Sonntag

Diese Stufen! Noch einmal würde er das nicht mitmachen! Warum mussten sie sich unbedingt in diesem dunklen Loch unterhalb der Stadt treffen, um sich zu besprechen? Sicher, sie mussten sich schützen, und nichts durfte nach außen dringen, aber da hätte es ein normales Gotteshaus doch auch getan, wo Petros seinen massigen Körper nicht mit letzter Kraft durch den Untergrund wuchten musste! Die vollkommen schiefgelaufene Aktion in Taposiris Magna ist eine Katastrophe! Die Novizin hatte alles so prepariert, dass es täuschend echt war. Und dennoch ist Jacques Bernheim hinter den Schwindel gekommen!

Keuchend und grimmig öffnet Petros die Tür zu dem Raum, in dem sie ganz ungestört und abgeschirmt von neugierigen Ohren werden reden können. Und ebenso keuchend und grimmig knallt er die Tür hinter sich wieder zu.

 

Petros versucht, seinen Ärger nicht allzu lautstark kundzutun. Er dreht sich zu einer der beiden Novizinnen, deren

Das Mädchen senkt den Kopf. In seiner ersten Mission zu scheitern, erfüllt es mit Scham. Sie hatte mit tatkräftiger Unterstützung zweier weiterer Jünger alles so hergerichtet, dass man das Grab und die Mumie tatsächlich für die der Kleopatra halten konnte! »Es tut mir leid. Es ist nicht ganz so gelaufen wie geplant. Natürlich hatten wir alle gehofft, dass Jacques Bernheim in dem Glauben, das Grab der Königin gefunden zu haben, seine Suche beendet«, sagt die junge Frau ein wenig kleinlaut.

Aufgeregt läuft der Patriarch in dem fensterlosen, muffigen Raum auf und ab. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn dieser Franzose doch noch die Wahrheit ans Licht brächte. »Das ging ja nun gründlich nach hinten los.«

»Na ja, vielleicht gibt Bernheim ja jetzt auch auf.«

»Vielleicht, vielleicht …« Petros wirft theatralisch die Arme in die Luft. »Und was, wenn nicht?«

Ihr Disput wird durch ein dumpfes Klopfen jäh unterbrochen. Es wiederholt sich drei Mal, und sowohl die Bewerberinnen als auch der Priester wissen genau, was das bedeutet.

»Ein Richter!«, sagt der Priester leise. Das verheißt nichts Gutes!

Die Tür öffnet sich langsam und Petros traut seinen Augen kaum. Herein kommt die, die er als Hohepriesterin erkennt. Der Priester erstarrt. Einen so hohen Besuch hat

»Seid gegrüßt«, sagen Petros und die Novizinnen im Chor und neigen ihre Köpfe zur Brust.

Mit einer Handbewegung gebietet die Hohepriesterin den beiden, sich zu entspannen. »Ihr habt uns in eine gefährliche Lage gebracht«, sagt sie langsam.

»Wir? Wir wussten nicht …«, setzt eine Bewerberin an, doch der Priester bringt sie mit einem eindeutigen Blick sofort zum Verstummen. Widerspruch kann sehr schnell gefährlich werden. Für sie beide.

»Was denkt ihr, was wir nun tun sollen?«, fragt die Hohepriesterin.

Petros überlegt einen Moment und streicht über sein Kinn. »Der Archäologe scheint wild entschlossen. Ich denke nicht, dass er einfach aufgibt. Er hat moderne Geräte. Außerdem vermutet er das Heiligtum nahezu an der richtigen Stelle. Wir dürfen das nicht zulassen. Er muss gestoppt werden!«

»Dann sei es so. Der Archäologe muss sterben!« Die Hohepriesterin geht zu den beiden Novizinnen. Sie mustert die eine, deren Mission missglückt ist, und geht nach wenigen Sekunden weiter zu der zweiten jungen Frau, deren Augen zwar verbunden sind, die aber die Präsenz der Hohepriesterin spürt. Ihr Herz rast, sie atmet schnell. Sanft streicht die mächtige Anführerin von Crata Repoa ihr über

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Sonntagabend

Marina ist nervös. Ihre Hände zittern, ihre Lippen hat sie zusammengepresst vor Anspannung. Die Angst sitzt ihr wie eine kalte Kralle im Nacken.

In zwanzig Minuten kommt Yannis nach Hause ein. Viel früher, als sie dachte. Um Gottes willen! Das Essen ist noch nicht fertig. Sie war ja gerade mit Aufräumen beschäftigt. Es muss doch ordentlich aussehen, adrett, sauber. Sonst könnte Yannis böse werden, sehr böse, Marina weiß, was passieren kann, wenn er einen schlechten Tag gehabt hat und dann böse wird. Sie sieht es meist schon an seinem Lächeln. Es wird dünn, und er selbst wird ganz ruhig, wenn er auf sie zugeht. Aber wenn er sie dann packt, an den Haaren oder am Oberarm, dann ist er nicht mehr ruhig. Dann fängt er an zu brüllen. Und mit jedem Schlag muss dann auch Marina schreien, selbst wenn sie versucht, es sich zu verkneifen.

