zu mir?
zu quieken. Wo war ein Feuer zu löschen, wenn sie es brauchte? Oder eine Katze vom Baum zu retten? Stattdessen steckte sie hier zwischen Tresen und Eingangstür fest, den Mund voller Vanillecreme und mit einem vermutlich knallroten Kopf. Einfach großartig. Was machte er überhaupt hier? Soweit sie wusste, hatte er heute Dienst? Nicht, dass sie seinen Dienstplan auswendig gelernt hätte oder so. Das war höchstens ihrem Selbsterhaltungstrieb zu verdanken, dass sie ab und zu einen Blick darauf geworfen hatte. Vorwiegend zumindest. Sie räusperte sich in Gedanken. Wenn sie sich das lange genug vorsagte, glaubte sie es vielleicht irgendwann sogar selbst.
„Was machst du hier?“, platzte sie heraus, sobald Luke durch die Tür trat.
Eine seiner Augenbrauen wanderte nach oben. Natürlich. Arrogant wie eh und je. Leider war sein großes Selbstvertrauen auch attraktiv. Und das wusste er. Der Bastard! So! Zufrieden, dass sie die erforderliche mentale Einstellung ihrem Feind gegenüber wieder etabliert hatte, nachdem er sie unfairerweise durch seine physische Erscheinung kurzzeitig abgelenkt hatte, warf sie ihm einen herausfordernden und gleichzeitig genervten Blick zu.
„Kaffee trinken“, antwortete er milde.
„Kein Dienst heute?“
Ein Muskel an seinem Kinn zuckte. Interessant. Das war immer der Fall, wenn er über etwas nicht reden wollte. Was wiederum dazu führte, dass sie unbedingt darüber reden wollte. Zumindest, wenn sie sich sowieso mit ihm unterhalten musste, wie es die Höflichkeit bedingte, wenn sie sich unerwartet im
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trafen.
„Ich habe heute frei“, gab er kurz angebunden zurück. Er deutete auf die Vitrine und machte eine große Show daraus, das Angebot eingehend zu studieren.
Ha! Sie hatte richtig vermutet. Er wollte nicht darüber reden.
„Seit wann?“, bohrte sie nach. Sie hatte nicht vor, lockerzulassen. Dazu machte ihr das Verhör viel zu großen Spaß. Zudem lenkte es sie wenigstens von dem unvermeidlichen Kribbeln in ihrem Bauch ab, das jedes Mal aufs Neue auftrat, sobald sie in seiner Nähe war.
„Seit gestern, okay?!“, antwortete er irritiert.
Sunny feixte. Es gefiel ihr, dass er so abwehrend reagierte. Das bedeutete, dass mehr dahinter steckte, als er zugeben wollte. Zudem war es in den letzten Jahren zu ihrem Freizeitvergnügen geworden, Luke zu ärgern. Da würde sie ja fast etwas vermissen, wenn sie ihn nicht mehr jeden Tag sah, soviel konnte sie sich gefahrlos eingestehen.
„Ace meinte nur, ich könnte eine Pause vertragen. Angesammelte Ferientage und so“, erwiderte er ausweichend.
Aileen scrollte währenddessen durch die Timeline der Facebook-Seite von Independence. Nachdem sie ganz genau wusste, wie Luke ihre Freundin die letzten Jahre behandelt hatte, wollte sie ihn nicht so leicht davonkommen lassen.
„Hier steht, dass du auf unbestimmte Zeit freigestellt bist und heute deine erste Sitzung bei Kurt hast“, verkündete sie fröhlich.
Luke schnappte das Telefon aus ihrer Hand und starrte ungläubig auf den Bildschirm.
„Shit! Es stimmt tatsächlich? Kurt hat einen Abschluss in Psychologie? Und ist mein Therapeut?“
„Kurt?“
Luke nickte, sichtlich geschockt.
Sunny hingegen brach in helles Lachen aus. „Therapeut?“
„Wusstet ihr, dass Kurt Psychologe ist?“, wunderte sich Aileen laut.
Sunny zuckte mit den Schultern. „Nein, keine Ahnung. Aber es wird wohl stimmen, wenn es auf Facebook steht.“
„Seit wann gilt Facebook als verlässliche Quelle?“, grollte Luke.
