Kapitel 14
Nach einer unangenehmen Nacht, die er auf der Couch verbracht hatte, fuhr Luke zu Carter Securities
. Valentina hob fragend eine Augenbraue, als sie die Schlinge um seinen Arm sah.
„Barschlägerei?“
„Du willst mir tatsächlich sagen, dass mein Missgeschick noch nicht die Runde gemacht hat?“
„Welches Missgeschick?“
Zu spät fiel Luke ein, dass Sunny alles daran gesetzt hatte, dass der Zwischenfall und somit ihre Nachforschungen nicht allgemein bekannt wurden. Aus diesem Grund hatte sie ihn gestern, anstatt in die Klinik, mitten in der Nacht zu Kristinas Wohnung geschleppt und die arme Ärztin aus ihrem wohlverdienten Schlaf gerissen. Zu seinem Glück waren die beiden Frauen gut befreundet, sodass sie nicht viel Aufheben davon gemacht hatte. Kristina hatte für alle Kaffee aufgebrüht und anschließend mit einem gekonnten Manöver sein Schultergelenk wieder eingerenkt.
Eine Viertelstunde später war er mit einer Packung rezeptfreier Schmerzmittel, einem Kühlgel und der Schlinge von Sunny nach Hause gefahren worden. Wenn er wollte, konnte er die Tage einen Termin für ein MRT vereinbaren, um zu schauen, ob irgendwelche Sehnen oder Muskeln in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Ansonsten hatte sie ihn ermahnt, die nächsten sechs Wochen seinen Arm zu schonen. Immerhin war er aktuell nicht im Dienst. Das hätte ihn mächtig gewurmt.
Er zwinkerte Valentina zu.
„Immerhin sieht der andere noch schlimmer aus als ich“, witzelte er.
„Okay“, meinte sie gedehnt. „Wenn du es sagst, muss es wohl stimmen.“
Ihr skeptischer Blick machte ihm allerdings unmissverständlich klar, dass sie ihm kein Wort glaubte.
„Ich wollte fragen, ob ich etwas mit Riley machen könnte? Du weißt schon, ein paar einfache Übungen unter deiner Anleitung? Ich würde ihn gerne etwas besser kennenlernen.“
„Hast du etwa deine Meinung geändert?“
„Nein. Ganz im Gegenteil“, beeilte er sich, ihr zu versichern. „Nichtsdestotrotz sollte so eine Entscheidung gut überlegt sein. Der Hund sollte ja auch mit mir als Partner zurechtkommen.“
„Das ist wahr“, stimmte ihm Valentina zu. „Dann lass uns den Kerl mal holen. Ich habe nicht sehr viel Zeit, aber eine Viertelstunde kann ich entbehren.“ Sie warf einen schiefen Blick auf seine Schulter. „Du bist sicher, dass du dich nicht schonen solltest?“
„Solange ich die Schlinge trage, sollte es okay sein.“ Er hatte heute Morgen brav zwei Tabletten geschluckt, sodass er sich im Moment erstaunlich gut fühlte.
Valentina akzeptierte seine Aussage mit einem Nicken und führte ihn zu den Baracken, die die Hunde beherbergten.
Beide Hunde kamen sofort zum Gitter. Valentina schob sie freundlich, aber bestimmt zurück und öffnete die Tür.
„Hey, ihr beiden. Ihr habt Besuch.“
Erstaunt stellte Luke fest, dass sein Herz eine schnellere Gangart anschlug, sobald er Riley entdeckte. Die Aussicht auf einen eigenen Hund gefiel ihm besser als gedacht. Er war doch tatsächlich etwas aufgeregt bei dem Gedanken, mit Riley zu arbeiten. Hoffentlich fand der Malinois-Rüde ebenfalls, dass das Ganze eine gute Idee war.
Er bückte sich und streichelte mit der linken Hand seinen zukünftigen Hund. Riley schloss genießerisch die Augen. Boomer hielt sich an Valentina und holte sich dort seine Streicheleinheiten ab.
