Kapitel 24
Chiara Leoni trieb ihre Siebtklässler auf die andere Seite der Straße, wo sich alle auf der gemähten Wiese versammelten. Sie konnte nicht glauben, dass sie ein Feuer erlebte, kaum hatte sie zwei Monate in der Schule gearbeitet. Zum Glück hatten sie die Feuerübung bereits ganz am Anfang des Schuljahrs mit allen Klassen durchexerziert. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie das sonst heute abgelaufen wäre. Sie wäre sich ziemlich dumm vorgekommen, wenn sie erst ihre Schüler nach dem Prozedere hätte fragen müssen.
Sie war stolz auf ihre Klasse. Normalerweise schwieriger unter Kontrolle zu halten als ein Sack voller Flöhe, blieben heute alle nahe beieinander. Sie schaute zum Schulhaus hinüber, wo die Feuerwehr immer noch dabei war, die Flammen mit dem großen Wasserwerfer zu löschen.
„Mrs. Leoni?“
Sie riss sich vom Anblick des Feuers los und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Shauna. Die Tochter von Paula Carter und Nate Bale hatte ihre ältere Schwester Leslie im Schlepptau. Sie runzelte die Stirn.
„Solltest du nicht bei deiner Klasse sein?“, fragte sie die Seniorschülerin streng.
„Mrs. Saunders hat das Okay gegeben. Wir wollen die Schüler und Lehrer zu dem Feuer interviewen. Vielleicht hat auch jemand etwas Verdächtiges gesehen. Es wird gemunkelt, dass es Brandstiftung war.“ Sie biss sich auf die Lippen, als wäre ihr plötzlich eingefallen, dass sie den letzten Teil wohl besser nicht erwähnt hätte. Zur Ablenkung stupste sie ihre Schwester mit dem Ellbogen an und fügte hastig hinzu: „Shauna ist wie immer für das Bildmaterial zuständig.“
Chiara ertappte sich dabei, wie sie ihre Hände rang. Abrupt verschränkte sie die Hände ineinander. Himmel, sie war nervöser als die beiden Teenager. Und das alles nur wegen des Feuers? Wohl eher, weil sie sich zum ersten Mal so richtig ihrer Verantwortung den Schülern gegenüber bewusst geworden war. Eine Feuerprobe im wahrsten Sinne des Wortes! Dabei waren die Kinder zu keiner Zeit in Gefahr gewesen. Der Alarm und die anschließende Evakuierung hatten wie am Schnürchen geklappt. Zudem war die Feuerwehr innerhalb von Minuten vor Ort gewesen.
„Ist das nicht gefährlich?“
„Wir halten den nötigen Sicherheitsabstand zum Feuer ein. Zudem werden uns Ethan und Jonas begleiten“, erklärte Shauna, die wie immer eine Antwort auf alle Fragen hatte.
Sie deutete auf die beiden Jungs hinter sich. Ethan war bereits fünfzehn und Jonas vierzehn. Beide waren für ihr besonnenes Verhalten bekannt, was man von den Carter-Mädchen, zumindest von Shauna, nicht unbedingt behaupten konnte.
„Bitte, Mrs. Leoni. Die Einwohner von Independence haben ein Recht, über die Vorgänge an der Schule auf dem Laufenden gehalten zu werden“, plädierte Shauna weiter.
Dieses Mädchen, dachte Chiara, beeindruckt wider Willen. Sie wünschte, sie könnte sich ein Stück vom Selbstvertrauen ihrer Schülerin abschneiden.
Ethan schaltete sich ein.
„Leslie und ich passen auf“, versicherte er ihr.
„Hey, und was ist mit mir?“, empörte sich Jonas, der das Gefühl hatte, außen vor gelassen zu werden.
Shauna legte ihm ihren knochigen Arm um die Schulter. Kein leichtes Unterfangen, nachdem er fast einen Kopf größer war als sie.
„Du passt natürlich auf mich auf“, versicherte sie ihm und tätschelte seinen Arm.
Chiara lachte. Shauna war unglaublich. Es würde sie nicht wundern, wenn sie irgendwann in der Zukunft hören würde, dass sie für das Präsidentschaftsamt kandidierte.
