Kapitel 15
Der Sheriff Jake Carter drehte sich vor dem Polizeipräsidium überrascht um, als er Sunnys Ruf hörte.
„Wollt ihr zu mir? Gibt es Neuigkeiten bezüglich der Brände?“, fragte er, während er erst den Feuerwehrchef, dann Sunny fragend anschaute.
„Nicht direkt“, antwortete Ace. „Aber es gibt ein paar Dinge, die wir gerne besprechen wollen.“
„Na klar, kommt rein.“ Er hielt die Tür hinter sich auf und wartete, bis Ace sie fest im Griff hatte. „Polly, hast du Kaffee aufgesetzt?“
„Natürlich“, antwortete sie. „Habt ihr die Gemeindeversammlung erfolgreich hinter euch gebracht?“
Jake hängte seinen Hut am Kleiderständer auf.
„Ein erster Schritt ist mal gemacht. Aber die Leute sind sich sehr uneinig.“
„Das war zu erwarten. Das ist wieder einmal typisch für den Bürgermeister“, wetterte sie halblaut vor sich hin. „Er denkt einfach nicht nach, bevor er sein nächstes, großartiges Projekt anzettelt.“
„Wie immer hast du recht. Ich glaube, Mr. Wilkinson war sich nicht bewusst, wieviel Opposition ihm bei diesem Vorhaben entgegenschlagen würde.“
„Fairerweise muss man sagen, dass er heute nicht den Eindruck gemacht hat, als würde er das Projekt um jeden Preis vorantreiben wollen“, versuchte Sunny die Gemüter zu beruhigen.
„Pfff. Jetzt ist es vielleicht schon zu spät. Jetzt, wo ein Teil der Leute sich auf neue Jobs in der Region freut, wird es schwierig, einen Rückzieher zu machen“, antwortete Polly wenig beeindruckt.
Jake und Ace hingegen musterten Sunny nachdenklich, bevor sie einen Blick austauschten.
„Wäre spannend zu wissen, woher Mr. Wilkinsons plötzlicher Sinneswandel kommt“, murmelte Ace schließlich.
„Vielleicht sind die Zahlen nicht so gut, wie er geglaubt hat?“, vermutete Sunny.
Der Sheriff schüttelte den Kopf.
„Das kann ich mir kaum vorstellen. Der Bürgermeister ist ein gewiefter Zahlenmensch. Ich bezweifle, dass er sich so leicht hinters Licht führen lässt. Meine Vermutung ist eher, dass Druck auf ihn ausgeübt wird.“
Polly lachte.
„Das verträgt Mr. Wilkinson ja ganz schlecht. Wenn jemand anders ihm sagt, was er zu tun und zu lassen hat.“
Ace räusperte sich.
„Ist euch auch aufgefallen, dass die ganze Brandserie nur Gebäude getroffen hat, die Mr. Wilkinson gehören?“
„Ja. Wir hatten uns überlegt, ob vielleicht Mr. Powell den Bürgermeister damit unter Druck setzen wollte?“
„Brandstiftung als Mittel zur Überzeugung?“, fragte Jake ungläubig. „Was soll das bringen? Die Gebäude sind doch bestimmt versichert.“
„Schon. Aber abgesehen von den Mühen, die Häuser wieder bewohnbar zu machen, und dem Einkommensausfall, kommt jedes Mal sein Ruf zu Schaden.“ Sunny warf beide Hände in die Luft, um ihren Worten Ausdruck zu verleihen. „Wenn das so weitergeht und die Leute von selbst darauf kommen, dass die Feuer immer nur in seinen Wohnungen ausbrechen, werden sie es tunlichst vermeiden, Mieter bei ihm zu werden.“
Jake blieb skeptisch.
„Klingt nach einem Plan, der auf eine längere Dauer angelegt ist. Ein Plan, der Geduld erfordert. Das, was ich heute von dem Mann beobachten konnte, deutet eher auf ein ungeduldiges Wesen hin.“
Ace zuckte mit den Schultern.
„Trotzdem ist es das erste, richtige Motiv, das wir haben. Dazu passen würde auch, dass bei allen Feuern niemand zu Schaden kam. Bis jetzt zumindest.“
„Gottseidank“, stieß Polly inbrünstig hervor und stellte jedem eine Tasse Kaffee vor die Nase.
„Das heißt aber nicht, dass es so bleibt“, warnte Sunny.
„Natürlich nicht“, gab Ace zu.
Jake deutete mit dem Zeigefinger auf Ace.