Fünf Minuten später standen sie gemeinsam auf dem Platz. Luke stellte erfreut fest, dass Valentina nach einem ähnlichen System arbeitete, wie er es von seinem Vater kannte. So fiel es ihm leicht, ihren Anweisungen zu folgen. Mit jeder Übung merkte er, wie die Verbindung zu seinem vierbeinigen Partner stärker wurde. Als sie fertig waren, strahlte er Valentina an.
„Und? Was denkst du?“
„Na, deinem und seinem Grinsen zufolge sehe ich keinerlei Probleme.“
Luke schaute zu Riley hinunter. Er hechelte und ließ seine lange Zunge raushängen. Er sah tatsächlich aus, als würde er grinsen.
Luke zeigte ihm das Spielzeug und ließ es fliegen. Wie der Blitz hechtete der Rüde seiner Belohnung hinterher.
„Ich werde mich noch heute für die Ausbildung anmelden.“
Valentinas Gesicht leuchtete auf.
„Dann hat Ace sein Okay gegeben?“
Luke schnitt eine Grimasse.
„Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Mit all den Bränden, die wir in letzter Zeit hatten, war es unmöglich, einen Termin zu finden. Aber mein Entschluss steht fest. Ein Brandmittelspürhund ist eine großartige Ergänzung für unser Team. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ace dagegen etwas einzuwenden hat.“
„Höchstens wegen der Kosten“, wandte sie ein.
„Möglich. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir das dafür notwendige Geld auftreiben können. Zur Not bitte ich Astrid um Hilfe. Sie ist unschlagbar, wenn es darum geht, Mittel zu organisieren. Dafür wäre es hilfreich, wenn ich von euch bald wüsste, was der Hund und seine Ausbildung kosten sollen.“
„Ich sage Big A Bescheid, er soll das veranlassen. Deine Mailadresse haben wir ja.“
„Super. Und vielen Dank für die spontane Trainingslektion.“
„Gerne. Riley war lange unser Sorgenkind. Zu wissen, dass er einen guten Platz und eine Aufgabe haben wird, die ihm entspricht, nimmt mir eine große Last von den Schultern.“
Luke rief Riley zu sich und tauschte einen Keks gegen das Spielzeug.
„Nimmst du an der Gemeindeversammlung teil?“
„Gemeindeversammlung?“ Luke hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
„Ja. Es geht darum, dass in einem Teil des National Forest Fracking angewendet werden soll. Anscheinend gibt es dort Erdgasvorkommen.“
Luke runzelte die Stirn und kraulte abwesend Rileys Fell.
„Hier oben bei uns? Ich dachte, die Ölfirmen seien damit beschäftigt, die Hochebene rund um Denver zu bearbeiten.“
„Ich war auch erstaunt. Zumindest haben die Gemeinden jetzt ein Mitspracherecht.“
„Wie stehst denn du zu dem Projekt? Ich muss zugeben, ich bin völlig uninformiert. Zu viel anderes im Kopf.“
Valentina zuckte die Schultern.