 

Claire steht in der Küchentür und beobachtet ihre Mutter still. Sie kennt das alles nur zu gut. Seit sie ein Kind war, kennt sie es.

»Ihr seid mein Eigentum!«, hatte er immer wieder

Was ist das für ein Priester, fragt sie sich immer und immer wieder, der sein Leben Gott gewidmet hat? Der für die Armen und Kranken betet, der fastet, der um die Vergebung der Sünden bittet – und sich dennoch immer und immer wieder versündigt. An denen, die ihm am nächsten sind.

Mit ihrer Mutter spricht sie nicht mehr über die Gewalt, die Schläge. Sie hat es früher ein paarmal getan, wenn er sie ganz besonders brutal zugerichtet hatte. Ihre Mutter hatte es nicht hören wollen. Also hatte sie irgendwann auch nichts mehr gesagt.

Jetzt sieht sie sie, wie sie voller Angst kocht, wäscht, putzt, mit diesem panischen Ausdruck im Gesicht. Ein in die Ecke getriebenes Tier.

»Das verdienst du nicht!«, sagt sie ruhig, aber bestimmt.

»Was soll ich denn tun? Wir können nicht einfach gehen!« Sie umgreift das Gesicht ihrer Tochter liebevoll mit beiden Händen und streicht ihr mit den Daumen über die Wangen. »Was soll denn sonst aus dir werden?«

»Ich will nicht, dass du das erleidest. Und ich bin nicht deine Ausrede!«, entgegnet ihre Tochter, die es kaum aushält, ihre Mutter so voller Angst zu sehen.

Beide wenden den Kopf zur Tür, als ein Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür geschoben und umgedreht wird. Sie sehen, wie sich die Tür langsam öffnet, wie das Gatter eines Wildgeheges, in dem der Herr nun zu seinem Vieh geht und ihm gibt, was es verdient. Die massige Gestalt schiebt sich ins Wohnzimmer, müde, die Muskeln erschlafft. Ein

»Marina? Marina?«, ruft er. Claire versucht, den Ton der Stimme zu dechiffrieren. Wie klingt sie? Womit müssen sie rechnen? Marina schiebt sich vorsichtig vor ihre Tochter. »Ja! Wir sind … ich bin hier!«

Ganz langsam, fast gelangweilt, schlendert Yannis in Richtung der Küche. Mit seiner rechten Hand fährt er über die dunkelbraune Anrichte im Flur vor der Küche, auf der Familienbilder stehen und der silberne Kerzenständer, den Marina von ihrer Großmutter geerbt hat. In der anderen Hand hält er seinen schwarzen Rucksack, den er immer mit zur Arbeit nimmt.

»Ich bin gerade unseren Nachbarn begegnet. Das sind ja wirklich ganz reizende Leute. Nafi wird nächste Woche schon siebzig, stell dir vor!«

»Ja, das sind sie …« Marina schluckt trocken. Ein ungutes Gefühl kommt in ihr auf. Sie schiebt ihre Tochter weiter zur Seite.

»Wir haben ein bisschen geplaudert. Zuerst über den Mordfall, der alle so aufregt. Dann, dass die Müllabfuhr diese Woche schon wieder ausgefallen ist. Ach ja, und dann erwähnte unser Nachbar, dass du heute Besuch hattest.«

Yannis bleibt stehen, und die schlaffe, müde, entspannte

»Besuch?«, stammelt Marina. »Was für Besuch? Nein, ich hatte keinen Besuch!«

»Willst du sagen, der Nachbar lügt!«, brüllt Yannis und macht einen unerwartet geschmeidigen Satz nach vorne.

»Der Techniker war hier, nur der Techniker, du weißt doch, dass unser Stromzähler …« Weiter kommt sie nicht.

 

Weinend und zitternd kauert Marina wenig später in der hinteren Ecke auf dem Küchenboden. Claire hat sich neben sie gehockt. Sie hat – wieder einmal – alles mit anhören, mit ansehen müssen. Sie hat ihren Arm um ihre Mutter gelegt und streichelt sie mechanisch. Das muss aufhören, so darf es nicht weitergehen. Nicht mehr lange, und ihr Vater wird ihre Mutter totprügeln. Warum nur schenkt der Priester ihr kein Gehör. Aber wenn der nicht, wer dann? Sie würde sich etwas einfallen lassen. »Eines Tages wird es dafür Gerechtigkeit geben. Das glaube ich ganz fest!«, sagt Claire bestimmt.