„Also gut. Gehen wir davon aus, dass dein Verdacht gerechtfertigt ist. Dann brauchen wir Beweise!“
„Das ist mir klar. Schick deine Deputies vorbei. Dann können wir vergleichen, was wir bis jetzt gefunden haben. Ich muss allerdings ehrlich sein: Bis jetzt haben wir praktisch nichts …“
„Denkt ihr, Mr. Wilkinson weiß Bescheid?“, fragte Sunny in die Runde.
„Es würde zumindest seine schlechte Laune heute erklären.“
Ace kaute unentschlossen auf seiner Unterlippe.
„Aber das ist ja fürchterlich“, rief Sunny aus. „Das würde ja bedeuten, dass er es in Kauf nimmt, dass seine Mieter in Gefahr sind.“
„Falls er Bescheid weiß, täte er gut daran, mich zu informieren“, stimmte Jake zu. „Andererseits können wir ohne Beweise nicht viel tun. Nur wegen ein paar hitzigen Worten kann ich niemanden einsperren.“
„Leider!“ Das kam von Polly, die sich keine Mühe gab zu verbergen, dass sie das Gespräch mit großem Interesse verfolgte.
„War das alles?“
Ace nickte, doch Sunny schien außerordentlich intensiv ihre Fingernägel zu studieren. Ganz so, als ob sie noch etwas auf dem Herzen hätte.
„Sunny?“
„In Anbetracht eines möglichen Feuerteufels ist es eigentlich nichts.“
Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt etwas sagen sollte. Die Polizei und die Feuerwehr hatten genug zu tun, auch ohne ihre Räubergeschichten.
Ace, der durch die langjährige Zusammenarbeit zur Genüge mit der Tatsache vertraut war, dass Sunny Dinge, die sie betrafen, gerne herunterspielte, wurde sofort hellhörig.
„Und was genau ist
eigentlich
nichts
?“, hakte er freundlich, aber bestimmt nach.
Sunny holte tief Luft und erzählte die ganze Geschichte, angefangen bei ihrer Wanderung, bei der sie angeschossen – oder beinahe angeschossen – worden war, weiter über die seltsamen Fallen bis hin zu ihrer Entdeckung gestern am Berg.
Jakes Gesichtsausdruck verdunkelte sich immer mehr, bis seine Miene einer dunklen Gewitterwolke glich.
„Du willst mir erzählen, dass auf dich geschossen wurde, und statt dass du direkt zu mir gekommen bist, um mir das zu erzählen, hast du dich allein auf Erkundungstour begeben?“
In diesen wenigen Worten zusammengefasst klang es tatsächlich etwas größenwahnsinnig, musste Sunny zugeben. Sie zog unmerklich den Kopf ein.
„Ich bin davon ausgegangen, dass es sich um einen simplen Jagdunfall handelte“, erwiderte sie patzig.
„Ja, richtig. Ein Jagdunfall.“
„Was denn sonst? Ich habe keine Feinde.“
„Ich befürchte, das ist falsch formuliert.“
„Was?“
„Das müsste heißen,
ich hatte keine Feinde
. Mit Betonung auf die Vergangenheitsform. Was meinst du, was geschieht, wenn der Täter herausfindet, dass du ihm hinterherspionierst?“
Sunny winkte ab.
„Das glaube ich nicht. Das Alarmsystem habe ich beim zweiten Mal erfolgreich ausgetrickst. Keine Chance, dass der Typ merkt, dass ich da war. Und selbst wenn, hat er keine Ahnung, wer ich bin oder was meine Absichten sind.“
„Die Absichten sind Verbrechern in der Regel völlig egal. Sie wollen einfach kein Risiko eingehen, erwischt zu werden. Punkt. Tote Leute reden nicht. Und tot ist tot“, entgegnete er harsch, entschlossen, ihr unmissverständlich klar zu machen, in welcher Gefahr sie sich befand.
„Ist ja gut. Ich habe dich verstanden. Aber was machen wir jetzt mit meinem Fund?“
„Die paar Röhren, meinst du?“
„Ja.“ Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
Er zuckte mit den Schultern.
„Wenn du mir die Koordinaten gibst, schicke ich einen meiner Männer, um es auszukundschaften. Aber das wird ein paar Tage dauern. Unsere erste Priorität ist der Feuerteufel. Ich werde verdammt noch mal nicht zusehen, wie jemand unsere kleine Stadt in Schutt und Asche legt!“
Sunny ließ enttäuscht die Schultern hängen, doch sie verstand seine Argumentation
„Gib sie mir“, ließ sich Polly aus dem Hintergrund vernehmen. „Ich habe Zeit. Mein Mann ist für eine Woche zum Fliegenfischen gefahren. Das passt wunderbar.“
Die beiden Männer drehten sich um und schauten sie ungläubig an.
