Kapitel 9
Am nächsten Morgen machte sich Sunny früh auf den Weg. Obwohl sie erst spät ins Bett gekommen war, war sie zeitig aufgewacht und hatte nicht mehr einschlafen können. Die Vorstellung, dass ein Feuerteufel in Independence sein Unheil trieb, ließ sie nicht mehr los. Wer machte so etwas? Die Theorie dahinter, sprich die psychologischen Aspekte bei pathologischen Brandstiftern sowie die kalkulierten Fälle, in denen Gier die Hauptrolle spielte, war ihr aus der Ausbildung natürlich bekannt. Das Verständnis fehlte ihr trotzdem. Vielleicht musste man gewisse Dinge auch einfach nicht verstehen.
Sobald am Tag zuvor klar geworden war, dass ein weiteres Gebäude brannte, hatten Kristina und sie das Festival verlassen und mitgeholfen, die Schaulustigen in Schach zu halten. Erst als der Brand gelöscht war und Luke zusammen mit Ace den verletzten Twister rausgetragen hatte, hatte sie aufgeatmet. In Windeseile hatten sie den Mann ins Ambulanz-Mobil verfrachtet und ins Krankenhaus nach Breckenridge gebracht. Es war alles gut gegangen. Er hatte eine leichte Rauchgasvergiftung und ein gebrochenes Bein, also nichts, was nicht wieder heilen würde. Sie konnte es trotzdem nicht erwarten, bis sie ein richtiges Ambulanzfahrzeug und vor allem eine Notfall-Klinik vor Ort hatten. Bald…
Den Rucksack mit ihrer Ausrüstung über die Schulter geschlungen und einen Reisebecher mit heißem Kaffee in der Hand, verließ sie das Haus. Nachdem sie hinter sich abgeschlossen hatte, ging sie zu ihrem Truck. Sie hatte bereits Anlauf geholt, um ihre Sachen auf die Ladefläche zu schmeißen, als sie mitten in der Bewegung innehielt und über die Seitenwand spähte. Aah. Hatte sie doch richtig vermutet. Eingerollt auf seinem Schlafplatz schnarchte der Waschbär leise vor sich hin. Kopfschüttelnd hob sie den Rucksack auf die Ladefläche und befestigte ihn mit einem Seil in einer anderen Nische. Der nicht mehr ganz so blinde Passagier öffnete die Augen und blinzelte.
„Sieh an, du bist wach. So viel, wie du schläfst, könnte man fast meinen, du seist ein zu groß geratener Siebenschläfer. Nur weniger niedlich und mit schlechteren Manieren.“
Der Waschbär setzte sich auf und rieb sich tatsächlich die Augen. Vielleicht musste sie ihre Meinung revidieren. Niedlich war er schon, wenn auch eine Pest. Seufzend setzte sie sich in die Fahrerkabine und startete den Motor. In der Erwartung, dass der Kerl bestimmt gleich die Flucht ergreifen würde, starrte sie in den Rückspiegel. Er schien es allerdings nicht eilig zu haben. Anstatt wegzurennen, kraxelte er gemütlich über das Metall zu ihrem Rucksack und begann diesen zu untersuchen.
„Sicher nicht, du Gauner“, murmelte sie erbost. Sie zog die Handbremse an, legte den Leerlauf ein und sprang aus dem Fahrzeug. Gerade noch rechtzeitig erreichte sie das Seil, löste den Knoten und hob den Rucksack aus der Reichweite des Wildtiers. Wobei Wildtier bei diesem frechen Kerl nicht wirklich die richtige Bezeichnung war. Ob sie ihn einfach unter den Vorderpfoten packen und rausschmeißen sollte? Bei ihrem Glück würde ihm vermutlich spätestens dann einfallen, dass er nicht domestiziert war, und er würde seine Krallen an ihr ausprobieren. Sie langte in ihre Jackentasche und zog einen der Chillax-Kekse hervor, die ihr Susan gestern wieder zugesteckt hatte. Vielleicht konnte sie ihn ja wenigstens bestechen. Während sie noch hin und her überlegte, was die beste Taktik war, schlich er sich näher und schnappte sich blitzschnell den Keks.
