Zur selben Zeit an einem anderen Ort
Die Bewerberin nimmt die Augenbinde ab, die sie schon so lange tragen musste, seit sie wieder die Schwelle zum Eingang dieser Unterwelt überschritten hatte. Sie weiß, dass sie sich hier in einem weiteren Vorzimmer befindet, dass die eigentliche Prüfung später stattfindet, wenn sich die große Pforte vor ihr öffnet, über der geschrieben steht:
Pforte des Todes
Wie lange sie jetzt hier schon wartet? Vielleicht vierzig Minuten, als sich mit einem dumpfen Reiben das steinerne Tor langsam bewegt und über den sandigen Boden schabt. Die Bewerberin kann erkennen, dass dahinter ein riesiger, noch schwach von Fackeln erleuchteter Raum liegt. Als niemand kommt, schreitet sie langsam auf das Gewölbe zu, und sobald sie die Schwelle überschritten hat, verschließt sich hinter ihr wieder die mächtige Pforte.
Es dauert etwas, bis sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt haben, das nicht ausreicht, um alle Teile des großen Raumes zu erhellen. Aber nach und nach erkennt sie die vielen einbalsamierten Körper, die an den Wänden entlang auf steinernen Erhebungen aufgebahrt sind. Und in der Mitte des Raumes erhebt sich ein von Blut überströmter Sarkophag, auf dem ein Name geschrieben ist: Osiris.
Am hinteren Ende des Gewölbes, kaum wahrnehmbar in dem schummrigen Licht, stehen die sieben Richter. Die Bewerberin weiß, was nun geschieht. Sie musste die Abfolge lernen, die Fragen, die richtigen Antworten, sie sind Teil dieses heiligen Zeremoniells, das sogleich beginnt. Einer der Richter tritt hervor und streckt der Bewerberin beide Hände entgegen, in denen er eine goldene Krone trägt.
»Hast du an der Ermordung deines Herrn teilgenommen?«, fragt er, denn genau so schreibt es die Crata Repoa vor, worauf die Bewerberin den alten Riten gemäß antwortet: »Nein, das habe ich nicht!«
Sogleich greift sie die Krone und wirft sie zu Boden. Zwei weitere Richter eilen daraufhin nach vorn und ergreifen die Bewerberin, fesseln sie und führen sie vor ein weiteres Tor mit der Aufschrift:
Heiligtum der Geister
Die Novizin ist unruhig, denn nun steht der Teil bevor, vor dem sie am meisten Angst hat: Sechs Stunden wird die Aspirantin in einer engen, vollkommen dunklen Kammer verbringen, in der sechs Mumien aufgebahrt sind. Die Kammer ist so eng, dass sie gerade darin auf dem Boden liegen kann. Es ist, als sei sie lebendig begraben. Aber sie muss es aushalten, sie muss! Gefesselt legen sie sie auf den Boden in der Mitte zwischen den Ablageflächen zu beiden Seiten, je drei übereinander, auf denen mumifizierte Körper liegen. Sie liegt auf dem Rücken und blickt auf die Tür, die sich nun langsam schließt, sie bemerkt, wie es dunkler und dunkler wird, je schmaler der Schlitz wird, den die Tür noch offen lässt, bis er schließlich vollständig verschwunden ist und gleichsam alles Licht verschluckt. Nicht lange, und sie würde nicht mehr wissen, wo oben und wo unten ist, rechts und links. Schon jetzt hat sie das Gefühl zu schweben. Bilder kommen auf, von den Mumien, mit denen sie diesen Raum teilt, sie spürt, wie eine tiefe Angst in ihr entsteht. Nein, das darf jetzt nicht sein. Das wollen sie nur! Keine Panik jetzt! Sie muss sofort an etwas anderes denken! Schnell! Ja, an die Sonne, Licht, einen Sonnenuntergang am Ufer von Alexandria oder an ihr Viertel zu Hause, in Kairo, nicht weit vom Qasr al-Baron mit seinen mächtigen Säulen und seinem hohen Turm, erbaut in indischem Stil von einem französischen Architekten während der Kolonialzeit, als sich in Kairo Menschen aus aller Welt, aller Religionen trafen. Als Kind hat sie das Qasr al-Baron immer bestaunt, das leer und verwaist hinter einem mächtigen Zaun lag – wie ein Märchenschloss, ein Abenteuerspielplatz, der ihre Fantasie anregte. Ja, schöne Erinnerungen, schöne Gedanken! Das hilft, das beruhigt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, nachdem sie immer wieder in Schlaf gefallen, aufgeschreckt, wieder eingeschlafen ist, ihre Gedanken auf Positives gerichtet hat, vernimmt sie erneut das Schaben der Steintür, an der sich offenbar jemand zu schaffen macht und die sich langsam, ganz schwer öffnet und Licht hereinlässt! Und Luft! Sie hat es geschafft! Den ersten, schwierigen Teil dieser Prüfung. Sie kann nichts sehen. Obwohl das Licht vor der Kammer auch nur schummrig ist, haben ihre Augen sich an die absolute Dunkelheit gewöhnt. Und so nimmt sie nur schemenhaft die Gestalten wahr, die sie jetzt packen, aufrichten, unterhaken und hinausbringen aus diesem grabesähnlichen Gefängnis und in einen weiteren Raum, gleich nebenan, die sogenannte Richterkammer. Dort steht ein einzelner Stuhl, auf den sie sie jetzt setzen. Ihr gegenüber befinden sich weitere Pulte, sieben für die Richter und eines, etwas größer und mittig positioniert, welches bei dieser Prüfung die Hohepriesterin besetzt: Nur ihre Augen sind unter der Maske erkennbar, die sie trägt. Ernst blicken sie die Bewerberin an, um sogleich die erste Frage an sie zu richten.
»Warum willst du diesem Bund beitreten?«
»Ich bin ein Kind dieses Landes, dieser alten Nation. Ich will das Erbe unserer Urahnen bewahren. Ich glaube an die Reinheit der ursprünglichen Gottheit, die über allen Göttern und Herrschern steht, die nach ihr kamen. Sie ist Gott. Daher müssen wir in ihrem Sinne dieses Land rein halten.«
»Du wurdest in der hierogrammatischen Sprache unterrichtet, der uralten Schrift, in der die Geschichte von Ägyptenland, die Erdbeschreibung und die Sternkunde der Ältesten verfasst sind. Hast du sie wohl gelernt?«
»Ja, das habe ich!«
»So sage uns das alte Lied der Kronenkönigin!«
»Heiße, Mächtige,
Starke, Flammengerüstete,
Herrin des Himmels, Herrscherin der beiden Länder,
Auge des Horus und seine Leiterin,
Feurige, Rote, deren Flamme schmerzt,
Schlange des Menschenlenkers,
Herrin der Flamme, Brennende, Fressende,
Feurige, die Tausende zertritt,
Gepriesene, Herrin der Ewigkeit«
Die Richter und die Hohepriesterin nicken. »Du hast die Prüfung bestanden! Die Kennung dieses Grades lautet: »Monach Caron Mini! Ich zähle die Tage des Zorns!«