Samstag
Das al-Savvas-Kloster wirkt wie ein Fremdkörper in der Innenstadt Alexandrias. Es ist ein mächtiger, langgezogener Bau mit hohen Fenstern, einem Säulenportal und einem weithin sichtbaren Kirchturm. Der äußere Säulengang führt vorbei an einer großen schmiedeeisernen Glocke, die auf dem kleinen Platz steht, zwischen Kloster und dem langen Außenzaun des Geländes, hinter dem die laute, wuselige Innenstadt der Millionenmetropole liegt. In der Früh hat es den ersten richtigen Winterregen dieses Jahres gegeben. Von November bis Anfang Februar ziehen hin und wieder unwetterartige Regenschauer von der See her über die Küstenstadt, die in kurzer Zeit große Wassermengen freigeben, die sich in den Straßen Alexandrias zu kleinen Bächen sammeln.
Der Patriarch und Yannis Stephanopoulos schlendern gemächlich den trockenen Säulengang hinab. Hier sind sie zwar noch nicht ganz so geschützt wie in den abgeschlossenen Verliesen unter der Erde, aber hier draußen, hinter den Klostertüren, können sie dennoch offen reden.
»Haben Sie niemals Zweifel? Dass es richtig ist, dass wir uns zum Komplizen machen?«, fragt Yannis den Patriarchen und schaut ihn im Gehen von der Seite sorgenvoll an.
»Nein, diesen Zweifel habe ich nicht. Und den sollten auch Sie nicht haben. Sie bewahren das Geheimnis, das für uns überlebenswichtig ist. Für uns und für sie. Für die Macht der Kirche, so wie sie ist.«
»Die Welt verändert sich aber doch. Vielleicht …«
»Und sie verändert sich nicht zum Guten! Sie schwächt uns, die Religionsgemeinschaften, sie wird zunehmend agnostischer. Schauen Sie, was um uns herum passiert, all die Verkommenheit und die Lügen!«
»Aber vielleicht ist die Zeit reif, dass die Welt es weiß. Vielleicht …«
»Nochmal: Nein! Seit Anbeginn des Christentums hütet dieses Kloster die Siegel der Wahrheit, sind wir Teil eines Bundes, der das Geheimnis bewahrt.«
Yannis Stephanopoulos schaut ernst. Er macht Anstalten, etwas zu fragen, schweigt dann aber weiter.
»Und wir haben auch gar keine Wahl! Einige andere Mitglieder unseres Bundes – und wir kennen noch nicht einmal alle – sind so reich und mächtig, dass wir am Ende mehr Schaden anrichten würden als Nutzen stiften. Gnade Ihnen Gott, sollten Sie jemals die Übereinkunft anzweifeln. Das Netz reicht bis in die obersten Ebenen. Seien Sie vernünftig und hören Sie auf, solche Fragen zu stellen!«
Sie öffnen eine der Türen am Ende des Säulenganges und treten ins Innere des Klosters. Nach wenigen Metern stehen sie vor einer Wand, an der eine uralte Abbildung von Mönchen hängt, um deren Köpfe Heiligenscheine in leuchtendem Gold strahlen. Der Patriarch greift an den Rahmen des Bildes und schiebt ihn wie einen Riegel zur Seite. Eine Geheimtür öffnet sich dahinter, und eine steile Treppe führt hinab in die Tiefe.
»Und nun kommen Sie, es ist Zeit für eine weitere Prüfung!«
Der Privatjet beschleunigt, die Düsen der Embraer heulen auf, und das Flugzeug setzt sich auf der Startbahn des kleinen Regionalflughafens von Wershofen in der Eifel erst ruckartig, dann fließend in Bewegung, hebt schließlich ab und entschwindet kurz darauf in den tiefhängenden Wolken, während am Boden eine dunkle Limousine langsam das Gelände verlässt.
Nur wenige Minuten zuvor hatten sich im Dunkel der Nacht zwei Männer getroffen, der eine entstieg dem schwarzen Bentley, der andere näherte sich von der Privatmaschine. Mit ihren schwarzen Mänteln waren sie kaum auszumachen, ebenso wenig wie der Behälter, eine metallene Kiste, die der Mann aus dem Bentley in der linken Hand hielt und dem anderen Mann im Tausch gegen eine kleine schwarze Schatulle überließ. Diskret ging das Geschäft nach kurzer Prüfung der Tauschware über die Bühne, worauf der eine Mann wieder im Bentley verschwand, der andere in seinem Flugzeug.