„Es ist einfach zu früh am Morgen für solche Diskussionen“, grummelte sie und stapfte wieder nach vorn zur Fahrertür. Wenn er unbedingt mitfahren wollte, dann konnte er das gerne tun. Den Rucksack behielt sie diesmal aber auf dem Beifahrersitz. Der eingepackte Lunch war für sie, nicht für den Räuber! Rückwärts aus der Einfahrt fahrend, erhaschte sie einen Blick auf ihren Mitfahrer. Er schien die plötzliche Bewegung seines temporären Schlafplatzes erstaunlich gelassen zu nehmen. Unglaublich, das Tier…
Beim Ausgangspunkt für ihre Wanderung angekommen, parkte sie ihren Truck auf einem der dafür vorgesehenen Parkplätze. Wie erwartet, waren alle anderen Parkplätze leer. Das Festival sorgte dafür, dass die Touristen wie auch die Einheimischen vermehrt in Independence blieben. Entweder, weil sie den Schlaf der durchgemachten Nacht nachholten, oder weil sie arbeiteten. Der Trail, der in sanften Bögen nach oben führte, lag verlassen da. Erleichtert atmete sie auf. Die Abgeschiedenheit und die Ruhe waren Balsam für ihre Nerven.
Der Waschbär stellte sich an die Seitenwand der Ladefläche und schaute sie erwartungsvoll an.
„Wenn du denkst, ich hebe dich raus, dann hast du dich geschnitten“, erklärte sie ihm. Er ließ ein lautes Keckern hören, oder wie auch immer man Laute, die ein Waschbär machte, nannte, sprang elegant über die Brüstung und landete auf allen vier Pfoten auf dem Boden.
„Also, ganz normal bist du ja nicht“, stellte sie fest. „Eigentlich müsstest du vor mir flüchten.“
Er ignorierte sie und begann das ganze Gebiet systematisch abzusuchen. Tatsächlich wurde er in der Nähe der Informationstafel, die die Wanderer über die geltenden Vorschriften des National Forest aufklärte, fündig. Jemand hatte eine Papiertüte mit Essensresten neben statt in den massiven, gegen Bären und neugierige Waschbären gesicherten, Abfallkorb geworfen. Sie wartete, bis ihr ungewöhnlicher Begleiter seine Beute in Sicherheit gebracht hatte – unter ihrem Truck, wo denn sonst –, bevor sie sich bückte, um die Papiertüte zu entsorgen.
Menschen sind einfach Schweine, dachte sie angewidert. Ohne dem Waschbären einen weiteren Blick zu schenken, startete sie ihre Wanderung. Wenn sie ihn nicht beachtete, würde er vielleicht hier eine neue Heimat finden. Sie war sich sicher, dass er in dieser Region genügend Essen und bestimmt auch einen trockenen Unterschlupf finden würde.
Zehn Minuten später wurde diese Hoffnung zerschlagen. Als hätte er das schon immer so gemacht, zottelte er hinter ihr her. Sunny warf ihm einen Seitenblick zu.
„Du weißt schon, dass du kein Hund bist?“
Der kleine Kerl achtete nicht auf sie, sondern fuhr mit seiner Futtersuche fort.
„Du bist ein kleiner Vielfraß. Vielleicht sollte ich dich Wolverine taufen“, setzte sie die einseitige Unterhaltung laut fort. „Oder ich bitte Quinn tatsächlich, dich umzusiedeln.“ Noch während sie das sagte, wusste sie, dass sie das nie machen würde. Höchstens, wenn klar werden sollte, dass er unter seiner Lebenssituation litt. Aktuell schien das nicht der Fall zu sein. Im Gegenteil. Sein Fell glänzte, die schwarzen Knopfaugen leuchteten und auch das zügige Tempo, das sie angeschlagen hatte, schien ihm keine Probleme zu bereiten. Ganz offensichtlich hatte sie einen neuen besten Trail-Kompagnon.
