Montag

Theo ist seit dem frühen Morgen im Büro. Sie hat noch beobachtet, wie die ersten Sonnenstrahlen auf dem Meer glitzerten und den Himmel Alexandrias in ein tiefes Orange tauchten. Die Herbststürme haben sich – vorerst – verzogen, und nun wärmt die Sonne die Stadt wieder auf angenehme dreiundzwanzig Grad. Theo bewegt die verschiedenen Puzzleteile hin und her, doch es passt nicht, und im Grunde fehlen ihr auch zu viele. Was es mit der Schießerei in der Kirche auf sich hatte, weiß sie noch nicht. Das Umfeld von Abuna Gabriel hat bislang nichts hergegeben. Seine Frau ist in aufrechter Trauer. Sie hat bisher nur einen Verdächtigen, und das ist der Franzose, der jetzt ein Star ist. Sie hat ihn auf der Pressekonferenz ja beobachten können. Er gilt nun als ein Entdecker gleichauf mit den größten der Geschichte. Doch er hatte seine Entdeckung nicht hier draußen in unmittelbarer Nähe, in der Altstadt von Alexandria gemacht, sondern Kilometer entfernt, in der Wüste. Hatte er auf seiner Suche nach dem historischen

 

Theo nimmt den Hörer ihres Telefons ab und drückt die Schnellwahltaste. Schon zum dritten Mal in wenigen Minuten. Aber Berenice scheint immer noch nicht da zu sein, obwohl es inzwischen nach neun Uhr ist. Sie legt auf. Was ist in letzter Zeit mit ihr los? Sie war sonst so überkorrekt, so zuverlässig und geradezu pedantisch. Da geht die Tür auf, und Berenice steht im Eingang zu Theos Büro, ganz außer Atem. Offenbar weil sie hergerannt ist, weil sie zu spät war. »Hatten Sie mich gerade angerufen? Ich habe es noch gehört, habe es aber nicht rechtzeitig geschafft.«

Theo lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. »Ja, Berenice. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

Theo schaut sie fragend an. Berenice ist jünger als sie, Anfang zwanzig. Sie ist durchaus als überdurchschnittlich attraktiv zu bezeichnen und betont das auch durch dezente, aber doch ausgefallene Kleidung und professionelles Make-up. Auch heute trägt sie ein mintgrünes knöchellanges Kleid, tailliert mit einem schmalen Gürtel, das Arme und Schultern bedeckt, wie es sein soll, aber mit einem gerade noch sittlich zulässigen Ausschnitt am Dekolleté. Ihre langen tiefbraunen Haare hat sie locker hinter dem Kopf zusammengebunden und Lippen und Augen stark, aber nicht billig geschminkt. Sie verstrahlt eine gewisse Klasse.

Theo mustert Berenice und bemerkt an ihrem linken Bein, dort, wo das Kleid endet und ein paar wenige Zentimeter bis zu ihren Schuhen frei lässt, mehrere kleine Verletzungen. Blaue Flecken, Schürfwunden. Nichts Großes, aber als Theos Blicke sich dort festheften, zieht Berenice das Bein sofort zurück und versteckt es hinter dem anderen.

»Ist wirklich alles okay?« Theos Gedanken überschlagen sich förmlich. Sie hat sofort Bilder vor Augen, wie es zu diesen Verletzungen gekommen sein kann. Was weiß sie eigentlich über Berenice?, fragt Theo sich in diesem Moment. Seit zwei Jahren ist sie im Vorzimmer dieser Abteilung, aber sie haben fast noch nie über Privates geredet. Ja, sie hat erzählt, dass sie mal im Urlaub war, in der Türkei und Dubai. Theo weiß, dass sie noch nicht verheiratet ist. Aber über ihre Familie, ihre Herkunft, wie sie lebt, weiß sie so gut wie nichts. Sie stammt offenbar wie sie selbst aus einer christlichen Familie. Davon zeugt der kleine Anhänger mit dem Kreuz, den sie stets trägt. Und so, wie sie sich kleidet und gibt, kommt sie offenbar aus einer eher liberalen Familie. Aber das ist auch schon alles, und auch hier hat sich Theo die Hälfte zusammengereimt.

»Ja! Das ist nur vom Sport!«

Theo stutzt. Bei welchem Sport könnte man denn so bös umknicken? Und von Sport war bisher nie die Rede gewesen. Gerade, als sie aus einem Instinkt heraus noch einmal ansetzen will, taucht ein Gesicht im Türrahmen auf, das Theo als allerletztes im Präsidium erwartet hätte. »Herr Bernheim, was führt Sie zu uns?«

Theo steht von ihrem Stuhl auf und stützt sich mit einer Hand auf den Schreibtisch auf. »Bonjour. Ich bin ja selten wirklich überrascht. Aber jetzt ist es so weit. Mit einem Besuch von Ihnen habe ich nicht gerechnet.«

»Darf ich?« Theo deutet auf den Stuhl in der einen Ecke ihres Büros. »Berenice, lassen Sie uns bitte alleine«, sagt sie zu ihrer Sekretärin, die noch immer regungslos dasteht, sich jetzt zum Gehen umdreht und die Tür hinter sich schließt.