„Ich bin grundsätzlich dagegen. Der National Forest ist schützenswert. Jeder Wald eigentlich, angesichts der großen Klimaprobleme. Allerdings ist es nicht von der Hand zu weisen, dass solche Projekte viele Jobs mit sich bringen.“
„Jobs und alle anderen Probleme, die Fremde so mit sich bringen. Bin ja mal gespannt, was der Sheriff davon hält. Aber um auf deine Frage zurückzukommen, ich werde da sein. Vielleicht erfahren wir ja Wissenswertes.“
„Wir werden auch kommen. Bringst du Riley zurück? Dann kann ich weitermachen.“
„Klar. Bis später.“ Er schaute auf seinen Hund hinunter. „Komm. Boomer wartet sicher schon sehnsüchtig auf dich.“
*
Ross rieb sich die müden Augen. Heute sollte das unvermeidliche Treffen des Gemeinderats stattfinden. Er hoffte nur, seine Drohung hatte Powell deutlich gemacht, dass er mit dem Bürgermeister Klartext reden musste. Gestern noch war er nach Breckenridge gefahren und hatte sich ein wenig Abwechslung gegönnt. Es hatte nicht lang gedauert, bis er eine Frau gefunden hatte, die für ein paar Drinks bereit gewesen war, ihm den Abend zu versüßen. Das fehlte in Independence eindeutig: eine ordentliche Kneipe, in der reichlich Alkohol floss und die Frauen Verständnis dafür hatten, was ein hart arbeitender Mann brauchte, um sich zu entspannen. Er grinste. Wenn die Bohrstelle nicht zum Laufen kam, konnte er vielleicht einfach eine Bar aufmachen. Die Idee hatte etwas für sich. Er wäre sein eigener Chef und niemand würde ihm sagen können, was er zu tun und zu lassen hatte. Hm …
Er schlüpfte in seine dreckigen Hosen und zog sich ein Hemd über. Heute wollte er die nächsten Leitungen setzen, bevor er runter ins Dorf ging und in Erfahrung brachte, was bei der verdammten Gemeindeversammlung herausgekommen war. Powell nahm seine Warnung besser ernst. Sonst würde er am eigenen Leib spüren, was dabei herauskam, wenn man sich mit ihm anlegte. So langsam hatte er das Gefühl, er hätte sich besser von Anfang an auf seinen Chef konzentriert. Er war derjenige, der nicht aktiv wurde. Was nützte es, wenn er die Häuser des Bürgermeisters abfackelte, wenn diesem niemand einflüsterte, weshalb das geschah?
Einen Kaffee in der Hand, stapfte er zu der Bohrstelle. Nach einer Prüfung der Leitungen richtete er sich zufrieden auf. Wie erwartet, lieferten sie die gewünschte Menge an Erdgas. Zu schade, dass er noch nicht in der Lage war, das Gas abzufüllen. Colorado war nach Texas und North Dakota der Bundesstaat, der mit der Fracking-Technik das meiste Öl und Gas produzierte. Und bei Gott, er würde sich eine Scheibe von dem Kuchen abschneiden.
Er richtete sich auf und wanderte zu seinem behelfsmäßigen Lager. Hier lagen die verschiedensten Rohre, tonnenschwere Säcke mit Zutaten, um den Zement anzumischen, und unzählige Fässer mit Fracking-Flüssigkeit, teils bereits leer, teils noch gefüllt. Pfeifend begann er die für heute benötigten Rohrteile zu markieren, als er einen unbekannten Fußabdruck entdeckte. Schweiß brach aus seinen Poren. Hatte jemand sein Lager entdeckt? Die Augen zu Schlitzen verengt, drehte er sich einmal um seine eigene Achse und spähte in die Runde. Alles war ruhig. Die Wildtiere gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Das verriet ihm, dass er allein war. Zumindest im Moment. Wer wusste schon, wie lange das noch so bleiben würde?
Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, ging er in die Knie. Der Fußabdruck stammte von einem Outdoor-Schuh. Von der Größe her tippte er auf eine Frau. Aber was machte eine Frau an seiner Bohrstelle? Noch dazu in der Nacht? Das ergab keinen Sinn. Die Stelle war sehr abgelegen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand zufällig darüber stolperte. Und wieso zum Teufel hatte sein Alarmsystem nicht funktioniert? Ratlos richtete er sich wieder auf. Nach einer systematischen Untersuchung der Umgebung war er genauso schlau wie zuvor. Außer einem weiteren, partiellen Fußabdruck hatte er nichts gefunden. Hieß das, dass sein nächtlicher Besucher besonders geschickt war? Oder war er in der Dunkelheit einfach zufällig über die Rohre gestolpert und hatte dann beschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen?
Er rieb sich das Kinn. Gut möglich, dass der Wanderer … er stutzte. War das nicht ebenfalls eine Frau gewesen, die er mit dem Schuss verscheucht hatte? Konnte es tatsächlich sein, dass sie so dumm war, trotz oder gerade wegen der Warnung in diese Gegend zurückzukehren und herumzuschnüffeln?