*
Ross rollte sich auf seiner unbequemen Schlafstätte zur Seite und hob den Kopf. Was war das? Sein Hirn wachte mit etwas Verzögerung ebenfalls auf. Das war sein Frühwarnsystem. Einen Fluch auf den Lippen sprang er auf und wankte zur kleinen Küche gegenüber vom Bett. Nachdem er gestern den ganzen Tag gearbeitet und anschließend noch für Verwirrung am Festival gesorgt hatte, war er über Umwege zum Bohrplatz zurückgekehrt. Der alte Trailer, den er mit seinem Truck hochgezogen hatte, leckte an mehreren Stellen. Doch so lange das Wetter einigermaßen anhielt, zog er es vor, hier zu schlafen. Genau aus dem Grund, dass er Neugierige davon abhalten konnte, in dieser Gegend rumzuschnüffeln.
Er schaltete die alte Kaffeemaschine ein, schüttete etwas Pulver in einen Filter und füllte das Wasser nach. Zu dem Zeitpunkt, als der Kaffee fertig war, hatte ihm die App auf dem Handy bereits gesagt, wo sich der Eindringling befand. In einer Hand den Kaffee, packte er seine Sachen zusammen. Keine fünf Minuten später war er unterwegs. Wenn er sich beeilte, konnte er den Unbefugten auf der Passhöhe abfangen. Oder feststellen, dass wie schon so oft zuvor ein Wildtier den Alarm ausgelöst hatte. Aber lieber einmal mehr vergeblich den Berg hochlaufen, als dass ein dussliger Tourist die ganze Operation in Gefahr brachte. Er schulterte sein Gewehr, das gleiche Modell, mit dem er auch während seiner Zeit bei der Armee geschossen hatte, und zog sich seine Kappe tiefer ins Gesicht.
*
Sunny beobachtete amüsiert, wie Wolverine auf seiner Suche nach etwas Essbarem immer wieder nach vorne oder zur Seite in die Büsche schoss. Meist kehrte er nach wenigen Sekunden wieder an ihre Seite zurück, als wäre er gar nie weggewesen. Es war seltsam, aber auch angenehm, einen mehr oder weniger stummen Begleiter zu haben. Das war vermutlich der Grund, weshalb andere Leute Hunde hatten. Sie mochte Hunde, doch ihr bisheriges Leben hatte ihr dafür nicht die nötige Zeit gelassen. Da war so ein Waschbär, der mehr oder weniger für sich selbst sorgte, praktischer. Zudem konnte er vermutlich besser klettern als der durchschnittliche Hund.
Plötzlich raste der Kleine wieder nach vorn, nur um abrupt stehen zu bleiben. Er setzte sich hin und hob die Nase in die Luft, als ob er etwas wittern würde. Stirnrunzelnd trat sie vorsichtig neben ihn, neugierig, was ihn zu diesem untypischen Verhalten veranlasste. Untypisch, haha . Sie musste ein wenig über sich selbst grinsen. Keine zwei Stunden mit einem Waschbären unterwegs, und sie hielt sich für eine Expertin. Dabei wusste sie nicht einmal, ob es sich bei ihrem Verandabesetzer um ein Weibchen oder ein Männchen handelte. Wenn sie Quinn das nächste Mal sah, würde sie sie danach fragen.
Wolverine hielt immer noch die Schnauze in die Höhe und imitierte eine Waschbärenstatue. Ihre Nähe schien ihn überhaupt nicht zu stören. Seine Schnurrbarthaare zitterten in der Luft. In der Hoffnung, etwas zu entdecken, was sein seltsames Verhalten erklärte, trat sie einen Schritt nach vorn.