»Man kommt an Ihnen ja gar nicht vorbei«, sagt Theo zur Begrüßung. »Sobald man den Fernseher oder den Rechner einschaltet oder auch nur an einem Zeitungsladen vorbeigeht, Ihr Gesicht ist einfach überall. Glückwunsch!«, fügt Theo halb aufrichtig, halb skeptisch hinzu. Männer wie er wollen sich nicht um die Wissenschaft verdient machen oder einem Land ihre Königin zurückgeben. Männer wie er sind getrieben von dem Streben nach Macht, Ruhm und Ehre. Und das ist ein streitbares und nicht selten gefährliches Motiv, findet Theo.

»Danke. Ja, es war eine Menge los, das lässt sich nicht bestreiten.« Theo betrachtet ihn nachdenklich. Er scheint nicht gerade euphorisch oder besonders glücklich zu sein. Wenn sie es nicht eigentlich besser wüsste, würde sie sagen, er wirkt bedrückt.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragt sie.

»Nun, wo fange ich an. Vielleicht zunächst: Ich bitte Sie, dass das, was wir hier besprechen, unter uns bleibt!« Fast wie ein Schuljunge verlagert er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Ja, das ist mir bewusst. Aber ich bitte Sie, zumindest für den Moment. Hören Sie mir einfach kurz zu. Ja?« Als Theo kaum merklich nickt, räuspert er sich. Jacques schaut auf seine Hände, die er in seinem Schoß langsam knetet, und holt dann tief Luft. »Das Grab der Kleopatra. Die Mumie. Es ist nicht echt. Es ist nicht die richtige Kleopatra.«

»Was?«, entfährt es Theo. Sie hätte ja mit vielem gerechnet, aber mit so einer Enthüllung sicher nicht. »Aber die Pressekonferenz, die Schlagzeilen.«

Jacques nickt. »Ja, ja, ich weiß ja.«

Theo ist noch immer fassungslos. »Haben Sie das denn nicht vorher prüfen lassen, wissenschaftlich, meine ich? Sie müssen doch Beweise gehabt haben, als Sie an die Öffentlichkeit gingen?«

»Ja, natürlich. Und alles deutete auf die Authentizität hin. Das Alter, das mit der Radiokarbon-Analyse ermittelt wurde. Die Inschriften in der Kammer und auf dem Sarkophag. Das Alter der Mumie. Alles schien schlüssig! Auch für die Experten, die wir gebeten hatten, den Fund zu verifizieren. Wie etwa die Altertümerbehörde! Rym al-Ghazal hat sich dessen persönlich angenommen!«

»Und dann?«

»Es war nur ein Gefühl, das ich hatte. Die Restunsicherheit, die blieb. Ich habe es nicht ertragen. Ich brauchte Gewissheit. Sie kennen sich in ägyptischer Geschichte doch bestimmt etwas aus?«

»Sagt Ihnen der Name Arsinoe etwas?«

Theo runzelt die Stirn. »Ja und nein. Das war doch auch eine Königin im alten Ägypten? Hat sie nicht Julius Cäsar sogar ins Exil geschickt?

»Richtig! Arsinoe die Vierte war Königin Ägyptens, aber sie war vor allem auch die jüngere Schwester Kleopatras. Ihr gemeinsamer Vater war Ptolemaios der Zwölfte. Aber die beiden Schwestern waren Widersacherinnen. Als Kleopatra und ihr Bruder um die Herrschaft Ägyptens kämpften, schlug sie sich auf die Seite ihres Bruders und stand an der Spitze des ägyptischen Heeres, das gegen Cäsar kämpfte, der wiederum auf Kleopatras Seite stand, um nicht zu sagen, er liebte sie abgöttisch. Kompliziert. Ich weiß.«

»Und was ist nun mit dieser Arsinoe?«

»Nun, nach der Niederlage gegen Kleopatra wurde sie ins Exil in den Tempel der Artemis in Ephesos geschickt und später auf Geheiß von Kleopatras Geliebtem Marc Anton hingerichtet und beigesetzt.« Jacques macht eine lange Pause und schaut Theodora bedeutungsvoll an.