„Was?! Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche.“
„Aber, was …“ Jakes Stimme brach ab, als er sah, wie sich Pollys Augen zu Schlitzen verengten und ihr Gesicht eine ungesunde rote Farbe annahm.
„Was wolltest du sagen?“
„Äh, nichts.“
„Dann ist es ja gut. Ich dachte schon, du Grashüpfer wolltest mir meinen Job erklären.“
Amüsiert über die beiden Männer, die einen zweifelnden Blick austauschten, schüttelte Sunny den Kopf. Vielleicht sollte sie mit Luke etwas nachsichtiger sein. Anscheinend war sein Problem, Frauen als ebenbürtig zu betrachten, weiter verbreitet, als sie gedacht hatte. Traurig eigentlich, dass das immer noch so war, aber offensichtlich schwierig zu ändern.
„Würde ich mich nie trauen“, murmelte Jake.
„Hat Polly eben aus der Kung Fu-Serie zitiert?“, fragte Ace beeindruckt in die Runde.
Sunny grinste.
„Ich hab’s auch gehört.“
„Polly ist ab sofort mein Vorbild“, schwärmte der Feuerwehrchef.
Der Sheriff kniff sich mit zwei Fingern in die Nasenwurzel und versuchte so, die drohenden Kopfschmerzen in Schach zu halten.
„Dann hätten wir ja alles besprochen. Du“, er wandte sich an Ace, „sprichst mit meinen Deputies. Mit vereinten Kräften werden wir den Brandstifter hoffentlich bald schnappen. Polly kümmert sich um Sunnys Fund, und du“, er schenkte Sunny einen eindringlichen Blick, „versuchst dich die nächsten Tage unauffällig zu verhalten.“ Als sie zum Protest ansetzte, hob er eine Augenbraue. „Hast du nicht eine Klinik zu eröffnen? Und einen Waschbären zu bespaßen?“
Sunny klappte ihren Mund wieder zu. In Anbetracht der Tatsache, dass ihre Schulter bei gewissen Bewegungen immer noch lautstark protestierte, die gestrigen nächtlichen Aktivitäten waren für den Heilungsprozess nicht gerade hilfreich gewesen, klangen ein paar ruhige Tage gar nicht schlecht.
*
Zum ersten Mal seit Langem wusste Ross nicht, was er tun sollte. Es war reiner Zufall gewesen, dass er die Wanderin bei der Gemeindeversammlung entdeckt hatte. Wenn sie nicht dieselbe, auffällige rotgelbe Jacke getragen hätte, hätte er sie vermutlich übersehen. Mit der Idee, herauszufinden, wo sie wohnte, war er ihr aus dem Diner gefolgt. Als er gesehen hatte, dass sie ausgerechnet zum Sheriff ging, war ihm doch tatsächlich für einen Moment das Herz stehen geblieben. Der alte Ticker hatte in der nächsten Sekunde seinen Dienst wieder aufgenommen, doch eine Lösung hatte sich ihm noch nicht präsentiert. Es gab keinen Zweifel, die Situation wurde immer brenzliger. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es oben am Berg an der Bohrstelle von Polizisten nur so wimmelte. Er vermutete, dass die Bevölkerung nicht erfreut wäre zu erfahren, dass mit den Bohrungen bereits begonnen worden war. Und da die verdammte Abstimmung erst in einer Woche stattfinden würde, war praktisch garantiert, dass sie ihm auf die Schliche kamen. Das war alles nur Powells Schuld. Der Investor war einfach zu nichts zu gebrauchen. Was für ein riesen Durcheinander.
Sein Magen knurrte laut und erinnerte ihn daran, dass er schon lange nichts mehr gegessen hatte. Ratlos, was er als Nächstes tun sollte, drehte er um und schlug den Weg zurück zum Diner ein. Sich sorgen und Pläne schmieden konnte er auch beim Essen. Wer wusste schon, wie lange er noch die Gelegenheit haben würde, entspannt in einem Restaurant zu sitzen, ohne ständig über die Schulter zu schauen.
Der Witz war, dass ihm die kleine Stadt mit ihren sturen Bewohnern fast ein wenig ans Herz gewachsen war. Es würde ihm leidtun, sie zu verlassen. Er hatte sich bereits gefreut, die nächsten Jahre hier zu arbeiten.