So oder so hatte sich der Zeitplan durch diesen Umstand massiv beschleunigt. Entweder Powell machte heute Nachmittag Nägel mit Köpfen, oder er musste Schadensbegrenzung betreiben und dem ganzen Projekt den Rücken kehren. Verdammt, verdammt, verdammt! Außer … Ein fieses Lächeln zog sich über sein Gesicht. Außer, er fand die Schnüfflerin und machte sie mundtot.
*
Als Sunny in Richtung des Diners hastete – die Gemeindeversammlung war aufgrund der erwarteten Teilnehmerzahl aus Platzgründen dorthin verschoben worden –, verfluchte sie ihre gestrige Impulsivität. Nicht nur, dass sie praktisch nichts über ihren Angreifer herausgefunden hatte, was hieß, dass sie die Tour noch einmal machen durfte, sondern sie hatte sich auch noch dazu hinreißen lassen, Luke zu küssen. Ein Fehler von epischen Ausmaßen.
Die wenigen Stunden, die sie hätte schlafen können, hatte sie wach gelegen und sich ruhelos von einer Seite zur anderen gewälzt. Das Summen in ihren Adern, das begonnen hatte, sobald ihre Lippen auf Lukes getroffen waren, hatte nicht nachgelassen, nachdem sie sich von ihm verabschiedet hatte. Ganz im Gegenteil. Ihre Haut fühlte sich extrem empfindlich an, als wäre jedes Nervenende einzeln aufgewacht. Fast wäre sie in Versuchung geraten, sich mit ihrem batteriebetriebenen Boyfriend Erleichterung zu verschaffen. Nur die Gewissheit, dass es nicht an das echte Erlebnis heranreichen würde, hatte sie davon abgehalten. Zusätzlicher Frust war das Letzte, was sie gebrauchen konnte.
Es half auch nicht, dass sie sich nicht so richtig entscheiden konnte, wem sie als Erstes von ihren Entdeckungen erzählen sollte. Schuldbewusst dachte sie an ihr Versprechen, mit dem Sheriff zu reden. Aber vielleicht war es doch besser, vorher nochmals Quinns und Archers Rat einzuholen? Auf diese Art und Weise drehten sich ihre Gedanken seit den frühen Morgenstunden im Kreis, nur ab und zu unterbrochen von Erinnerungen an den Kuss.
Ihre Unentschlossenheit hatte sie so lange gelähmt, bis es Zeit für die Gemeindeversammlung gewesen war. Sie war entschlossen, wenigstens dort ihr Gesicht zu zeigen. Anschließend konnte sie immer noch mit Jake Carter sprechen.
Als eine der Letzten schlüpfte sie in den großen Gastraum. Wie immer bei solchen Anlässen hatten die Disney Sisters sämtliches Mobiliar zur Seite geräumt, um mehr Platz für die Anwesenden zu schaffen. Mr. Wilkinson stand bereits auf seinem leicht erhöhten Rednerpult. Schräg gegenüber erblickte sie Luke, der mit seiner gesunden Schulter an der Wand lehnte. Als er sie erblickte, schenkte er ihr ein träges Lächeln, das das Summen in ihrem Inneren verstärkte. Meine Güte, hatte sich etwa ein Schwarm Wespen in ihren Innereien eingenistet? Um einen falschen Eindruck zu vermeiden, warf sie ihm einen bösen Blick zu. Anstatt wegzuschauen, grinste er frech. Aaargh! Dieser Mann!
*
Luke freute sich, als er Sunny erblickte. Bei ihrem Anblick wurde ihm augenblicklich warm ums Herz. Und ja, auch weiter südliche Körperregionen regten sich interessiert. Doch dafür war jetzt weder die richtige Zeit noch der richtige Ort. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, sie aus der Ferne zu bewundern. Selbst ihr böser Blick schaffte es nicht, seine Stimmung zu trüben. Der gestrige Kuss verriet ihm, dass er ihr nicht so gleichgültig war, wie sie ihn die letzten Monate hatte glauben lassen. Wie hieß es doch? Das Leben war schön. Mehr als je zuvor war er überzeugt, dass sie zusammengehörten. Letzte Nacht war ihm klar geworden, dass er eine Menge Arbeit vor sich hatte, wenn er wollte, dass sie ihm noch eine Chance gab. Der kleine Einblick in ihre Gefühle, den sie ihm gestern unfreiwillig, wie er vermutete, gegeben hatte, war genau der Ansporn, den er brauchte, um das endlich in Angriff zu nehmen. Auch wenn das bedeutete, sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
*
Mr. Wilkinson klopfte gegen das Mikrofon. Gespannt verstummten die Anwesenden und richteten seine Aufmerksamkeit auf ihn. Das Thema Fracking war bei Befürwortern wie auch Gegnern sehr emotional aufgeladen. Keiner wollte die Gelegenheit verpassen, sich mit seiner Meinung Gehör zu verschaffen.