Als Sunny dabei mit ihrem Fuß an etwas hängen blieb, erstarrte sie. Was um Himmels willen war das? Stirnrunzelnd ging sie in die Knie und begutachtete den ganz dünnen Draht, der über den schmalen Pfad gespannt war. Sich gebückt vorwärts bewegend, folgte sie ihm mit dem Finger. Auf der Seite verschwand er unauffällig im dürftigen Gebüsch, bevor er um den dünnen Stamm einer knorrigen Kiefer geschlungen endete. Ob das eine Art Falle für Wildtiere war? Ein Blick in die Höhe zeigte nichts Derartiges. Aber was wusste sie schon vom Fallenstellen? Nichts. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und schoss ein paar Bilder an diesem Ende, bevor sie ihre Untersuchungen in die andere Richtung fortsetzte.
Ihr Begleiter war nirgends zu sehen. Offensichtlich hatte ihn dieser Fremdkörper so irritiert, dass er das Weite gesucht hatte. Hoffentlich war er schlau genug, dieser Falle – oder worum auch immer es sich bei dieser Konstruktion handelte – aus dem Weg zu gehen.
Auf der anderen Seite endete der Draht ebenfalls an einem Baum, allerdings war hier ein kleines, elektronisches Kästchen befestigt. Ein grünes LED-Licht blinkte. Hm. Nachdem sie bereits gegen den Draht gestoßen und nicht in die Luft geflogen war, handelte es sich glücklicherweise wohl nicht um eine Bombe. Trotz dieser beruhigenden Feststellung zuckte ihre Hand zurück. Sprengstoffe waren nie ihr Spezialgebiet gewesen. Hätte sie mal besser aufgepasst! Dann könnte sie die Gefahr vielleicht besser einschätzen. Immerhin war ihr bis jetzt noch nichts um die Ohren geflogen.
Abermals fotografierte sie alles. Im besten Fall würden ihr Quinn und Archer erklären, dass die Vorrichtung Teil eines Wildtierüberwachungsprogramms war, versuchte sie sich zu beruhigen. Trotzdem übermittelte ihr das Prickeln in ihrem Nacken eine Warnung. In diesem Moment vermisste sie einen Kletter- und Wanderpartner, auf den sie sich verlassen konnte. Ungebeten kam ihr Luke in den Sinn. Wenn er nicht gerade seine fünf Neandertalerminuten hatte, war er ein zuverlässiger und oft witziger Partner. Leider überwogen in ihrer Gegenwart die Neandertalerminuten und nahmen überproportional zu, bis sie ungefähr zwölf Mal pro Stunde vorkamen.
Entschlossen, sich nicht von vagen Angstgefühlen und lächerlichen Sehnsüchten, die zu nichts führten, von ihrer Wanderung abhalten zu lassen, stieg sie vorsichtig über den Draht und setzte ihren Weg fort. Bevor sie die nächste Kurve in Angriff nahm, hielt sie ein letztes Mal nach ihrem grauen Raubtier Ausschau. Im Gegensatz zu ihr schien er auf sein Bauchgefühl zu hören, sofern sie seine Abwesenheit richtig interpretierte. War er etwa der Schlauere von ihnen beiden? Unschlüssig blieb sie einen Moment stehen. Schließlich gab sie sich einen Ruck und ging weiter.
Dunkle Augen folgten ihr aus dem Schutz der Bäume, machten aber keine Anstalten, ihr zu folgen.
*
Henderson lag auf seinem Aussichtspunkt bereits auf dem Bauch. Durch das Zielfernrohr hatte er den Wanderer bereits seit Längerem im Blick. Es schien sich um eine Frau zu handeln. Ob es dieselbe war wie vor ein paar Tagen? Er ließ den Gedanken fallen. Es spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass er sie mehr oder weniger sanft davon überzeugen konnte, ihre Route zu ändern.