*
Luke parkte seinen Truck vor dem Clubgebäude. Seine Therapiestunde war eigentlich erst morgen. Aber er hoffte, dass Kurt ihn auch außerhalb des vereinbarten Termins empfangen würde. Waren Therapeuten nicht sogar dazu verpflichtet? Wie Ärzte? Notfalldienst sozusagen? War er ein Notfall? Er hoffte nicht. Aber alles in ihm drängte ihn dazu, es hinter sich zu bringen.
Luke atmete tief durch, gab sich innerlich einen Schubs und stieg aus. Bevor er die Nerven verlor, joggte er entschlossen zur Tür und klopfte.
Ein gedämpftes Grunzen aus dem Inneren war die einzige Antwort. Zu ungeduldig, um zu versuchen, Grunzlaute korrekt oder überhaupt zu interpretieren, stieß er die Tür auf.
Kurt hob den Kopf und schaute ihn über den Rand seiner Lesebrille erstaunt an.
„Ist bereits Dienstag?“ Mit gerunzelter Stirn beäugte er das Buch in seiner Hand. „Das Buch ist gut. Aber so gut, dass ich Zeit und Raum vergesse?“, grübelte er laut.
„Lass den Scheiß“, gab Luke zurück und zog aus seiner Jacke ein eiskaltes Bier hervor, das er Kurt entgegenstreckte.
„Ich habe einen Kühlschrank, weißt du? Mit Bier drin.“ Trotzdem ergriff er die dargebotene Flasche und entfernte den Kronkorken mit einer einzigen Drehbewegung seiner riesigen Pranken.
Luke hätte bei dieser offensichtlichen Zurschaustellung seines Harten-Kerl-Status beinahe die Augen verdreht. Gerade noch rechtzeitig unterdrückte er den Drang. Er wollte es sich mit dem Biker nicht verscherzen. Er hatte nicht vergessen, dass Kurt derjenige war, der das Sagen hatte, wann er wieder arbeiten durfte. Wobei … vorerst kam das ja sowieso nicht in Frage. Das gab ihm ein wenig Spielraum. Fast hätte er gegrinst.
„Was ist denn mit deinem Arm los?“, fragte Kurt.
Luke seufzte.
„Dir entgeht aber auch nichts.“
„Ich bin alt, nicht blind.“
„Du hättest auch höflich darüber schweigen können.“
Kurt schnaubte und hätte vor lauter Lachen beinahe den Schluck Bier, den er eben getrunken hatte, durch die Nase wieder ausgespuckt.
„Genau. Weil mein zweiter Vorname ‚höfliche Zurückhaltung‘ ist“, erwiderte er trocken, als er wieder atmen konnte.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, konterte Luke genauso trocken.
„So, genug von dem Quatsch. Alles Ausweichmanöver. Deine Schulter?“
„Ich bin nicht wegen meiner Schulter hier. Wenn es um meine Schulter gehen würde, wäre ich ins Krankenhaus gefahren. Ich dachte, du bist mein Therapeut?“
„Aaah“, kommentierte Kurt bedeutungsvoll, während er in seine Tasche griff und eine Pfeife hervorholte. „Deine Therapiestunde? Die ist erst morgen. Wenn du die heute machen willst, gerne. Aber da du in meiner Freizeit aufgetaucht bist, gelten meine Regeln. Heute will ich erst wissen, was mit deiner Schulter passiert ist.“
„Sonst?“
„Sonst lässt du mich jetzt in Ruhe weiterlesen und kommst morgen wieder.“
Kurt hob die Schultern und ließ sie wieder fallen, als würde es für ihn überhaupt keine Rolle spielen, wofür sich Luke entschied. Was es vermutlich auch nicht tat, wie er sich eingestand. Die Welt drehte sich nun mal nicht ausschließlich um ihn.
„Hast du noch ein Bier für mich?“, fragte er Kurt, als ihm klar wurde, dass er aus dieser Nummer nicht herauskommen würde.
Kurt verdrehte die Augen und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung Kühlschrank, der an der Wand stand.
„Bedien dich“, brummte er. „Muss ja eine spannende Geschichte sein, wenn du dir erst Mut antrinken musst.“
Luke stieß ein bellendes Lachen aus, bevor er sich rittlings auf die hölzerne Bank fallen ließ.