„Also gut. Ab mit euch. Aber sobald das Signal ertönt, kehrt ihr in eure Klassen zurück.“
„Yess!“, triumphierte Shauna.
Auch Leslies Augen funkelten. Die beiden Jungs drückten ihre Freude mit einem kurzen Faustcheck aus.
„Haltet mich auf dem Laufenden“, rief sie den vier Jugendlichen nach.
„Facebook“, rief Shauna über die Schulter.
Chiara rümpfte die Nase. Sie hasste Facebook, Instagram, einfach die gesamte Social-Media-Welt, inbrünstig. Aber heute Abend würde sie wohl eine Ausnahme machen und den News-Bericht zum Feuer lesen. Sie hoffte nur, dass ihr Name nicht darin vorkommen würde.
„Ich sehe, sie haben dich rumgekriegt“, meinte Lexi, die Lehrerin der vierten Klasse. Sie hatten beide diesen Herbst hier angefangen zu arbeiten und waren schnell beste Freundinnen geworden.
„Ha! Die Carter-Mädchen sind eine Naturgewalt. Vor allem gegen Shaunas Überredungskünste ist kein Kraut gewachsen.“
Lexi nickte und meinte, nur halb im Scherz: „Wenn ich groß bin, möchte ich so sein wie sie. Mutig und unerschrocken.“
*
Ace zog nacheinander seine Feuerwehrleute ab. Er ließ nur zwei Mann zurück, um die Brandstelle zu beobachten. Niemand wollte riskieren, dass ein übrig gebliebenes Glutstück das Feuer unverhofft wieder in Gang setzte. Nach einer angemessenen Zeitspanne, wenn sie sicher sein konnten, dass genau das nicht passierte, würden die beiden ihren Posten verlassen und ebenfalls auf die Wache zurückkehren.
„Da haben wir noch mal Glück im Unglück gehabt“, rief Ace dem Sheriff zu, der eben mit der Schulleiterin gesprochen hatte. „Wie bei den anderen Bränden wurde niemand verletzt.“
Jake trat näher.
„Das stimmt. Allerdings war heute das Potenzial eines Desasters viel größer als bei den anderen Locations. Ich frage mich, was der Täter damit sagen will?“
„Oder ob es derselbe Täter war. Meiner Meinung nach wurde ein anderer Brandbeschleuniger benutzt als bei den anderen Bränden.“
Jake musterte ihn scharf.
„Bist du sicher?“
Ace hob die Schultern.
„So sicher ich ohne Test sein kann.“
„Verdammt und zugenäht. Willst du mir sagen, dass wir jetzt
zwei
Irre haben, die frei herumlaufen und wahllos Gebäude anzünden?“
„Ich hoffe es nicht. Vielleicht hat er nur sein Vorgehen geändert. Oder es war nichts anderes erhältlich.“
„Du meinst, im Pyromania-Shop?“, scherzte Jake.
„So ähnlich.“
„Chief“, rief einer der Feuerwehrleute. „Wusstest du, dass die Feuerwehr vom Nachbarcounty unterwegs ist zu uns?“
„Nein“, sagte Ace überrascht. „Wieso denn das?“
„Offenbar hat Polly sie angefordert, weil wir mit der Schule beschäftigt waren. Die neue Klinik brennt!“
„Sind sie schon da?“
„Sie sind noch unterwegs. Ankunft in zehn Minuten.“
„Worauf warten wir dann noch? Los geht’s!“
*
Sunny hatte sich inzwischen in den Waschraum geflüchtet. Als das Holz in den Wänden angefangen hatte zu knacken, hatte sie gewusst, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis die Flammen sie erreichten. Der mit Keramikplatten ausgelegte Raum würde ihr ein paar Minuten mehr verschaffen. Nie hätte sie gedacht, einmal Opfer eines Feuers zu werden. Wenn sie doch nur ihre Feuerwehrausrüstung hier hätte. Doch die hatte sie nicht. Stattdessen plagte sie ihr Wissen, was alles passieren konnte, passieren würde … Momentan wünschte sie sich, völlig unwissend zu sein. Dann könnte sie wenigstens noch auf Rettung hoffen. Aber ihr war nur allzu bewusst, dass die Chance, dass rechtzeitig Hilfe eintraf, verschwindend klein war. Erschöpft von all den Emotionen, die ihren Geist nicht zur Ruhe kommen ließen, lehnte sie sich an die Wand.