Anscheinend war sie allein unterwegs, was seinen Job sehr vereinfachte. Die Frage war nur, was nötig sein würde, um sie genügend zu erschrecken, dass sie nicht mehr hierher zurückkehren würde. Ob ein einzelner Warnschuss genügte? Oder besser ein Streifschuss? Am sichersten wäre es natürlich, sie umzubringen und verschwinden zu lassen. Hier in den Rockies gab es unzählige Stellen, wo ihre Leiche nie gefunden werden würde. Den Rest würden die wilden Tiere erledigen. Während er nachdachte, kaute er auf seinem Kautabak herum und spuckte neben sich auf den Boden. Er war durchaus nicht zimperlich. Doch es widerstrebte ihm, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Er war stolz auf seine Fähigkeit, sämtliche Blickwinkel zu betrachten und in jeder Situation einen kühlen Kopf zu bewahren. Das Prinzip „S o viel wie nötig, aber so wenig wie möglich“ hatte ihm bisher gute Dienste geleistet. Deshalb frustrierte ihn Powells Zögern auch so. Der Investor war ganz offensichtlich nicht bereit, so viel Einsatz wie nötig zu zeigen, um seine Ziele zu erreichen. Womit es wieder einmal an ihm hängen blieb.
Sich für einen Beinahe-Treffer entscheidend, wartete er, bis er die Frau im Visier hatte. Dann verlangsamte er seinen Atem, die Zeit schien stillzustehen. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, bis er schließlich abdrückte.
*
Je höher Sunny dem schmalen Pfad nach oben folgte, desto unwohler fühlte sie sich. Obwohl die Luft relativ kühl war, stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Das Prickeln in ihrem Nacken war nach wie vor da. Unablässig schweiften ihre Augen über das unebene Gelände, als könnte sie so eine mögliche Gefahr abwenden. Aber welche Gefahr? Genervt über diesen für sie völlig untypischen Anfall von Nervosität, stapfte sie weiter.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Weiter oben, oberhalb eines Felsvorsprungs, blitzte etwas auf. Noch bevor sie einordnen konnte, was sie gesehen hatte, ertönte ein lauter Knall. Ringsum spritzten Gesteinssplitter in die Höhe. Ohne nachzudenken, warf sie sich zur Seite, hinter die fragwürdige Deckung einiger kümmerlicher Kiefern. Obwohl sie sich abrollte, prellte sie sich die Schulter an einer Wurzel und schürfte sich die Handflächen am Geröll auf. Zusammengerollt blieb sie einige Sekunden einfach liegen.
Obwohl sie wusste, dass vermutlich höchstens ein paar Minuten vergangen waren, hatte sie das Gefühl, seit Stunden in dieser Position auszuharren. Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich, ein paar zusätzliche dieser Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, auszuharren.
Weitere Sekunden verstrichen, und nichts geschah. Schließlich verlangsamten sich ihr unkontrollierter Herzschlag und ihr hektischer Atem ein wenig, sodass sie nicht mehr das Gefühl hatte, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Plötzlich hörte sie den Schrei eines Raubvogels. Gleich darauf war eine andere Vogelstimme zu hören. Der hörbare Nachweis, dass andere Lebewesen in ihrer Nähe waren, die ganz offensichtlich ihrem normalen Alltag nachgingen, wirkte äußerst beruhigend. Mühsam rappelte sie sich hoch. Schwindel drohte sie zu übermannen, weshalb sie erst einmal sitzen blieb und darauf wartete, dass sich ihr Kreislauf wieder einpendelte.
