Donnerstag
Sie haben sich nicht viel Schlaf gegönnt. Aber nach dem Fund hätte zumindest Jacques ohnehin kein Auge zugetan. Also sind sie noch vor Morgengrauen aufgebrochen, um zu prüfen, ob die Tafel wirklich die Wahrheit verkündet. Es ist nicht allzu schwer gewesen, sich in der archäologischen Fundstätte zurechtzufinden. Die antike Stadt, in der sich Plutarch zufolge das Grab des Osiris befinden soll, ist weithin ausgeschlachtet. Doch bislang hat auch niemand das Wissen der Schriftplatte in den Händen gehalten. So wie er und Amira.
Vorsichtig hangeln sich Jacques und Amira an dem Seil die rutschige Wand hinab ins Dunkle. Amiras Helm ist zu groß. Sie muss ihn dauernd gerade rücken. Dadurch flackert das an der Stirnseite befestigte Licht bedenklich.
Schließlich haben sie Grund unter den Füßen. Das Wasser, durch das sie waten, geht ihr bis zu Brust, Jacques ist etwas größer, aber auch er merkt, wie sie immer tiefer hinabsteigen in die undurchsichtige Brühe, die sich hier unten in dem langen dunklen Tunnel angesammelt hat. Dass sich hier, inmitten der unwirtlichen Umgebung, so viel Grundwasser sammelt, ist erstaunlich. Aber früher lag die Stadt auch am Lago Mariout. Und auch das Meer war nur gut einen Kilometer entfernt.
Jacques hält inne. Hier muss es sein, wenn die Angabe stimmt. Was für ein Glück! Was für ein Fund! Die Tafel mit der Inschrift verrät ihnen nicht nur, dass Kleopatras Grab mitten in der berühmten Taposiris Magna verborgen ist, sondern auch, wo innerhalb des riesigen Komplexes. »Dort, wo der unterirdische Kanal das Innere des Tempels erreicht.« So hat es auf der Tafel gestanden, die Jacques abfotografiert hat und nun erneut prüft. Es ergibt Sinn! Erst vor wenigen Jahren haben Grabungen einen unterirdischen Tunnel entdeckt, der die Tempelanlage mit dem Meer verband!
Taposiris Magna lag dereinst weit vor den Toren Alexandrias, etwa vierzig Kilometer entfernt von der antiken Metropole, und verband als Handelsort Ägypten mit dem weiter westlich gelegenen Libyen. Hier stand seinerzeit einer der mächtigsten Tempel des Osiris in Ägypten, von dem heute nur noch die zehn Meter hohen Mauern zeugen, die bis zu zwei Meter dick sind und eine Fläche von fast hundert mal hundert Metern umfassen. Diesen Tempelkomplex muss die Inschrift meinen, wenn dort der große Tempel der Isis erwähnt wird. Unter dem Wissenschaftler genau jenen Tunnel entdeckt haben, der als Orientierungspunkt angegeben ist. Dort, wo Jacques und Amira jetzt in dem kühlen, trüben Wasser stehen, soll sich demnach das Grab befinden. Amira hatte zuvor mit dem Myonenradiographen versucht, verborgene Kammern hinter den Wänden zu entdecken, aber während sie hier durchs Wasser waten, muss Jacques nach alter Methode mit einem Klüpfel die Wand abklopfen, um zu testen, ob sich dahinter möglicherweise ein Hohlraum befindet. Wie lange würden sie so Zentimeter für Zentimeter vorgehen müssen? In völliger Dunkelheit, die nur von dem Schein ihrer Helmlichter durchbrochen wird. Das Hämmern und Klackern ihrer Schlägel sind die einzigen Geräusche, die man hier unten hört, allenfalls ergänzt durch vereinzelt herabfallende Wassertropfen, die sich von der Tunneldecke lösen.
Die Zeit scheint stillzustehen. Jacques kann nicht einschätzen, wie lange sie sich schon Schritt für Schritt in dem Gewölbe vorarbeiten. Es müssen Stunden sein, in denen sie so gut wie kein Wort wechseln. Konzentriert versuchen sie, nichts zu übersehen, nichts auszulassen. Kein Mensch weiß, wo sie sich befinden. Sie haben mit niemandem über ihren Fund gesprochen. Das wäre zu gefährlich. Sollte ihnen etwas zustoßen, dann geht auch dieses neue Wissen wieder mit ihnen unter.
»Jacques!«, ruft Amira dann. »Jacques!« Ihre Stimme verrät ihre Aufregung. Jacques stößt sich von der gegenüberliegenden Wand ab und schafft es mit zwei Armschlägen hinüber zu Amira. Als er gegen die spröde Wand hämmert, kann er den dumpfen Widerhall vernehmen. Ein Raum! Da ist ein Raum hinter der Wand! Und auch das Schlagen mit dem Meißel gegen die Wand wiederholt das hohle Geräusch, das ihnen sagt: Dahinter ist etwas! Sekunden des Innehaltens, in denen sich ihre Blicke ineinander verfangen, bevor Jaqcues beginnt, mit stärkeren Schlägen auf die Wand einzuhämmern. Der alte Stein platzt ab, Stück für Stück. Er ist jahrtausendealt, aber immer noch fest. Auf Jacques’ Stirn haben sich Schweißtropfen gebildet. Er braucht all seine Kraft, und er nimmt sich vor, künftig auf den einen oder anderen Whiskey zu verzichten. Aber dann endlich!