Der Bürgermeister räusperte sich.
„Wir haben dieses Treffen heute einberufen, um über die Möglichkeit einer Bohrstelle im National Forest zu sprechen. Dieses Anliegen wurde von Mr. Powell, dem Hauptinvestor von
Rocky Oil and Gas Inc.
, an uns herangetragen.“
Er deutete in Richtung eines makellos gekleideten Mannes, der neben dem Rednerpult stand und in die Menge winkte.
Ace, der nach Sunny eingetroffen war und direkt hinter ihr stand, beugte sich vor und flüsterte: „Kommt das nur mir so vor, oder sieht er mehr wie ein Priester aus als wie ein Geschäftsmann?“
„Hm. Das kann ich erst beurteilen, wenn er spricht. Ich frage mich vielmehr, wieso Mr. Wilkinson ihn ansieht, als würde er ihn am liebsten zum Frühstück verspeisen.“
„Stimmt. Wenn Blick töten könnten …“
„… wäre der Investor jetzt tot“, vervollständigte Sunny nachdenklich den Satz.
„Bevor jetzt alle wild durcheinanderreden, will ich darauf hinweisen, dass unsere Entscheidung gut überlegt sein will. Es stimmt, seit Kurzem haben wir als Gemeinde die Möglichkeit, ein solches Vorhaben im Ansatz zu stoppen. Allerdings will ich zu bedenken geben, dass die Öl- und Erdgasförderung über Jahre viele Jobs verspricht.“
„Jobs für wen?“, rief jemand dazwischen.
„Und was ist mit dem Naturschutz?“, ertönte Laras klare Stimme.
„Wir können nicht alle unser Geld mit einem Streichelzoo verdienen“, kam die gehässige Antwort von der anderen Seite.
„Wollen wir, dass unsere kleine Stadt so schnell wächst? Es ist bekannt, dass viele der Jobs auch an Auswärtige vergeben werden.“
„Und wer garantiert uns, dass das Grundwasser nicht leidet?“
Die Diskussion schwoll immer mehr an, bis kaum mehr ein Wort vom anderen zu unterscheiden war. Schließlich hob Mr. Wilkinson seinen Hammer und ließ ihn aufs Pult sausen.
„Lassen wir doch Mr. Powell erklären, wie er sich das vorgestellt hat.“
Sunnys Gedanken rasten. Der National Forest. Konnte das, worüber sie gestern gestolpert war, eine illegale Frackingstelle sein? Und wenn ja, was hieß das für die Abstimmung? Bevor sie zu einem Schluss gekommen war, ergriff der Investor das Wort.
„Es ist uns eine Freude, als erste Firma Erdgasförderung nicht nur in den großen Ebenen rund um Denver, sondern auch in den Bergen voranzutreiben. Die Erfahrung zeigt, dass Bohrstellen großen Wohlstand für die Umgebung versprechen.“
„So lange, bis die Vorkommen erschöpft sind“, murmelte jemand, laut genug, dass er gehört wurde.
„Ganz zu schweigen von der erhöhten Kriminalität, die mit einem plötzlichen Zufluss an Einwohnern einhergeht“, rief Miss Minnie von hinten.