In dem Moment lief ein Zittern durch die Wand. Erschrocken sprang sie auf. Holz splitterte. Ein Krachen ertönte. Brach die ganze Struktur etwa bereits zusammen? Wieder krachte es. War da etwa ein Rhythmus dabei? Ein Funken Hoffnung entzündete sich in ihrer Brust.
Impulsiv wollte sie sich die Maske vom Gesicht reißen.
„Luke!“, rief sie, bevor sie einen Hustenanfall bekam.
*
Luke hörte nur das Dröhnen und Tosen des Feuers, das unaufhaltsam näher kam. Er hatte nur ein Ziel vor Augen: Diese Tür in Kleinholz zu verwandeln. Er war sich sicher, dass Sunny dahinter eingeschlossen war. Zum Glück war das Holz nicht sehr dicht. Nach vier kraftvollen Hieben war die Öffnung groß genug, dass er hindurchschlüpfen konnte. Er ließ den Strahl seiner starken Taschenlampe durch den Raum schweifen. Nichts. Die Enttäuschung traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Wo zum Teufel war sie? War sie etwa im nächsten Operationssaal? Hatte er wertvolle Zeit verloren mit dem Einschlagen der Tür?
Erste Flammen züngelten ins Zimmer, als ein Schatten aus dem Dunkeln auf ihn zuschoss. Ein Metallständer rammte ihn als Erstes, dann hatte er einen weichen, viel zu heißen Frauenkörper im Arm.
Sunny? Er leuchtete in ihr Gesicht und konnte sie gerade noch daran hindern, sich die Maske vom Gesicht zu ziehen. Geblendet vom hellen Licht blinzelte sie, hörte aber auf, an der Maske herumzuzerren. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und nie mehr losgelassen, doch dafür war keine Zeit. Sie mussten raus hier und zwar schnell!
Auch Sunnys Hirn setzte sich wieder in Bewegung. Geistesgegenwärtig löste sie ihre Sauerstoffflasche vom Ständer. Nach einer kurzen inneren Debatte legte sie sie Luke in den Arm. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, ihre Stärke oder Unabhängigkeit zu beweisen. Sie vertraute darauf, dass Luke sie hier rausbringen würde. Er trug die Ausrüstung und hatte somit das Kommando über das weitere Vorgehen.
Luke klemmte sich die Flasche unter den Arm und schob mit der anderen Hand Sunny vor sich her, auf die schmale Öffnung zu, die er geschlagen hatte. Kaum war Sunny hindurchgeschlüpft, folgte er ihr, sorgsam darauf bedacht, die Sauerstoffverbindung nicht zu strapazieren.
Draußen im Flur war das Feuer auf ein beängstigendes Ausmaß angestiegen. Sunny zögerte, als sie Lukes fragenden Blick auffing. Sie wusste, dass es im hinteren Bereich eine weitere Treppe gab, doch nachdem sie nicht wusste, wo das Feuer ursprünglich ausgebrochen war, hatte sie keine Ahnung, ob sie nicht in einem höllischen Inferno landen würden, aus dem es kein Entkommen gab.
Sirenen durchdrangen den Lärm der brennenden Struktur. Luke und Sunny tauschten einen ungläubigen Blick aus, bevor Sunny ihn am Arm zupfte und weg von den Flammen in Richtung Fenster rannte. Luke folgte ihr und griff nach dem Fenstergriff. Es war ein Risiko, das Fenster zu öffnen. Sobald die Luft hineinströmte, würde der Sauerstoff das Feuer weiter anheizen. Doch es war ihre einzige Chance.
Auch Sunny wusste das, weshalb sie Luke, als er zögerte, einen ermunternden Schubs gab. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, alle möglichen Risiken abzuwägen. Entschlossen drehte Luke den Griff und riss das Fenster auf. Sunny riss sich die Maske vom Gesicht und fing an, um Hilfe zu rufen.