„Seit die Disney Sisters und die Carter-Töchter die Inhalte kontrollieren.“ Beide Paare waren stolz darauf, nur Fakten zu verbreiten, die sie verifiziert hatten, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Die Disney Sisters hatten einen Ruf zu verlieren, während Shauna und Leslie sich an den Ehrenkodex der Journalisten hielten. Auf jeden Fall waren die Informationen auf diesem Kanal tatsächlich überraschend zuverlässig.
Luke seufzte und schauderte.
Sunny, die ihn beobachtete wie ein Habicht, natürlich nur, um mögliche Schwächen zu entdecken und nicht, weil sie ihn so gerne ansah, fragte unschuldig: „Hast du etwa Angst vor den Sitzungen mit Kurt?“ Gleichzeitig biss sie sich auf die Innenseite der Wange, um nicht laut loszulachen.
„Natürlich nicht“, gab er indigniert zurück. „Das ist sowieso eine reine Formsache“, behauptete er. Allerdings verriet der zuckende Muskel an seinem Kinn, dass er alles andere als glücklich über Ace’ Entscheidung war.
Luke wusste nicht, wie es hatte passieren können, dass er und sein momentan verkorkstes Leben auf einmal im Mittelpunkt standen. Die ganze Nacht hatte er damit verbracht, an Sunny zu denken. Das Wissen, dass einer Beziehung zwischen ihnen nichts mehr im Weg stand, war berauschend. Als er sie eben im Café entdeckt hatte, hatte er nur ein Ziel im Sinn gehabt: Sie zu fragen, ob sie mit ihm ausging. Doch irgendwie war ihm das Gespräch entglitten. Statt einen verführerischen Abend zu planen, wurde sein Privatleben öffentlich diskutiert. Nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung. Sunny hingegen amüsierte sich köstlich, wie es aussah. Er seufzte. Wahrscheinlich hatte er das verdient. Hieß nicht, dass es ihm gefiel.
Er beschloss, den Rückzug anzutreten. Sie zum jetzigen Zeitpunkt – zwei Minuten, nachdem sie erfahren hatte, dass er offenbar psychische Probleme hatte – um ein Date zu bitten, war keine Option.
Besser, er traf sich mit Kurt, brachte diesen Unsinn hinter sich und fragte sie morgen. Morgen, wenn er wieder einen Job hatte. Er war zuversichtlich, dass eine Sitzung reichen würde. Das würde bestimmt auch Kurt einsehen. Schließlich hatte er keine Probleme. Höchstwahrscheinlich war das eine reine Routinesache.
Etwas steif nickte er den beiden zum Abschied zu und verließ das Café. Waren seine Schritte etwas länger, hastiger als gewöhnlich? Gut möglich. Aber hey, ein taktisch kluger Rückzug hatte noch niemandem geschadet.
*
Kaum schlug die Tür hinter ihm zu, sahen sich Aileen und Sunny an und prusteten los.
„Da war einer ganz schön schlecht gelaunt“, stellte Sunny überflüssigerweise fest.
„Das könnte man wohl so sagen. Was glaubst du, was es mit dieser Evaluation auf sich hat?“
Sunny runzelte die Stirn.
„Da bin ich überfragt. Zugegeben, wir haben öfter psychologische Abklärungen nach bestimmten Einsätzen. Diese sind obligatorisch. Aber das findet meist in Denver statt. Wenn Ace ihn zu Kurt schickt, muss was anderes dahinterstecken.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Zudem hatte Luke in letzter Zeit keinen Einsatz, der eine Evaluation nötig machen würde. Seit dem großen Waldbrand am Anfang des Sommers war es zum Glück sehr ruhig. Ace denkt sich schon jede Woche neue Drills aus, um uns auf Trab zu halten.“ Sie unterbrach sich. Nachdem sie nicht mehr dazugehörte, würde das Training ohne sie stattfinden. Kritisch beäugte sie die Reste der Süßspeise in ihrer Hand. Wenn sie weiterhin so essen wollte, ohne einen Gedanken an Kalorien zu verschwenden, musste sie wohl oder übel anfangen, allein zu trainieren. Shit.