Behutsam horchte sie in sich hinein und versuchte eine kurze Bestandsaufnahme ihres körperlichen Zustands zu machen. Ihre Handflächen waren geschreddert. So viel zu ihren großen Kletterplänen für die nächsten Tage. Ihre Schulter pochte ebenfalls. Sie rollte sie versuchsweise und stellte erleichtert fest, dass die Bewegung zwar schmerzhaft, aber machbar war. Alles in allem hatte sie großes Glück gehabt. Sie hob die Hand zur Stirn, um sich die Schweißtropfen abzuwischen. Autsch. Sie zog die Hand wieder weg und entdeckte Blut auf ihrer Hand. Na großartig. Offensichtlich hatte sie sich auch am Gesicht ein paar Schrammen zugezogen. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und tupfte die Stelle vorsichtig ab.
Was zum Teufel war das gewesen? Ein Steinschlag? Die Erinnerung an die Reflexion hoch oben am Berg schoss ihr durch den Kopf. Ein Jäger? Zugegeben, es war Jagdsaison für einzelne Tierarten. Aber mit ihrem gelben T-Shirt und der roten Kappe glich sie definitiv keinem Wapiti. Ein Schauder lief über ihren verschwitzten Körper. Unvermittelt kehrte das Gefühl von drohender Gefahr zurück. Nach einem letzten Blick über ihre Schulter verfiel sie in einen leichten Trab und joggte in Richtung Tal.
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Ross Henderson verfolgte die Geschehnisse durch sein Zielfernrohr. Ihr Sprung in die Büsche war ein ziemlicher Stunt gewesen, dachte er beeindruckt. Er hoffte, dass sie sich nicht verletzt hatte. Allerdings war er sich sicher, dass der Schrecken groß genug gewesen war, dass sie auf der Stelle kehrtmachen und nicht mehr zurückkommen würde. Als er sah, wie sie sich aufrappelte und sich nach einem prüfendenden Blick in alle Richtungen talwärts wandte, grunzte er zufrieden. Ziel erreicht. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, robbte er auf dem Bauch ein ganzes Stück zurück. Erst dann rappelte er sich mühsam hoch und schüttelte Arme und Beine, um die Zirkulation wieder anzuregen. Er war definitiv zu alt für Observierungen dieser Art.
Mit der Gewissheit, dass die Frau kein Problem mehr darstellen würde, machte er sich auf den Rückweg ins Camp.
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Nach der zweiten Kurve hielt Sunny inne. Was, wenn wirklich jemand auf sie geschossen hatte? Sollte sie dann nicht nach der Kugel suchen? Es widerstrebte ihr zutiefst, den Schützen einfach so davonkommen zu lassen. Versehen oder nicht, der Jäger musste zur Verantwortung gezogen werden. Natürlich würde die Kugel kaum mit seinem Namen versehen sein. Die Vorstellung brachte sie trotz der ernsten Situation zum Schmunzeln. Aber falls die Polizei einen Verdächtigen auftreiben konnte, wäre eine Kugel ein wichtiges Beweisstück.
Ob es wohl sicher war, an die Stelle zurückzukehren? Spannenderweise hatte das Prickeln in den letzten Minuten stetig nachgelassen. Nur das Adrenalin, das immer noch durch ihre Blutbahn zirkulierte, machte sich durch ein stetiges Summen bemerkbar. Ihre Knie zitterten immer noch ein wenig, doch das konnte auch an den letzten zweihundert Metern liegen, die sie in einem rasanten Tempo abwärts zurückgelegt hatte. Ihre Stirn und ihr Arm brannten ein wenig, aber nicht so schlimm, dass sie es nicht ausgehalten hätte. Sie griff nach ihrer Wasserflasche und trank in kleinen Schlucken. Sie hatte keine Lust, heute auch noch in die Büsche zu spucken. Ihr Bedarf an körperlichen Beschwerden war definitiv gedeckt.
Alles in allem ging es ihr gut genug, um wenigstens einen oberflächlichen Blick auf die Stelle des Geschehens zu werfen. Wenn sie innerhalb einer Viertelstunde nicht fündig wurde, würde sie ihre Suche abbrechen und nach Hause gehen, verhandelte sie mit sich selbst.
Entschlossen kehrte sie um und machte sich abermals an den Aufstieg.