Der Löschwagen stand bereits in Position. Als der Feuerwehrmann, der ihn bediente, die zwei Leute im Fensterrahmen entdeckte, änderte er seine Ausrichtung und richtete den Sprühstrahl in Richtung der Öffnung. Im Gegensatz zu einem Vollstrahl verteilte der Sprühstrahl flächendeckend Wassertropfen. Die Oberflächenwirkung auf den Brandherd war durch die kühlende Wirkung viel effektiver als ein gebündelter Strahl.
Luke duckte sich zur Seite, während Sunny sich erneut die Maske vors Gesicht hielt und zum lebensspendenden Wasser trat. Die Feuchtigkeit fühlte sich auf ihrer malträtierten, erhitzten Haut wundervoll an und machte endlich ihre Haare nass. Hinter, über und neben ihnen zischte es, als das Wasser auf dem heißen Boden verdampfte und auf die Flammen traf.
Für den Augenblick vor der zerstörerischen Kraft des Feuers geschützt, warteten sie ungeduldig, bis die Feuerwehr die Leiter in Position gebracht hatte. Als der Feuerwehrmann die Arme ausstreckte, ließ Sunny ihre Maske fallen und ließ sich auf die Leiter helfen.
Luke wartete, bis die beiden heil unten angekommen waren, dann gab es für ihn kein Halten mehr. So schnell er konnte, schwang er sich auf die Sprossen und kletterte nach unten.
Arm in Arm entfernten sie sich von der brennenden Klinik. Luke riss sich Helm und Maske vom Gesicht. Wortlos starrten sie sich an. Sunnys Haare waren angesengt. Ruß und Asche zogen sich über ihr Gesicht, während ihr schwarzes Wasser den Hals entlang in den Ausschnitt lief. Für Luke war sie noch nie schöner gewesen.
„Du bist gekommen“, flüsterte sie, die Stimme vom Rauch ganz heiser.
Luke lächelte.
„Immer“, antwortete er und zog sie in seinen Arm. Sie war seine Frau, seine Liebe, sein Leben. „Heirate mich.“ Er spürte an den Lippen an seinem Hals, dass sie lächelte. Trotz des dicken Materials seiner Jacke bemerkte er, wie ihr Herz im Einklang mit seinem eigenen schlug.
„Ja“, war ihre einfache Antwort.
Liebe war einfach, stellte Luke verwundert fest, nicht kompliziert. Zumindest nicht, wenn zwei Menschen füreinander bestimmt waren, wie es bei ihnen der Fall war. Sie würden sich unterstützen, herausfordern, sich übereinander ärgern und miteinander lachen. Das ganze Spektrum, das das Leben für sie bereithielt. Aber solange sie sich liebten, konnten sie alles meistern.
Ace trat neben sie und räusperte sich. Er hatte einen Kloß im Hals. Das war verdammt knapp gewesen.
„Gute Arbeit, ihr beiden. Die Sanitäter wollen euch durchchecken.“
„Nicht nöt…“
Ace hob beide Hände.
„Ich will es nicht hören. Ihr kennt die Vorschriften genauso gut wie ich.“ Er schluckte und fuhr mit rauer Stimme fort: „Zudem muss ich von professioneller Seite bestätigt kriegen, dass euch nichts fehlt. Es geschieht nicht alle Tage, dass ich beinahe zwei meiner besten Leute verliere. Und jetzt ab mit euch, ich muss den Sheriff anrufen.“
Lukes Miene wurde grimmig. So grimmig, dass Sunny seinen Arm fester umfasste. Was war ihr entgangen?
„War es auch wieder Brandstiftung?“, fragte sie zögerlich.
„Definitiv.“
„Und ein Mordversuch“, antwortete Luke.
Entsetzt schaute sie ihn an, wollte bereits protestieren, als ihr die Worte im Hals stecken blieben. Er hatte recht. Die Tür hatte sich nicht von selbst verbarrikadiert! Aber wer … Ihre Beine gaben nach. Wenn Luke sie nicht um die Taille festgehalten hätte, wäre sie glatt zusammengebrochen.
„Wir kümmern uns darum“, versicherte Ace ihr. „Du passt auf sie auf?“, wollte er von Luke wissen.
„Immer“, wiederholte er seine Aussage von vorhin.
Sunny stellte fest, dass sie wohl nie müde werden würde, dieses Wort in diesem Zusammenhang zu hören. Auch wenn sie niemanden
brauchte
, der auf sie aufpasste, war es von Zeit zu Zeit ganz schön zu wissen, dass es jemand tat. Vor allem, wenn man gerade erfahren hatte, dass irgendein Psychopath einen umbringen wollte.