„Essen und genießen“, befahl Aileen mit strengem Blick.
Sunny schnaubte.
„Mir ist gerade aufgegangen, dass ich ab sofort selbst für mein Fitnessprogramm zuständig bin. Ich muss wohl mit meinem inneren Schweinehund ein Mitarbeitergespräch führen.“
„Yoga bei Jaz? Oder tanzen bei Tyler?“
Sunny verzog das Gesicht.
„Das klingt beides sehr anspruchsvoll. Koordination ist nicht so mein Ding, wenn ich nicht gerade klettere.“
Aileen lachte.
„Das geht mir ähnlich. Allerdings klettere ich nicht steile Felswände hoch. Das ist ja verrückt!“
Sunnys Augen nahmen einen träumerischen Ausdruck an.
„Im Gegenteil. Das ist das Einzige, wo ich mich richtig frei fühle. Fast so, als könnte ich fliegen. Besser …“, sie suchte nach einem passenden Vergleich, „besser als Sex.“
Aileen prustete los.
„Du, meine liebe Freundin, hattest definitiv schon zu lange keinen Sex.“ Sie wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen. „Oder … mit der falschen Person.“
Sunny stöhnte.
„Hast du es dir jetzt zum Ziel gesetzt, mich mit Luke zu verkuppeln? Ich dachte, du wärst gegen Luke und somit auf meiner Seite?“
„Hm. Theoretisch schon. Wenn ich dann allerdings sehe, wie du ihn ansiehst, wenn du denkst, es würde niemandem auffallen und umgekehrt, dann würde ich euch am liebsten zusammen in einen Raum sperren und euch für zwei Wochen nicht mehr rauslassen. Vielleicht wäre dann das Problem ein für alle Mal gelöst.“
„Bestimmt. Einer von uns wäre nämlich dann tot“, behauptete Sunny.
„Oder entspannt, weil gut durchgevögelt.“
„Aileen!“
Entrüstet schüttelte Sunny den Kopf. Gleichzeitig konnte sie nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel zuckten. In einem hatte Aileen recht. Es war höchste Zeit, dass sie wieder einmal Sex hatte. Nur hatte sie nicht vor, besagten Sex mit Luke zu haben. Das war viel zu … gefährlich. Er würde ihr niemals etwas tun. Das wusste sie. Nein. Darum ging es nicht. Aber sie wusste, dass er die Fähigkeit hatte, ihr das Herz zu brechen.
*
Einen zweiten Kaffee in der Hand, verließ sie das Café. In ihrer Jackentasche hatte sie Kekse, die ihr Susan zugesteckt hatte, nachdem sie den beiden Frauen ihr Leid mit dem Waschbären geklagt hatte.
„Die werden ihn ein wenig ruhiger machen.“
„Meinst du?“, hatte sie zweifelnd geantwortet und an den Keksen geschnuppert. Sie rochen wie ganz normale Hundekekse. Doch sie wusste, dass sie zum Sortiment von Ians Chillax-Keksen gehörten. Ein Futterergänzungsmittel mit CBD, einem nicht berauschenden Bestandteil der Hanfpflanze. Angeblich sollte dieser die Selbstregulation des Körpers unterstützen und aufgeregte Gemüter beruhigen. Aber ob das bei dem kleinen Racker helfen würde? Ihrer Meinung nach verhielt er sich völlig normal. Wie ein Waschbär halt. Und wenn er merkte, dass dort öfter Kekse lagen, würde er vermutlich eher öfter als seltener auftauchen.
„Dafür lässt er vielleicht deine Mülltonne in Ruhe“, hatte Susan vorgeschlagen.
Hm. Sunny wusste nicht, ob sie jemandem glauben sollte, der regelmäßig von einer Elchkuh verfolgt wurde. Susan hatte sich inzwischen an die Besuche von Merline gewöhnt und freute sich jedes Mal, wenn sie ihr begegnete.
In Gedanken versunken schlug sie den etwas längeren Weg ein, der um die Peripherie von Independence zum Bauplatz der beinahe fertiggestellten Klinik führte.