„Gut, dass Sie das ansprechen“, nahm Mr. Powell den Faden auf. „Es ist ja nicht so, dass Independence von kriminellen Elementen verschont geblieben wäre. Wie mir zu Ohren gekommen ist, haben Sie aktuell mit einer Reihe von Bränden zu kämpfen. Es wird gemunkelt, dass es Brandstiftung gewesen ist.“ Er schaute bedeutungsvoll in die Runde. „Schon mal darüber nachgedacht, dass der Täter vielleicht eine Person sein könnte, die verzweifelt ist, weil sie keinen Job findet? Wäre doch zu schade, wenn solche Dinge zur Tagesordnung werden würden, nur weil ein paar Ewiggestrige eine potenzielle Einnahmequelle verhindern wollen?“
Sunny lehnte sich zu Ace hinüber.
„Deine Vermutung mit dem Priester war gar nicht schlecht. Mich erinnert er allerdings eher an die Quacksalber aus den alten Western, die Schlangenöl als Allheilmittel vertrieben.“
Ace lachte leise.
„Hat was.“ Dann wurde er wieder ernst. „Wenn das seine Argumentation ist, frage ich mich, ob er etwas mit den Feuern zu tun hat.“
Sunnys Blick schnellte von ihm zu Powell und wieder zurück.
„Ernsthaft? Traust du ihm das zu?“
Ace zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Aber es ist schon auffällig, wie gut die Vorfälle zu seiner Rhetorik passen.“
„Stimmt. Was wirst du jetzt tun?“
„Auf jeden Fall mit Jake sprechen.“
„Gute Idee. Ich komm mit. Ich habe auch noch etwas, das ich ihm erzählen muss.“
„Dann lass uns anschließend zusammen gehen.“
Sie schauten auf, als Mr. Wilkinson wieder das Wort ergriff.
„Ich hoffe, dass die dringendsten Fragen fürs Erste beantwortet sind.“ Als darauf ein unzufriedenes Gemurmel in der Menge aufkam, hob er beruhigend die Hände.
„Der gesamte Gemeinderat wird diese Woche jeden Vormittag für Fragen zur Verfügung stehen. Kommt vorbei zu einem persönlichen Gespräch. Nächsten Sonntag ist die Abstimmung.“
Überrascht und wenig erfreut hob Mr. Powell den Kopf.
„Die Abstimmung findet nicht heute statt?“
Mr. Wilkinson funkelte ihn böse an.
„Nein. Nächsten Sonntag.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ließ er seinen Hammer abermals herabsausen. Bei dem lauten Knall zuckte Mr. Powell unmerklich zurück. Ein Blick in die aufgebrachte Menge verriet ihm, dass es unklug wäre, auf einer sofortigen Entscheidung zu beharren. Verdammte Hinterwäldler. Wenn die wüssten, wie viel Geld er mit jedem Tag, den die Verzögerung andauerte, verlor!
Erbost drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Diner.
Sunny und Ace sahen ihm dabei zu und blickten sich dann fragend an.
„Lass uns Jake finden. Vielleicht kann er ein wenig Licht in die Sache bringen“, schlug Sunny vor. Auf einmal konnte es ihr nicht schnell genug gehen, den Sheriff einzuweihen.
„Gute Idee. Ich finde, die Sache stinkt zum Himmel.“
*
Luke beobachtete Ace und Sunny eifersüchtig, als sie die Köpfe zusammensteckten. Als sie anschließend die Versammlung zusammen verließen, hätte er beinahe der Versuchung nachgegeben und wäre ihnen gefolgt. Da er aber hart daran arbeitete, sich ausnahmsweise nicht wie ein Idiot zu benehmen, hielt er sich zurück. Rational wusste er, dass zwischen den beiden nichts lief. Erstens war Ace völlig in seine Frau Paige verliebt, und zweitens hatte Sunny gestern ihn und nicht Ace geküsst. Nur leider interessierten diese Fakten das grünäugige Monster in seiner Brust überhaupt nicht. Er seufzte. Ganz schön viel Arbeit, eine bessere Version von sich selbst zu erschaffen. Besser, er bereitete sich mental auf das morgige Treffen mit Kurt vor. Mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick in die Richtung, in die Sunny verschwunden war, setzte er sich widerwillig in Bewegung.