„Nachdem der Held, also ich, ganz unheldenhaft in ein ausgetrocknetes Flussbett gefallen ist und es geschafft hat, sich dabei auch noch die Schulter auszurenken, sodass er jemanden um Hilfe bitten musste, ist Alkohol definitiv hilfreich.“ Er reckte das Kinn in Richtung von Kurts Hand, mit der er die fertig gestopfte Pfeife hielt. „Ich wusste gar nicht, dass du Pfeife rauchst?“
Kurt schenkte ihm einen bösen Blick.
„Tue ich auch nicht.“
Er zog ein Streichholzbriefchen hervor und zündete den Tabak an, bevor er sie sich in den Mund steckte.
„Nicht?“
„Nein.“ Kurts Stimme duldete keinen Widerspruch. „Du hast nichts gesehen, nichts gehört, gar nichts.“
Lukes Mund verzog sich zu einem wissenden Grinsen.
„Miss Daisy weiß nicht, dass du Pfeife rauchst.“
„Und sie wird es auch besser nie erfahren. Falls doch, weiß ich, wen ich dafür verantwortlich mache.“
Abwehrend hob Luke die Hände in die Luft.
„Ich werde schweigen wie ein Grab. Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst.“
„Kluger Junge. Jetzt zurück zu deinem Abenteuer. Du hast einige wesentliche Details ausgelassen. Ich bin vielleicht alt, aber noch lange nicht senil.“
„Leider“, murmelte Luke.
„Was war das?“
„Nichts, nichts. Gar nichts. Welche Einzelheiten hättest du denn gerne gewusst?“
„Erstens: Wie hast du es geschafft, in ein Bachbett zu fallen? Zweitens: Weshalb warst du in der Nähe eines Bachbetts? Und drittens: Wer ist dir zu Hilfe gekommen?“
War ja klar, dass der alte Bastard gleich zum Kern der Sache vordringen und nicht zulassen würde, dass er die unangenehmen Punkte umschiffte. Aber vielleicht gab es eine Möglichkeit, Kurts Fokus zu … na ja, sagen wir mal, zu verschieben?
„Sunny war offenbar letzte Woche wandern. Dabei hat jemand auf sie geschossen.“
„Was!?“, rief Kurt aus und beugte sich über den Tisch.
„Ja. Keine Angst, es ist ihr nichts passiert. Sie wurde nicht getroffen. Zumindest nicht von der Kugel. Aber einer der Felssplitter, die beim Aufprall der Kugel entstanden sind, hat ihr den Arm aufgerissen.“
„Wurde der Kerl gefasst?“
Luke zog eine Grimasse.
„Nein. Sunny war aber geistesgegenwärtig genug, die Kugel zu suchen.“
„Und? Hat sie sie gefunden?“
„Ja, das hat sie tatsächlich. Archer war dann in der Lage, die Kugel als Teil der Army-Munition zu identifizieren, aber das war es auch schon.“
„Ein Sniper?“, fragte Kurt ungläubig.
Luke zuckte mit den Schultern.
„Sieht ganz danach aus. Oder jemand, der mit einer modifizierten Jagdflinte schießt. Das ist oder war zumindest Sunnys Theorie. Ein Jagdunfall. Fällt mir allerdings schwer zu glauben, da sie immer Jacken in leuchtenden Farben trägt. Rehe sind nicht bunt.“
„Ein Jagdunfall, meine Fresse. Das glaubt doch keine Sau!“ Er machte eine Pause, während er das Gehörte in Zusammenhang zu bringen versuchte. „Aber was hat das damit zu tun, dass du die Schulter ausgekugelt hast? Hat dich ebenfalls jemand als Zielscheibe benutzt?“
Luke stöhnte innerlich. Das wäre ja auch zu schön gewesen, wenn sein Ablenkungsmanöver geklappt hätte. Kurt war wie ein Terrier. Wenn er sich erst mal in ein Thema festgebissen hatte, ließ er nicht mehr davon ab. Sich mit seinem Schicksal abfindend, fuhr er mit seiner Geschichte fort.
„Ha! Das wäre ja wenigstens was, das ich stolz erzählen könnte. Leider ist das, was wirklich passiert ist, lange nicht so ruhmreich. Am selben Abend habe ich Sunny Essen vorbeigebracht. Du wirst stolz sein auf mich“, er grinste den älteren Mann an, „wir haben ganz zivilisiert miteinander gegessen, ohne dass wir uns an die Gurgel gegangen sind.“
„Hä? Das ist ja tatsächlich mal was Neues“, stellte Kurt beeindruckt fest.