»Und ihre Gebeine haben bis heute überdauert. Es sind die einzigen sterblichen Überreste ihrer Dynastie, die je gefunden wurden. Sie wissen, was das heißt?«

Theo schaut erstaunt. »Dass man eine DNA-Probe nehmen kann, um zu überprüfen, ob die Mumie Kleopatras echt ist.«

Triumphierend klopft sich Jacques auf die Oberschenkel. »Genau!«

Theo steht auf und geht zum Fenster. Die Sonne hat sich ihren Weg bereits über die Dächer der zumeist vier- bis

»Das war das Problem. Das Skelett Arsinoes, das bis in die Neuzeit überdauert hat, reicht für die Analyse nicht aus. Dafür benötigt man den Schädel. Und der ist in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verschollen. Man vermutete, dass der Schädel während des Krieges in der Sammlung eines reichen deutschen Industriellen verschwunden ist. Nun, so war es auch. Mir gelang es jedoch, in den rechtmäßigen Besitz ebendieses Schädels zu kommen, und damit zeigte sich leider sehr schnell, dass keine Übereinstimmung mit den Knochen besteht, die wir für die Kleopatras hielten.«

»Aber wenn es nicht Kleopatra ist, die Sie gefunden haben … Es sah doch alles danach aus? Wer ist es dann?

»Genau das ist nun auch mein Problem. Das Ganze war so täuschend ähnlich mit dem, was es hätte sein sollen … Da kam mir schon der Verdacht, ob jemand es hat genau so aussehen lassen.«

Theo wendet sich dem Archäologen wieder zu und verschränkt die Arme. »Ist das nicht etwas weit hergeholt? Sie hätten doch merken müssen, dass der Sarg und die Wand vor dem Raum präpariert waren, dass dies alles erst kürzlich so inszeniert worden war.«

Jetzt ist es Jacques, der sie ein wenig irritiert ansieht. »Es kommt drauf an. Was, wenn es ein real existierendes altes Grab war, das dann so manipuliert wurde, dass es

»Wie bitte? Was sagen Sie da?«

»Ja, gestern Nacht. Es war knapp. Meine Assistentin, Amira, hat mich im letzten Moment gerettet. Und deswegen bin ich hier. Ich brauche Schutz.«

»Schutz?«

»Ja, denn ich habe nicht vor, aufzugeben. Ich werde weitersuchen.«

In dem Moment betritt Fadi das Büro, und Theo kann es sich nicht verkneifen, ihn direkt mit in die Unterhaltung einzubinden. »Fadi, hast du heute schon etwas? Monsieur Bernheim benötigt einen Sicherheitsdienst. Dafür sind wir doch wie gemacht, meinst du nicht?«

Verwirrt schaut der Kollege von einer zum anderen. »Was?«

Theo macht eine wegwerfende Handbewegung. »Schon gut.« Dann wendet sie sich erneut an den Franzosen. »Hören Sie, Sie sind mein Hauptverdächtiger in dem Mord an dem Priester. Ich habe zwar ein gesundes Interesse daran, Sie noch eine Weile unter den Lebenden zu sehen, aber ich habe keine Veranlassung, Sie unter Polizeischutz zu stellen. Tut mir leid. Beauftragen Sie doch einen privaten Sicherheitsdienst!«

»Den habe ich ja längst. Erstens hat er mich aber nicht davor geschützt, fast umgebracht zu werden. Zweitens kann der nur schlecht ermitteln, nachforschen, versuchen

»Na, wie schön. Ich werde mich aber ganz sicher nicht von Ihnen in meinen Ermittlungen beeinflussen lassen!«

»Ich habe, was das angeht, nichts zu verbergen!«

»Sicher?«, entgegnet Theo. »Im Übrigen hat sich inzwischen auch das Innenministerium eingeschaltet. Sie prüfen, ob Ihr Visum vorzeitig widerrufen wird. Dann müssten sie uns leider schon sehr bald verlassen.« Jacques’ Blick wandelt sich von Trotz zu Wut, bevor sich seine Gesichtszüge entspannen und er sich ein Lächeln abringt. »Kommissarin Costanda, es hat wahrscheinlich wenig Sinn, Ihnen etwas vorzumachen. Ich erkläre Ihnen alles bei einem Abendessen bei mir auf der Jacht. Einverstanden? Vielleicht kommen wir so ja weiter. Wir stehen auf derselben Seite, glauben Sie mir.«

Theo zieht die Augenbrauen zusammen. Eigentlich geht das nicht, denkt sie, sie muss professionelle Distanz wahren. Andererseits, wenn er nun wirklich rausrückt mit der Sprache und sie ein paar Details über den Fall erfahren kann, die ihr weiterhelfen – warum nicht? Und, es bereitet ihr Unbehagen, das vor sich selbst zuzugeben – sie ist interessiert. Zu sehen, wie diese pompöse Jacht von innen aussieht. Und wie ein Jacques Bernheim sich darin macht. Allein bei dem Gedanken wird Theo rot. »Ja, in Ordnung«, sagt sie schließlich. »Wann?«

»Heute Abend? 20 Uhr? Meine Leute holen Sie am Pier ab.«

»Einverstanden.«