Jetzt, als die Anschnallzeichen im Privatjet ausgeschaltet werden, nimmt der Mann seine weit über das Gesicht hängende Kapuze ab, und zum Vorschein kommt das blasse Gesicht von Nicolas, der die Kiste auf seinem Schoß hält und sie nun seinem Arbeitgeber überreicht.
»Hast du nachgeschaut?«, fragt Bernheim.
»Natürlich! Aber können wir sicher sein, dass es die echte ist?«
»Das werden wir natürlich abgleichen. Wenn es die Überreste aus dem Mausoleum sind, lässt sich das dank feinster Spuren nachweisen. Aber er würde es nicht wagen, mich reinzulegen.« Jacques streicht über die Kiste und schaut sie an, als könne er durch sie hindurchsehen und den Inhalt deutlich vor sich erkennen, und murmelt: »Arsinoe.«
Nach ein paar Sekunden andächtiger Stille meldet sich Nicolas zu Wort. »Warum war dir das eigentlich so wichtig? Das hast du mir noch gar nicht erklärt.«
»Ich möchte Gewissheit. Wir fliegen nach Jena, das sind nur dreißig Minuten von hier.«
»Nach Jena?«
»Ja, zum dortigen Institut für Geoanthropologie. Das ist eine weltweit führende Einrichtung bei der DNA-Entschlüsselung von Mumienmaterial. Die sind informiert, und gegen eine kleine Spende wird nichts nach außen dringen von dem, was sie dort untersuchen.«
»Aber wir hatten doch vorher schon die Knochen der Arsinoe. Warum war dir dann der Schädel so wichtig?«
»Weil nach all den Jahrhunderten eine eindeutige Bestimmung gleicher DNA nur mit den Schädelknochen möglich ist, da sich gewisse Informationen nur hier wiederfinden lassen, die eine Zuordnung ermöglichen. Und genau das werden wir nun überprüfen.« Jacques greift in seine Jackentasche und zückt ein kleines, helles Plastikbehältnis. »Hier drin befindet sich eine Knochenprobe aus dem Skelett unseres Mumienfundes. Das wird reichen, um zu schauen, ob wir es wirklich mit unserer Kleopatra zu tun haben!«
Bei den Ausführungen hat Nicolas große Augen bekommen. Das hat er tatsächlich nicht gewusst.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Die Flugbegleiterin unterbricht das Gespräch, und beide Männer lehnen sich in ihren Sitzen zurück.
»Champagner für mich!«, sagt Nicolas bestimmt. »Für Sie, Jacques? Dasselbe?«
Der nickt stumm und blickt hinaus aus dem Flugzeugfenster in die dunkle Nacht, in der er nur vage die Wolken unter ihnen und die Sterne am Firmament ausmachen kann.
Schwer wie Blei liegt das Mobiltelefon in Jacques’ Hand, das er nun endlich vor sich auf den Schreibtisch gleiten lässt. Das Gespräch ist schon seit zwei Stunden beendet. Er hat Mühe, seinen Kopf in aufrechter Position zu halten, immer wieder sackt er nach hinten, bis er die Lehne des braunen Ledersessels berührt. Einen klaren Gedanken kann er schon länger nicht mehr fassen. Der Whiskey, den er seit dem Anruf in sich hineinkippt, hat ihm die Sinne vernebelt. Die Klimaanlage surrt, sein Hemd ist trotz der Kühle weit geöffnet, so wie seine Augen, mit denen er benommen an die Decke starrt. Draußen tobt seit Donnerstag früh ein Unwetter. Sturm und Regen peitschen über die Bucht von Alexandria. Er hört und spürt das Glucksen des Wassers am Boden des Bootes. Es liegt unruhig im Hafenbecken. In der Wintermonaten ist das nichts Ungewöhnliches an der ägyptischen Mittelmeerküste. Heute aber ist es eher so, als könnten die Elemente spüren, was in Jacques vorgeht, und wollten seine Melancholie und Verzweiflung untermalen mit ihrem wütenden Tosen. Die Jacht schwankt leicht, und durch die Fenster seiner Kabine ist das grelle Zucken der Blitze zu erkennen, die draußen unregelmäßig den Himmel teilen.
Es klopft an der Tür zu seiner Kabine.
»Ja«, sagt er, und das Lallen verrät den Alkoholpegel, der seine Zunge hat schwer werden lassen.