„Sunny war auch überrascht. Allerdings nicht überrascht genug, um sich mir anzuvertrauen. Als ich sie gebeten habe, ihre Touren bitte nur mit einem Begleiter in Angriff zu nehmen, hat sie irgendetwas gemurmelt.“
„Ich nehme an, du hast ihr keine Sekunde geglaubt?“
Luke schnaubte.
„Natürlich nicht. Ich kenne Sunny. Nie im Leben würde sie so etwas auf sich beruhen lassen. Und wenn sie glaubt, alleine besser zurechtzukommen, stellt sie auf eigene Faust Nachforschungen an.“
Kurt lachte leise.
„So langsam habe ich eine Idee, wie das Ganze weitergeht. Aber erzähl ruhig weiter.“
„Ich bin froh, dass wenigstens für deine Unterhaltung gesorgt ist“, bemerkte Luke trocken. „Einen Tag später war es dann so weit. Sie hat sich bei Vollmond auf den Weg gemacht, und ich bin ihr gefolgt. Und nein, ich habe sie nicht gefragt, ob ich sie begleiten darf. Ich wusste ja, wie ihre Antwort lauten würde“, verteidigte er sich, bevor Kurt etwas sagen konnte.
Dieser hob nur die Hände.
„Ich habe gar nichts gesagt. Aber lass mich raten. Du bist ihr gefolgt, hast sie aus den Augen verloren, wolltest dich beeilen und bist an einer strategisch ungünstigen Stelle gestolpert.“
Luke nickte.
„Genau so. Und nachdem ich wusste, dass Sunny irgendwo in der Nähe war, habe ich sie kontaktiert. Ich hatte Glück, dass ich überhaupt Empfang hatte.“
„Das ist den beiden neuen Sendemasten zu verdanken. Die haben das lokale Handynetz massiv verbessert. Ist sie dir zu Hilfe geeilt?“
„Natürlich. Sie hat mich unverzüglich aus dem Flussbett befördert und dafür gesorgt, dass ich medizinisch versorgt werde.“ Als könnte er immer noch nicht ganz glauben, dass das alles tatsächlich so passiert war, schüttelte er den Kopf.
„Und seither ist dir klar, dass ein Leben ohne sie keine Option ist.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Luke nickte.
„Ja. Das trifft es auf den Punkt.“ Nervös fuhr er mit den Fingern durch seine Haare, bis sie zu allen Seiten wegstanden. „Ich habe auch darüber nachgedacht, was du gesagt hast.“
Kurt studierte ihn eindringlich.
„Und? Hast du die Antwort gefunden?“
„Ja. Seit gestern ist mir alles klar.“ Er sprang auf und begann in dem großen Raum hin und her zu spazieren. Vielleicht wurde er so seine überschüssige Energie los. „Ich weiß jetzt, weshalb ich zur Feuerwehr gegangen bin. Weshalb mir mein Job so wichtig ist und mein Beschützerinstinkt …“
„Stopp“, forderte ihn Kurt mit ausgestreckter Hand auf.
Luke schenkte ihm einen verständnislosen Blick.
„Was, stopp? Jetzt will ich endlich alles loswerden und du willst, dass ich ruhig bin?“
Kurt neigte bejahend den Kopf und paffte an seiner Pfeife. Der schwere Duft nach Vanille und Tabak füllte den Raum.
„Aber weshalb?“
„Ich bin nicht derjenige, dem du es erzählen sollst.“
„Sondern?“
„Sunny.“
„Sunny?“
Kurt nickte und klopfte seelenruhig seine Pfeife aus.
Luke schluckte.
„Ich weiß nicht …“
„Du weißt nicht …?“
Luke wandte den Blick ab.
„Ob ich dazu in der Lage bin.“
Kurt drehte und wendete dieses Statement in seinem Kopf. Schließlich brummte er zustimmend.
„Muss ja auch nicht gleich heute sein. Komm morgen noch mal, zu unserer Therapiestunde. Vielleicht hilft dir das, was wir morgen besprechen, den Mut zu finden, dich Sunny gegenüber wirklich zu öffnen.“
Dankbar für den Aufschub, nickte Luke zustimmend. Die Vorstellung, Sunny sein Herz zu öffnen, war beängstigend. Dagegen war ein Gespräch mit Kurt ein Spaziergang im Park.
Kurt schien seine Gedanken zu erraten und schmunzelte.
„Nimm dir noch ein Bier. Du siehst aus, als könntest du eins brauchen.“