Marina schaut mit tränennassen Augen zu ihrer Tochter und schüttelt den Kopf. »Niemals.«

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Aus einer Taverne am Rand der Corniche ertönt das Lied »Ya qamar ala daretna« – »O Mond über unseren Häusern« – der berühmten libanesischen Sängerin Fairuz. Die Musik-Ikone besingt in diesem Lied aus dem vergangenen Jahrhundert den Vollmond, ganz so, als würde sie eben

Die Figur sieht sich um. Überall ist es bereits dunkel. Keine Stimmen, keine gedämpfte Musik. Alle haben sich längst schlafen gelegt, und ohnehin sind ihres Wissens in dieser Nacht nur drei Personen an Bord. Neben dem Franzosen selbst sind es Amira und der junge wissenschaftliche Mitarbeiter, die auf der Jacht in Einzelkabinen untergebracht sind. Der Rest der Crew ist am Abend von Bord gegangen. Vielleicht haben sie frei. In die große Lounge, deren Panoramafenster sich zum Sonnendeck hin öffnen, scheint das bläulich weiße Mondlicht. Ihre Hand ertastet den schmalen Spalt, den die angelehnte Schiebetür offen gelassen hat, und zieht sie langsam und vorsichtig so weit zur Seite, dass die Taucherin ins Innere der Jacht hineingleiten kann. Wie ein kaum sichtbarer Schatten

Ohne ein Geräusch zu verursachen, bewegt sich die silberne Klinke nach unten, bis sich die Tür öffnen lässt und vom Flur aus ein schwacher Lichtstrahl den Vorraum der Suite erhellt, wo sich die Garderobe befindet und eine weitere Tür zum Badezimmer führt. In einer fest am Boden angebrachten Vase stecken frische Blumen, Hortensien, samtrote Dahlien, die in dem klimatisierten Raum einen sanften, dezenten Duft verströmen. Daneben lehnt an der Wand der Basebat, der Baseballschläger der Harvard University, den Jacques angeblich aus seiner Studentenzeit in den USA besitzt. Der Schlafraum öffnet sich dahinter, vor den zwei Bullaugen sind die champagnerfarbenen Vorhänge zugezogen, rechts an der Wand steht das große Doppelbett, in dem Jacques liegt und friedlich schläft. Nichts ahnend von der Killerin, die zwei, drei Schritte weiter auf ihn zu geht, bis sie direkt am Bettrand steht. Er sieht nicht die plötzlich aufblitzende Klinge in der rechten Hand der Person, die mit der linken sich anschickt, ihm den Mund zuzuhalten, damit während des Todesstoßes kein verräterischer Schrei entweichen kann.

Dann geht alles ganz schnell. Die Linke presst die Killerin fest auf Jacques’ Mund, der augenblicklich in

 

Zurück in der Kabine, setzt sich der Archäologe erschöpft auf die Bettkante, die Arme auf die Knie gestützt, den Kopf gesenkt. Nein, damit hatte er nicht gerechnet. Die anderen sprechen ihm Mut zu, Nicolas hat sich neben Jacques gesetzt und ihm den linken Arm um die Schulter gelegt. Amira reicht ihm ein Glas Wasser.

»Nein!«, widerspricht Jacques vehement. »Nicht jetzt! Zumindest im Moment ist es noch zu früh!« Gierig trinkt Jacques das Wasser.

»Und nun lasst mich in Ruhe! Verschwindet! Ich muss nachdenken! Legt euch hin! In drei Stunden geht die Sonne auf, dann will ich, dass wir alle weitermachen, als sei nichts geschehen!«

»Aber …«

»Keine Widerrede! Ich will es so!«

Jacques’ Team verlässt die Kabine, und er bleibt allein zurück, noch immer auf der Bettkante sitzend. Wie hatte er nur so dumm sein können? Die ganze Zeit hatte er sich eingeredet, dass es sich um Zufälle handelte, hatte gedacht, dass die Angriffe in der Kirche gar nicht ihm gegolten hatten. Dass er nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Wie dumm von ihm! Denn spätestens jetzt ist ihm klar: Irgendjemand will ihn stoppen. Ihn daran hindern, zu entdecken, was er sucht. Irgendjemand will ihn umbringen!

 

Was er jedoch nicht versteht, ist der Grund dafür: Warum? Gibt es jemand anderen, der die Entdeckung des berühmten Sarkophags für sich reklamieren will? Einen Konkurrenten? Aber wenn dem so wäre, dann hätte derjenige das Geheimnis ja schon längst der Welt mitteilen können. Der Ruhm hätte dann ihm gebührt. Oder suchten sie noch und brauchten noch mehr Zeit? Aber warum sollten sich die Kirchen mit so jemandem verbünden?

Und ihm kommt noch ein anderer Verdacht: Die falsche Kleopatra! Konnte das ein Zufall sein? Oder war das eine falsche Fährte, damit er, in dem Glauben, das Grab gefunden zu haben, seine Suche beendet?

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Amira hat Jacques’ Privatkabine derweil leise verlassen, schreitet den schmalen Gang entlang zu ihrer eigenen Kabine. Ruhig schließt sie die Tür hinter sich, geht die paar Schritte zu einem der Bullaugen, zieht den dünnen Vorhang zur Seite, um hinauszuschauen auf das Meer und die dahinterliegende schlafende Stadt.

Nein, denkt Amira, das hat sie nicht gewollt.