*
Powell stolperte mehr, als dass er rannte. Ohne einen richtigen Plan, wie er ohne sein Auto zurück in die Stadt kommen sollte, hatte er einfach den vermeintlich direktesten Weg eingeschlagen. Inzwischen bereute er es, sich nicht näher an die Straße gehalten zu haben. Das mit dem direktesten Weg galt höchstens für Vögel. Oder Steinböcke. Nicht für Männer mittleren Alters, die unpraktischerweise Anzugschuhe trugen. Wieder schlitterte er ein paar Meter, bevor er sich an einem Ast festhalten und sein rasantes Tempo etwas bremsen konnte.
Die Euphorie, die ihn kurz nach dem Anzünden des Gebäudes erfasst hatte, war längst verblichen. Er war erschöpft. Unzählige Kratzer überzogen seine Hände. Schweiß lief ihm über den Nacken und die Zehen am linken Fuß fühlten sich an, als wären sie mit Blasen überzogen. Reue verspürte er keine. Im Gegenteil. Dafür, wie er sich aktuell fühlte, büßte die Schnüfflerin nun eben. Sie hatte nichts Besseres verdient. Das war alles nur ihre Schuld. Wenn sie ihn nicht zu dieser drastischen Tat gezwungen hätte, müsste er jetzt nicht flüchten.
Kurz spielte er mit dem Gedanken, ein Fahrzeug zu stehlen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Er würde kaum eines finden, wo der Schlüssel in der Zündung steckte. Und leider überstieg das Kurzschließen eines Motors seine Kenntnisse.
Sein bester Plan war, unauffällig zum Bed & Breakfast zurückzukehren und so zu tun, als wüsste er von nichts. Heftig schnaufend setzte er seinen mühseligen Weg fort.
*
Der Sheriff und sein Deputy Will Grady brüteten über der Karte.
„Das Fahrzeug hat er stehen gelassen? Ist es bestätigt, dass es seins ist?“
„Ja“, antwortete Polly, die gerade zur Tür hereinkam. Entgegen den ärztlichen Anweisungen war sie bereits wieder bei der Arbeit. Jetzt gerade pochte ihr Kopf, weil sie zu lange in den Computer geschaut hatte. „Der Mietwagenverleih hat es gerade bestätigt.“
„Zu Fuß wird er nicht weit kommen“, mutmaßte Will.
„Das ist schon richtig. Allerdings ist das Gebiet riesig. Und ich würde ihn ungern erst im nächsten Frühling finden. Der Kerl gehört vor Gericht.“
„Würde uns Steuerzahlern viel Geld sparen“, meinte Polly sarkastisch.
„Der Typ leidet viel mehr im Gefängnis. Tod durch Erfrieren oder auch durch einen Bären ist viel zu barmherzig.“
„Ich fahre mit Toby die Straße ab. Wäre ja gelacht, wenn wir den nicht finden.“
Will zog mit seinem Finger eine gerade Linie zwischen der Notfallklinik und Independence.
Jake runzelte die Stirn.
„Meinst du wirklich, er nimmt diesen beschwerlichen Weg auf sich?“
Will zuckte die Achseln.
„Möglich wär’s. Ein Outdoor-Mensch ist er definitiv nicht. Wenn man noch berücksichtigt, dass er in einer extremen Stresssituation ist … Ich werde diese Strecke absuchen. Meinst du, Tyler würde mir Ranger leihen?“
Der Deutsche Schäferhund war ein ehemaliger Polizeihund. Inzwischen ein wenig in die Jahre gekommen, konnte man sich im Ernstfall immer noch auf ihn verlassen. Seit er die Chillax-Kekse mit Hanf bekam und ihn seine Hüftschmerzen nicht mehr plagten, erlebte er quasi einen zweiten Frühling.