Ein paar Arbeitern, losen Brettern und Farbkübeln ausweichend, bahnte sie sich einen Weg ins Innere der Notfallaufnahme. Noch sah es nicht nach viel aus, doch vor Sunnys Augen entstand der fertige Raum mit dem Wartebereich und den wichtigsten Geräten.
„Hallo?“, rief sie. „Ist jemand hier?“
Pat trat aus einem der Nebenräume, den er für die Dauer des Baus zu seinem Büro umfunktioniert hatte.
„Sunny“, begrüßte er sie verwundert. „Was machst du denn hier?“
„Ich wollte sehen, ob ich euch was helfen kann. Ich bin ganz brauchbar mit Hammer und“, sie schaute sich um, „Pinsel.“
„Musst du nicht arbeiten?“
Sunny lächelte schief.
„Ich habe unerwartet früher gekündigt. Jetzt weiß ich nicht, was ich mit all meiner freien Zeit anfangen soll.“ Verlegen schaute sie zur Seite. „Erbärmlich, ich weiß.“
„Nein, keineswegs. Und wir könnten deine Hilfe gut gebrauchen. Leider sind die Vorschriften sehr streng – nur ausgebildetes Personal ist zugelassen.“
„Ach, komm schon. Was soll mir passieren? Einen Pinsel in der Hand halten kann ich wohl.“ Sie verengte die Augen. „Oder ist es, weil ich eine Frau bin?“
Pat riss die Augen auf.
„Um Himmels willen, nein. Wie kommst du denn auf diese absurde Idee? Ich habe mehrere Frauen, die für mich arbeiten.“
Verlegen ließ Sunny die Schultern nach vorn fallen, jegliche Entrüstung war wie fortgeblasen.
„Sorry. Ich … Lange Geschichte.“
Pat warf ihr einen prüfenden Blick zu.
„War wohl nicht immer ganz einfach unter all diesen Macho-Feuerwehrmännern.“
Sie stieß hörbar den Atem aus.
„Das könnte man wohl so sagen. Aber das ist jetzt ja vorbei.“
„Du kannst gerne bei mir im Gym vorbeischauen. Kampfsport hat eine sehr … ausgleichende Wirkung.“
„Du meinst, es ist eine gute Möglichkeit, um Dampf abzulassen“, korrigierte sie ihn, doch sie lachte dabei.
Pat nickte zustimmend, ein Grinsen im Gesicht.
„Danke. Aber …“ Sie ließ den Blick in die Ferne schweifen und betrachtete die majestätischen Berge. „Ich habe meine eigene Art, mit Frust umzugehen.“ Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Ich würde sogar sagen, es ist höchste Zeit, wieder meinem Hobby nachzugehen.“
„Deinem Hobby? Du hast ein Hobby?“
„Da staunst du, was? Ich hatte es bis eben selbst fast vergessen.“ Sie erinnerte sich an den messerscharfen Fokus, das Adrenalin, die zitternden Muskeln, die geschundenen Finger und Zehen.
„Und was ist es?“
Sie drehte sich zu ihm um.
„Klettern.“
„Wow. Hast du einen Partner?“
„Nein, noch nicht“, antwortete sie knapp. „Ich muss los. Henriks Sportgeschäft ruft meinen Namen.“
Amüsiert über ihren Enthusiasmus schüttelte Pat den Kopf.
„Würde es etwas nützen, wenn ich dich bitte, vorsichtig zu sein?“
Sie grinste.
„Vielleicht. Ruf mich an, wenn ihr soweit seid, dass ich mich hier nützlich machen kann.“
Mit diesen Worten und einem kleinen Abschiedswinken verließ sie die Baustelle.
Pat lachte leise. Er war ja mal gespannt, wie Luke reagieren würde, wenn er von Sunnys neuem beziehungsweise altem Hobby hörte. Er war sich ziemlich sicher, dass sein Freund keine Ahnung davon hatte. Tja. Selber schuld, wenn er die letzten Jahre lieber damit zugebracht hatte, seine große Liebe vor den Kopf zu stoßen, statt sie besser kennenzulernen. Natürlich wünschte er ihm alles Glück der Welt, doch Luke konnte ziemlich stur sein. Eins war sicher: Es würde ein spannender Herbst werden.