Amira tritt ein. »Was … Was ist denn mit dir los?«, fragt sie, sichtlich erstaunt, als sie den zusammengesackten Jacques in dem halbdunklen Raum erblickt.
»Sie ist es nicht«, sagt er, und es ist sofort klar, was, beziehungsweise wen er meint.
»Was sagst du da? Das kann nicht sein! Alle sind sich doch sicher! Jacques!« Amira eilt zu dem Archäologen, kniet sich vor ihn und nimmt seine Hand.
»Nein, sie ist es nicht!«, wiederholt er, nun leise, kaum hörbar. »Ich brauchte Gewissheit, Amira. Absolute Gewissheit. Und die habe ich nun. Ein DNA-Test hat ergeben, dass die Mumie, die wir da gefunden haben, nicht die der Kleopatra ist. Das deutsche Institut hat vor zwei Stunden angerufen.«
»Ein DNA-Test? Was meinst du? Dazu bräuchte man ja einen nachgewiesenen Verwandten der Kleopatra. Und den gibt es doch nicht!«
»Oh doch, den beziehungsweise die gibt es!« Jacques erhebt sich nun schwankend aus seinem Sessel, wobei Amiras Hand unbeachtet zu Boden gleitet. »Du solltest es wissen. Arsinoe! Die einzige direkte Verwandte Kleopatras, deren Überreste überdauert haben und die wir vor allem wissenschaftlich verbrieft kennen!«
Amira erhebt sich ebenfalls und runzelt die Stirn. »Weil sie ihrer Schwester Kleopatra gefährlich wurde, wurde sie verbannt in den Tempel der Artemis ins antike Ephesos. Um Kleopatras Macht zu sichern, musste sie aber sterben. Sie wurde hingerichtet und anschließend bestattet in einem Mausoleum. Einem sogenannten Oktagon, das dem berühmten Leuchtturm von Alexandria nachempfunden war und dessen Ruinen bis heute existieren.«
Jacques fährt sich durch das Haar. »So ist es! Kleopatras Sohn starb früh, seine Überreste sind verschollen. Ihre Tochter heiratete einen König in Nordafrika, wo sie später angeblich ebenfalls in einem Mausoleum bestattet wurde. Das Gebäude gibt es noch, aber ihre Überreste wurden nie entdeckt.«
Amira beginnt Jacques’ Ausführungen besser folgen zu können. Sie spinnt den Faden weiter. »Ja, aber die Schädelknochen, die für eine Gewebeprobe notwendig wären, waren im Zweiten Weltkrieg in Deutschland verschwunden.«
»So heißt es. Aber ich war letzte Woche in Deutschland, in der Eifel, um genau zu sein, wo der Schädel in der Privatsammlung einer reichen Industriellenfamilie aufbewahrt wurde. Und im Tausch für ein paar äußerst wertvolle Diamanten wurde er mir ausgehändigt: der Schädel der Arsinoe.«
Mit offenem Mund steht Amira für einen Moment nur da, starr vor Staunen. Was dieser Jacques Bernheim immer wieder fertigbrachte. Man mochte über ihn denken, was man wollte, menschlich, aber ansonsten war er ein Genie!
»Und du bist dir ganz sicher, dass es kein Fehler ist? Dass vielleicht die Probe nicht korrekt war? Der Schädel ein Fake war und gar nicht der, von dem du jetzt denkst, dass er es ist.«
Entschieden schüttelt Jacques den Kopf. »Das haben wir natürlich verglichen. Da gibt es kein Vertun!«
»Was hast du jetzt vor?«, fragt Amira und macht ein paar Schritte auf den Franzosen zu. Sie widersteht dem Impuls, ihn zu umarmen.
»Ich weiß es nicht, das Ganze ist eine echte Katastrophe. Wir haben groß in die Welt hinausposaunt, dass wir sie gefunden haben. Wenn wir jetzt zugeben müssen, dass ich mich geirrt habe, stehe ich da wie ein absoluter Idiot. Wie der unwissenschaftliche Abenteurer, als den mich manche gerne sehen möchten.«
Amira runzelt die Stirn. »Also schweigen wir?«
Jacques macht eine lange Pause, schaut aus dem Fenster in die dunkle Nacht über dem Mittelmeer.
»Vorerst ja. Ja.«
»Vorerst?«
»Vorerst, denn jetzt muss ich das echte Grab finden. Ich muss. Wir beginnen direkt morgen mit der Arbeit!«
Amira schaut Jacques lange an, dreht sich dann langsam um und verlässt leise auf Zehenspitzen den Raum.