„Ruf sie an und frag sie. Vielleicht kannst du Pat überreden, mitzukommen.“
„Mach ich.“
*
Susan war zu Fuß auf dem Weg in die Bäckerei. Ab und an hörte sie es hinter sich im Gebüsch rascheln. Sie lächelte. Merline begleitete sie öfter auffällig-unauffällig in die Stadt, wo sie dann die Touristen und Einheimischen gleichermaßen erschreckte. Eigentlich ein ganz beruhigendes Gefühl, nicht allein unterwegs zu sein. Seit die Elchkuh wusste, dass am Ende des Spaziergangs ein Keks auf sie wartete, hielt sie sich unterwegs meist im Hintergrund. Das war Susan nur recht. So begeistert sie von dem schönen Tier war, bewunderte sie es doch lieber aus der Ferne. Merline war ganz schön groß.
Sie hatte den Wald gerade hinter sich gelassen, als sie vom Berg her laute Geräusche hörte. Es klang, als wäre eine Herde Bisons unterwegs. Während sie noch überlegte, zu welcher Seite sie ausweichen sollte, stürzte ein schwitzender Mann den Hang hinunter und auf sie zu.
„Du!“, rief er und schnaufte heftig. „Hast du ein Auto?“
„Ein Auto“, wiederholte Susan und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Typ machte keinen besonders stabilen Eindruck.
„Sagte ich doch. Wo ist es?“
„Mein Auto?“
„Jetzt stell dich nicht so an. Wo ist es?“
„Zu Hause.“
„Dann gib mir den Schlüssel“, verlangte er und packte sie am Arm.
Irritiert riss Susan sich los und brachte nochmals etwas Abstand zwischen sich und den Mann. Auf keinen Fall würde sie ihm irgendetwas geben.
„Wieso sollte ich?“
„Weil ich es sage“, antwortete er drohend. „Du wärst nicht die Erste heute, die ich umbringe.“
Susan traute ihren Ohren nicht. Zog sie solche Irren eigentlich an? Oder erlaubte sich das Karma wieder einmal einen witzigen Tag? Sie würde auch gern mal lachen!
Während sie noch mit ihrem Schicksal haderte, wurden die Augen ihres Angreifers plötzlich riesig, dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Allerdings kam er nur bis zur nächsten Kurve. Dort schoss ein großer Schäferhund hervor und stürzte sich auf ihn. Innerhalb von Sekunden lag der Mann wimmernd am Boden. Der Hund stand pflichtbewusst daneben und hielt ihn allein durch seine aufmerksame Präsenz in Schach.
Susan war erleichtert, als sie die vertraute Gestalt eines Deputys aus den Büschen treten sah. Während er den Mann auf den Bauch drehte und ihm Handschellen anlegte, näherte sie sich der Gruppe langsam.
Will klopfte ihr auf die Schulter, als sie bei ihm ankam.
„Danke für die Mitarbeit.“
Verlegen wandte Susan den Blick ab.
„Ist schon lange her, dass mein bloßer Anblick ausgereicht hat, um jemanden in die Flucht zu schlagen.“
Er grinste.
„Ich würde mir da keine Sorgen machen. Ich denke, es lag weniger an deinem als an ihrem Anblick.“
Susan drehte sich um und schaute Merline direkt ins Gesicht. Sie konnte nicht anders, sie musste lachen. Sie hörte erst auf, als der gefesselte Mann anfing zu schimpfen.
„Ist das nicht dieser Investor?“, fragte sie.
Will nickte.
„Und unser mutmaßlicher Brandstifter.“
„Du kannst noch Mörder hinzufügen. Er hat mir vor ein paar Minuten gerade gestanden, dass er heute bereits jemanden umgebracht habe.“
„Das ist ihm glücklicherweise nicht gelungen. Aber deine Zeugenaussage nehmen wir trotzdem gern entgegen.“
„Da bin ich aber erleichtert.“
„Ihr könnt mir überhaupt nichts nachweisen!“, keifte Mr. Powell erbost und versuchte, Wills Arm abzuschütteln, der ihn eisern festhielt.
Ranger knurrte. Sofort hielt er still.
„Braver Hund“, lobte Will. „Und was dich angeht“, er schob den Gefangenen unsanft vorwärts, „würde ich sagen, deine Chancen stehen schlecht. Zwei Zeugen und die Spritzer auf deinen Hosen, die sich vermutlich als Brandbeschleuniger herausstellen werden, wenn wir sie untersuchen, reichen locker, um dich hinter Gitter zu bringen.“