»Amira, schauen Sie doch!«, fordert Jacques seine Assistentin auf und macht einen Schritt zur Seite.
»Sekunde …« Aufgeregt zwängt sie sich an ihm vorbei.
»Was sehen Sie?«
»Jacques, Sie kennen die berühmten Worte von Howard Carter!«
»Ja …« Jacques’ Gesichtszüge frieren ein, sein Blick geht ins Nichts. Es ist, als ob auch sein Herz aufhören würde zu schlagen. Er weiß genau, was sie jetzt sagen wird. Dieselben Worte, die Howard Carter bei der Entdeckung des Grabes Tutenchamuns sprach: »Ich sehe wunderbare Dinge!«
Es dauert zehn oder auch fünfzehn Sekunden, in denen Jacques schweigt und in denen Amiras Blick sich starr durch das enge Loch in der Wand richtet, bevor sie ihren Kopf langsam zurückzieht, offenbar noch immer verzaubert, fasziniert von dem, was die Kammer ihnen offenbart hat.
Jacques schiebt sie vorsichtig etwas zur Seite. Sie nicken sich kurz zu, dann vergrößert Jacques das Loch mit der kleinen Hacke, bis er hineingreifen kann und die durchfeuchtete Wand an dieser Stelle ein Stück weiter auseinanderbricht.
Er sieht durch das Loch hindurch. Auch im Inneren steht das Wasser. Jacques hält sich mit der Rechten am Rand des Loches fest und leuchtet mit der Taschenlampe in seiner Linken den Raum aus. Ein Blick genügt, und Jacques begreift, dass Grabräuber schon vor ihnen irgendwann im Inneren des Raumes gewesen sein müssen. Denn bis auf ein paar Statuen sind alle der üblichen prunkvollen Grabbeigaben verschwunden. Aber in der Mitte des Raumes stehen zwei gewaltige steinerne Sarkophage. Seite an Seite, nebeneinander thronend für die Ewigkeit. Der Lichtkegel seiner Lampe fährt über die matte Oberfläche der beiden wuchtigen Grabmale. Es sind zwei schlichte Behältnisse, die äußere Fassung, in die vor Jahrtausenden die eigentlichen kunstvollen Sarkophage hineingelassen wurden.
Jacques wischt sich seine nassen, schmutzigen Hände an dem inzwischen ebenso dreckigen Hemd ab. Die feuchten Stellen sind eine Mischung aus Schweiß und Wasser. Aufgeregt steigt Jacques durch die Öffnung in das dunkle, feuchte Gewölbe, die Taschenlampe zwischen seinen Zähnen. Es riecht so modrig, so sehr nach Schimmel und Fäulnis, dass es schwerfällt zu atmen. Wie lange war dieser Raum verschlossen? Wie lange konnte kein Luftzug hereinströmen? Jacques denkt sofort an den »Fluch des Pharao«. Bei früheren Graböffnungen, auch der von Tutenchamun, kam es nach der Entdeckung zu rätselhaften Todesfällen unter den Archäologen. Später fanden Forscher heraus, dass möglicherweise Schimmelpilze dafür verantwortlich sein könnten, die sich im Laufe der Jahrhunderte in den nahezu hermetisch abgeriegelten Räumen entwickelten und die sich als tödliche Parasiten für den menschlichen Körper herausstellten. Er zögert kurz, soll er doch zurücktreten? Aber nein, niemals, sei’s drum. Er muss jetzt weiter, er muss es wissen! Amira streckt ihre Hand in den Raum und Jacques hilft auch ihr hinein. Gemeinsam waten sie durch das brackige Wasser, in die Mitte des Raumes. Jacques erschrickt: Der eine Sarkophag hat keinen Deckel mehr, er kann hineinblicken – direkt in das leere Innere des steinernen Gefäßes. Verzweifelt tauscht er einen Blick mit Amira, wendet sich dann jedoch dem zweiten Sarkophag zu, der noch verschlossen ist.
Mit zitternden Fingern fährt Jacques auf der Kartusche die Hieroglyphen entlang und übersetzt: »Kleopatra, netjeret meret ites. »Kleopatra, Göttin, Geliebte ihres Vaters!«
Amira und Jacques blicken sich an. »Du hast es geschafft! Du hast sie gefunden!«
Jacques nickt langsam und schaut ruhig und starr auf die Inschrift vor sich. Fährt mit den Fingern über die Hieroglyphen und das steinerne Grabmal. Es ist unversehrt. Seit zweitausend Jahren! Er kann es noch kaum fassen, aber es scheint wahr zu werden: Bald würde er das Geheimnis dieses Grabes der Menschheit mitteilen können – und den Stolz und den Respekt seines Vaters ernten, nach dem er sich so viele Jahre verzehrt hat.